Klappspatens Verwandlung

Respekt ist anders. Hinter seinem Rücken bezeichneten sie ihn als Klappspaten. Rudi konnte damit leben. Mit einem Klappspaten kannte er sich wenigstens aus, sehr im Gegensatz zu seinen sogenannten Kumpels. Unter seinen Händen gedieh alles, was wuchs. Schon wahr, er war ein bisschen eigenartig und nicht wie sie. Aber auch das hatte ihn nie gestört. Bis … ja, bis …

Ihr Name war Elin. Sie war die Cousine von Kumpel Magnus, dessen Familie vor ein paar Jahren aus Island eingewandert war. So hatte sich Rudi immer eine Fee vorgestellt: schlank, blond, groß und lieblich. Er hatte sie im Wald getroffen, mit einem eleganten Jagdhund an ihrer Seite, und sie hatte ihn nach Eulen gefragt. Einmal war sie mit ihm und den Kumpels tanzen gegangen. Spätnachts hatte sie die Tanzfläche für sich allein gehabt und sich verträumt  im Licht der Spots hin und her gewiegt, umwabert von dicken Schwaden aus der Nebelmaschine. Ihr Kleid mit dem ausladenden Rock umgab sie wie eine fließende Sahnewolke. Danach hatte er ein Gedicht geschrieben. Aber am nächsten Tag fand er es schwülstig und traute sich nicht, es ihr zu schenken. Sie könnte ja lachen. Und dann müsste er sterben. Ganz bestimmt. Er seufzte bei dem Gedanken. Er war ihr verfallen. Ein hoffnungsloser Fall.

 

Die fünfte Rauhnacht dämmerte schon fast herein, als Rudi den Baum entdeckte, der versteckt in dem verlassenen Garten der Nachbarn stand und gelb blühte. Kurz nach Weihnachten, mitten im Winter, der bisher ungewöhnlich mild gewesen war. Neugierig trat er näher. Am Fuß des Stammes saß ein Zwerg. Jedenfalls war es etwas, was so aussah, wie Rudi sich immer einen Zwerg vorgestellt hatte. Ziemlich klein, ziemlich rundlich, und es trug tatsächlich eine Zipfelmütze. Und roch.

„Guten Abend“, grüßte Rudi höflich.
„Guten Abend“, antwortete der Zwerg. „Du kannst mich also sehen.“ Er klang deprimiert.
„Ja“, sagte Rudi überrascht, „ist das schlimm? Ich habe noch nie einen Zwerg gesehen. Außerdem riechst du nach Pfefferminze.“
„Menschen!“ rief der Zwerg aus. „Zwerge sind keine Gestaltwandler, es hat einen guten Grund, dass ihr uns normalerweise nicht seht, schon mal daran gedacht?“
„Nein“, gab Rudi zu. „Aber was machst du dann hier? Gibt es ein Problem, bei dem ich dir helfen kann?“
Der Zwerg, der Rudi knapp übers Knie reichte, musterte ihn lange und intensiv. Das Ergebnis schien positiv auszufallen, denn er nickte.
„Vielleicht“, sagte er. „Ich stecke in einer furchtbaren Patsche. Schau hier.“ Er wies auf seinen Fuß. Jetzt sah Rudi, was ihm bisher entgangen war. Ein Bein des Zwerges war bis zur Hälfte ein dicker, grauer Klumpen.
„Was ist das?“ fragte Rudi erschrocken.
„Weiß ich nicht“, sagte der Zwerg und klang ziemlich verzweifelt. „Eine Falle vielleicht. Ich bin hineingetreten und ausgerutscht, als ich durch eine unserer geheimen Türen zurückwollte. Es ist sofort fest geworden, ich konnte gerade noch mein Bein losreißen und weglaufen, sonst stünde ich immer noch dort. Jetzt suchen sie mich bestimmt schon, und ich kriege das Zeug nicht ab!“
„Darf ich mal?“ fragte Rudi und beugte sich vor.
„Bitte sehr“, sagte der Zwerg. Rudi klopfte darauf. Hart. Zement? Im Zweifelsfall sogar Blitzzement.
„Tut das weh?“
„Nein“, sagte der Zwerg und zögerte, „es ist nur … ich kann es dir nicht erklären, aber ich kann damit nicht über den normalen Weg zurück, solange das da an meinem Bein ist. Dinge aus deiner Welt und so. Und jetzt kommt die Nacht, sogar eine Rauhnacht, und das heißt, es ist extrem gefährlich für mich, draußen zu sein. Pfefferminze hilft zwar gegen Katzen, heißt es, aber das ist längst nicht alles. Ich muss hier weg!“
Rudi fielen nur Hammer und Meißel ein. Beides konnte er organisieren, aber nicht sofort, von den Unannehmlichkeiten einer derartigen Behandlung mal ganz abgesehen. Außerdem schien die Zeit ja zu drängen.
„Ich könnte bei dir bleiben“, schlug Rudi vor.
„Lieb von dir. Du hast ein gutes Herz.“
„Gibt es keine andere Möglichkeit?“
„Doch“, sagte der Zwerg. „Weißt du, unter was für einem Baum wir hier sitzen?“
Rudi nickte. „Hamamelis. Zaubernuss. Blüht im Winter. Kleine schwarze Samen.“
Der Zwerg sah ihn erstaunt an. „Du kennst dich aus.“
„Ich mag Bäume. Warum fragst du?“
„Ich brauche so einen Samen. Ich habe hier alles abgesucht, aber keinen gefunden.“
„Ich wohne dort drüben“, sagte Rudi und streckte die Hand aus. „Es ist nicht weit. Bleib hier. Ich bin gleich wieder da.“

