Ausspaziert.

Alles kann aus uns werden!

(Michael Köhlmeier, Die Abenteuer des Joel Spazierer, Hanser, 2013, S. 363)

Ich bin ihm gefolgt. Von Budapest nach Österreich, ins Gefängnis (eindeutig ein eigenes Land), auf zahlreiche Reisen und Ausflüge in die Schweiz und nach Deutschland, Belgien, Kuba, Mexiko, Italien, Paris, Moskau und in die DDR. Er liebt Schach und Sprachen, begeht fünf Morde, dealt, lügt, betrügt, stiehlt, manipuliert, nutzt aus, entzieht sich jeder Verantwortung, hat zwei Familien (gleichzeitig), und schlägt sich, ausgestattet mit einem hübschen, vertrauenerweckenden Gesicht, hoher Intelligenz und einem einnehmenden Wesen, durchs Leben. Er hat keine Moral: Es kümmert ihn nicht, ob etwas „gut“ oder „schlecht“, „wahr“ oder „falsch“ ist, er tut das, was ihm in der Situation das Zweckmäßigste erscheint. Sich rausreden. Abhauen. Mit einer Frau schlafen. Eine andere Identität annehmen. Jemanden umbringen. Das einzige Versprechen, das er hält, hat er der Frau, die er später erschießt, gegeben: auf ihre Tochter aufzupassen (die, schwer drogenabhängig, in Mexiko sterben wird).

Köhlmeier schildert einen scheinbar gewissenlosen Menschen. Aber Joel Spazierer ist zwar ein Lügner, jedoch nicht aus böser Absicht. Ihm ist bewusst, dass er anders ist, und er räsoniert endlos darüber. Das halbe Buch (gefühlt) besteht aus mehr oder weniger philosophischen Exkursen zum Thema Gott, Lüge, Wirklichkeit, Sein und Schein. Der ungarische Junge (der da noch András Fülöp heißt) führt sein So-Sein auf fünf Tage und vier Nächte zurück, die er im Alter von fast vier Jahren in der leeren Wohnung verbrachte (seine Verwandten waren zum Verhör abgeholt worden), und in denen er entdeckt, dass er das Zentrum seines Kosmos ist, niemanden braucht und von daher (auch und gerade mit Menschen) machen kann, was er will. Der Rest des Buches ist die praktische Anwendung dieser Erkenntnis. Und so schlittert András Fülöp, Joel Spazierer, Ernst-Thälmann Koch durch das Nachkriegseuropa und die Nachkriegsweltgeschichte, beobachtet und berichtet.

Spannend? Spannend. Wobei ich zugeben muss, dass mir manche seiner Betrachtungen zu langatmig wurden. Gelungen? Gelungen. Das Buch fordert dazu heraus, dem Protagonisten gegenüber Stellung zu beziehen, sich Gedanken über Moral und Unmoral, über Lüge und Wahrheit zu machen und damit, vielleicht, auch das eigene Verhalten infrage zu stellen. Und das ohne erhobenen Zeigefinger, sondern einfach, indem Joel Spazierer das tut, was man sich in dieser Situation nicht trauen würde und seine Leser (eigentlich) mit einem „Ja, aber das geht doch nicht“ zurücklässt.

Dieses Buch sollte man, finde ich, mehr als einmal lesen, um sich darauf einzulassen, um die vom Autor angestellten Überlegungen würdigen zu können, um den Gedanken eigenen Raum zu geben. Vielleicht wäre das Hörbuch mit seiner Laufzeit von 32 Stunden doch die bessere Wahl gewesen, Köhlmeier ist ein interessanter Vorleser und ich ein (zu?) schneller Leser. Und das ist das einzige Manko, was ich an diesem Roman entdecken kann: Ich habe keine Lust zum Wiederlesen, zumindest nicht sofort. Vom Ende her gesehen, muss ich sagen, dass mir die Spazierers dieser Welt unsympathisch sind. Aber Köhlmeier, von Köhlmeier möchte ich noch mehr entdecken.

 

Michael Köhlmeier in Olmütz 2008Michael Köhlmeier in Olmütz, 2008. Quelle: Wikipedia, Autor: Schmieren

 

14 Kommentare zu “Ausspaziert.

  1. Deine Gedanken zum Buch kann ich gut nachvollziehen.

    Du siehst dieses tolle Konstrukt, liest die Stellen, die Dir widerstreben, erkennst ein Leben, daß Dich abstößt, weißt aber zur gleichen Zeit um die Güte dieses Werkes
    und ich muß sagen, ein Buch dann konsequent auf die Seite zu legen, sich zu entschließen, hier nicht mehr weiterzulesen, ist das, was man können MUSS, um sich nicht mit etwas zu belasten, was man im Moment nicht brauchen kann, liebe Christiane.

    Liebe Morgengrüße von Bruni

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    • Wobei ich den Spazierer zu Ende gelesen habe, liebe Bruni, und mir jetzt im Nachhinein darüber Gedanken mache.
      Ein Buch, das mich interessiert, lese ich fertig. Auf der Strecke bleiben bei mir meist Bücher, bei denen sich Langeweile einstellt, wobei ich normalerweise nicht definieren kann, warum mich etwas packt und warum nicht.
      Liebe Grüße zurück, Christiane

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      • ahaaa, dann habe ich es falsch gelesen.
        Ach ja, hab es schon entdeckt, ich las Weiterlesen und Du hast Wiederlesen geschrieben!

        Ja, dann ist es Dir nicht passiert, daß Dir der Soff zu widerwärtig war zum Weiterlesen.
        Mir ging es mal so, irgendwann konnte ich nicht mehr, ich nahm
        dieses Buch damals und warf es mit großer Freude in den Papiemüll, aber ich glaube, es war eine sehr andere Art von Buch. Ich fand es nur noch furchtbar.

        Natürlich möchten wir nicht jedes gelesene Buch später wieder lesen, dieses eine Mal genügt dann völlig und Gründe kann es viele dafür geben…
        Wir haben uns ein Bild gemacht und im Moment reicht das vollkommen aus…

        LG von Bruni

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  2. Ich denke von den Spazierers gibt es heute mehr denn je / von der Art eines Köhlmeiers wenige. So öffnet schreiben nicht nur die Welt sondern gibt dem Denken Raum für neues.

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    • Danke dir! Ja, das ist dieser Begriff des „Schelmenromans“, der schon auf dem Klappentext erscheint. Der Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Wo sind wir alle kleine Spazierers? Und kann man ihn als „unschuldigen Narren“ sehen? Spannend.

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      • Wobei ich ja denke der Schelm hat weder mit Mord noch mit Boshaftigkeit zu tun. Und wenn ich mich umsehe erblicke ich eher Selfie-Aktoere als Schelme. Wobei mir die Schelme sympathischer sind.

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        • Der Schelm ist aber auch nicht per se „gut“. Nimm Till Eulenspiegel, nicht nur die geschönten Versionen, nimm die Narren, die ihr Leben für ihre Wahrheit riskieren.
          Ich frage mich, was die Selfie-Akteure von Spazierer halten, bzw. er von ihnen. Nichts vermutlich.

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