Es dauerte wirklich nicht lange, bis er schnell atmend angelaufen kam und dem Zwerg die geöffnete Handfläche entgegenstreckte. Fünf Zaubernuss-Samen lagen darin. „Nimm so viele du willst“, sagte er.
Der Zwerg nahm alle. „Ich muss sie kauen“, erklärte er, „und wenn es wirkt, ist der Effekt ziemlich minimalistisch: Ich bin dann einfach weg. Aber falls es klappt, und ich habe es noch nie ausprobiert, dann verdanke ich dir möglicherweise sogar mein Leben. Und dann hast du einen Wunsch frei. Was wünschst du dir?“

Rudi dachte an Elin und an seinen Wunsch, ihr nah zu sein. Er sagte es ihm.
„Du bist verrückt, Mensch“, erwiderte der Zwerg ungläubig, „du hast doch Verwandte, die dich vermissen werden.“
„Keinen einzigen“, antwortete Rudi ernst. „Mach, dass mich ihr Hund mag und dass sie keine Angst vor mir hat. Geht das?“
Der Zwerg sah ihn abschätzend an und nickte schließlich. „Du wirst es bedauern“, stellte er knapp fest. „Aber von meiner Seite gilt der Handel. Wenn alles wie erhofft funktioniert hat, heute um Mitternacht.“
Sie nickten einander feierlich zu. Dann steckte sich der Zwerg den ersten Samen in den Mund, kaute, wartete, darauf den zweiten, den dritten … und war fort.

 

Der letzte Glockenschlag zur Mitternacht war kaum verklungen, als der majestätische Uhu aus dem offenstehenden Fenster herausflog und zielstrebig in die Nacht verschwand. Er zögerte nicht. Er sah sich nicht um. Er wusste, wohin er wollte.

 

Tänzerin – 365tageasatzadayQuelle: Pixabay

 

Wer sich fragt, wie man denn auf so was kommt: schaut hier (neu!).
Eigentlich stand hier der Link zu einer Freundschaft zwischen Uhu und Hund auf einer Fotoseite. Da der Link inzwischen ins Nichts führt, habe ich ihn jetzt durch einen Link zu Vox ersetzt (gleiches Thema, ein Bericht über Uhu Hugo und Münsterländerin Ronja), und hoffe, dass der noch ein bisschen aktiv bleibt.

 

Dies ist mein Beitrag zu der neuesten Runde von 10 Wörter eine Geschichte – Blogger schreiben gemeinsam, ausgelobt von Mia Westendstorie mit Wortgeschenken der Karfunkelfee. Folgende Wörter galt es einzubauen: schwülstig | Klappspaten | Rauhnacht | Zaubernuss | Blitzzement | Nebelmaschine | Sahnewolke | Pfefferminze | minimalistisch | Gestaltwandler.

Ich hoffe, ihr lasst euch ein wenig verzaubern. Habt einen guten Tag!

 

55 Kommentare zu “Klappspatens Verwandlung

  1. Wirklich großartig! Gefällt mir sehr und wenn du die Wörter nicht markiert hättest, wäre ich nicht drauf gekommen, welche vorgegeben waren. Am besten hat mit der minimalistische Effekt gefallen 😉 Viele Grüße!

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  2. Eine sehr Lesefreudige Geschichte. Was hattest du mal geschrieben! So was in der Art wie: ich kann nicht schreiben. Papperlapap. Ich finde ja das du sehr wohl schreiben kannst. Also bitte mehr! !!

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    • Einspruch, Euer Ehren! Wenn, dann habe ich geklagt, dass es mir an Ideen mangelt, und das halte ich aufrecht. Ansonsten, danke für die Ermutigung! Freut mich, dass es dir gefällt … 😉
      Liebe Grüße
      Christiane

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  3. Ein toller Text, Christiane. Wären diese zehn Wörter nicht markiert, ich hätte sie beim Lesen nicht bemerkt als die, die eingebaut werden sollten, so geschickt lässt du sie einfließen.
    Deine Idee mit dem Blitzzement ist auch klasse.
    Mein Kompliment!

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  4. Hallo Christiane, du hast wieder eine so schöne und anrührende Geschichte geschrieben. Du kannst einfach schreiben. Sagte ich vermutlich schon ein oder zweimal 😉
    Danke dir.
    Einen lieben Gruß
    Herbert

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  5. Liebe Christiane,
    dieses Verzaubermärchen enthält viele Zutaten nach meinem Geschmack … Du hast die Wortvorgaben so raffiniert eingewebt, daß ein stimmiges und spannendes Gesamtbild sowie ein fein überraschendes Ende entstanden ist.
    Wohlgefällige Gutenachtgrüße von Ulrike 🙂

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  6. Au backe, liebe christiane, wir tut mir nun dieser Klappspaten leid.
    Er hätte seinen Wunsch anders formulieren müssen….
    Jetzt ist es passiert – für immer

    Was meinst Du, wird er mit seinem Schicksal zufrieden sein?

    Eine irre gute Geschichte hast Du hier erfunden. Bei der Unterbringung des Blitzzementes mußte ich laut lachen und die ganze Geschichte klang so wundervoll stimmig.

    Ich konnte alles vor mir sehen und meine Fantasie machte aus Deinen Worten einen schönen kleinen Film, der ein wenig wehmütig endete – wie ich meine, aber vielleicht ist es eigenltich doch ein Happy End *lach*

    Liebe Grüße
    von Bruni

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  7. Super, sogar der Klappspaten und der Blitzzement fügen sich nahtlos ein. Eine äußerst nette Geschichte.
    Ich bin gerade draufgekommen, dass mein reader beschlossen hatte, dich zu entabonnieren. Falls du das bemerkt haben solltest: sorry, ich war´s nicht ! Ich habe mich nur gewundert, wieso ich keine postings von dir mehr zu lesen angeboten bekam, jetzt weiß ich warum und abonniere dich feierlich wieder ! Liebe Grüße

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    • Meine Erfahrung mit diesen 10 Wörtern ist eigentlich die, dass ich mit zwei oder drei ernsthafte Schwierigkeiten habe. Klappspaten gehörte dazu, und bei Blitzzement musste ich recherchieren 😉 Und irgendwann betrat der Zwerg die Bühne meiner Vorstellung, und alles begann, sich zu fügen.
      Schön, dass du hier bist, abotechnisch meine ich, freut mich sehr 😀
      Liebe Grüße
      Christiane

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  8. Blitzeis könnte ich noch beitragen, hatten wir heute hier in den höheren Regionen -:))) Ein Zwerg mit Klumpfuß, da muß frau auch erst mal drauf kommen, ich sehe Deine Story schon verfilmt vor mir -:)))
    schöne Bescherung das -:))))

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    • Ja, nun … 😉 Ich musste ja nun erstmal herausfinden, ob es Blitzzement gibt und ob der Name Programm ist. Um meine laienhaften Vorstellungen umzusetzen, fragte ich einen befreundeten Bauingenieur, ob ich mir das so vorstellen könne, dass jene berühmten Betonstiefel (-> Mafia) aus Blitzzement gefertigt würden. Er lachte sich halb tot und meinte, so schnell würde es wohl nicht gehen, aber prinzipiell ja. Als dann der Zwerg aus meiner Vorstellung geschlüpft war, hat er davon wohl was abbekommen ….
      Liebe Grüße
      Christiane

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  9. Hier in meinem Kinderkönigreich leben mit mir drei Zwerge. Sie sind schon sehr sehr alt und kamen über Umwege, wie so vieles, zu mir. Den dreien erzählte ich soeben Deine Geschichte. Sie fanden sie einfach hinreißend und prompt baten sie mich, ihnen Zaubernuss-Samen zu besorgen. Doch wenn ich das mache, verschwinden sie am Ende noch, obwohl sie mir versprachen, dass sie damit nur Menschenwünsche erfüllen wollen. Da drei sich bei mir wohl fühlen, glaube ich ihnen das. So viel Vertrauen muss sein! So, muss weg. Hamamelis-Samen organisieren. Klasse hast Du die zehn Wörter in die runde Geschichte eingebunden, so selbstverständlich, als gehörten sie genau dorthin und nirgendwoandershin. Viele liebe Grüße von der Fee (leider keine blonde und große und einen Jagdhund hab ich auch nicht, aber dafür drei Zwerge…)✨

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  10. Sage mal.. wie konnte mir diese wundervolle schöne Weihnachtsgeschichte nur entgehen? Sie ist mir durch die Leselapppen entfleucht…
    Die ist wunderschön ❤
    Ich werde sie nochmal zusammentragen. Irgendwann an ruhigen Tagen… Ein Buch der gemeinsamen Geschichten…
    Danke nochmal für diese echt tolle Geschichte !

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    • Ach, du Liebe, wenn du diese meine Geschichte mit aufnehmen würdest, würde ich mich sehr freuen, denn das ist eine, die einen ganz speziellen Platz in meinem Herzen hat … Danke, ich freue mich sehr!
      Liebe Grüße
      Christiane

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