Wofür Mathe alles gut ist

Klassenclown sein ist echt scheiße. Okay, meistens nicht, ist schon krass, wenn alle dir nachschauen und lachen und deine Sprüche gut finden. Wenn aber das einzig coole Mädchen auf dem ganzen Planeten sich immer wegdreht und anfängt, mit ihrer besten Freundin zu kichern, wenn sie dich sieht und du hundertprozentig weißt, die reden über dich … dann, Alter, hast du ein Problem.

Es hatte Erkan erwischt. Und zum ersten Mal kam er nicht weiter. Seine großmäuligen Reden interessierten sie nicht. Andere Weiber hingen ihm an den Lippen, sie ging einfach weg und tat so, als hätte sie nichts gehört. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen, oder? Er verdoppelte seine Anstrengungen. Mit dem Erfolg, dass sie den Klassenraum verließ, wenn er reinkam, oder nur genervt die Augen verdrehte und durch ihn hindurchsah, als wäre er nicht da.

Wenn er unbeobachtet war, starrte er ihr hinterher. Es musste ihr doch auffallen, dass er mehr für sie empfand! Irgendwann stellte ihn sein Bruder zur Rede, der mitbekam, dass Erkan fast gegen eine Laterne lief, als vor ihnen ein gewisses Mädchen um die Ecke bog und er sie mit Blicken fast verschlang.

„Alter, du bist ja so was von weg! Wie heißt sie denn?“
„Julia.“
„Ist es was Ernsthaftes?“
„Was?“
Hassan, fünf abgeklärte Jahre älter, seufzte.
„Weiß sie überhaupt, dass es dich gibt?“
„Klar.“
„Also nicht. Und?“
„Sie will nichts von mir. Sie spricht nicht mal mit mir.“
„Bitter. Habt ihr irgendwelche Kurse zusammen?“
„Nee. Doch. Mathe, ab nächster Woche. Der Müller ist krank, die legen die Kurse zusammen.“
„Sieh zu, dass du irgendwo bei ihr sitzt. Mit bisschen Glück fragt sie dich, wenn sie was nicht schnallt. Mädchen können oft kein Mathe.“
Erkan sah zu seinem Bruder auf.
„Aber ich, ja?“
„Aber du hast einen Bruder, der Mathematik studiert und die nächste Zeit Semesterferien hat. Ich könnte dir helfen. Wenn du kapierst, was ich sage, natürlich.“
„Natürlich kann ich das!“
„Deal.“

In den folgenden Wochen fieberte Erkan den Mathe-Stunden entgegen, denn Julia, die wunderbare Julia, hatte wirklich keinen Plan von Mathe. Also, jedenfalls noch viel weniger als er. Und Erkan entdeckte, dass er ganz gut erklären konnte, nachdem er in Julias Gegenwart wieder erlernt hatte, wie man atmet und spricht. Ohne Sprüche zu klopfen. Okay, meistens.
Bald saßen sie nach der Mittagspause immer am gleichen Tisch hinten in der Kantine neben den bodenhohen Fenstern, tranken Kaffee, steckten die Köpfe zusammen, machten Hausaufgaben und diskutierten über alles. Manchmal waren Kumpels dabei, meistens ihre Freundin, selten waren sie allein. Julia würde nie ein Mathe-Crack werden, aber dafür hatte sie bedeutend mehr Ahnung von Latein als Erkan. Er half ihr, sie half ihm. Immer noch raste sein Herz, wenn er sie ansah. Immer noch ließ ihr Lächeln ihn schlucken.

„Schau mal“, sagte sein Bruder eines Abends. Er zog eine Postkarte heraus und gab sie ihm. Eine Spirale in Schwarz-Gold. Er war sich nicht ganz sicher, ob es eine Computergrafik war oder ein Foto eines Stoffmusters.
„Krass! Was ist denn das?“
„Mathematik.“
„Hä?“
Hassan lachte.
„Die Abbildung einer Julia-Menge. Unter anderem. Hat was mit Chaosforschung zu tun. Schlag mal Mandelbrot-Menge und Apfelmännchen nach, wenn du wissen willst, was wir an der Uni so treiben.“
Erkan hörte nur ‚Julia‘. Was anderes hätte Hassan auch gewundert.
„Kann ich die haben?“
„Sicher.“

Erkans Chance kam schon am nächsten Tag. Als Julia nachmittags ohne ihre Freundin zu ihrem üblichen Tisch kam, zog er die Karte hervor.
„Für dich.“
„Ohhh, echt? Ist die schön! Tolle Farben! Was ist das?“
„Eine Julia-Menge. Hat was mit Chaosforschung zu tun“, sagte er und hatte Angst, wie ein Klugscheißer zu klingen. Sie sah ihm in die Augen, worauf er prompt rot wurde. Er hielt ihrem Blick stand.
„Äh, sag mal“, begann er, „gehst du heute Abend mit mir ins Kino?“
Sie überlegte.
„In was?“
„Egal. Such dir was aus. Hauptsache, nur du und ich.“ Es war raus. Er hatte es wirklich gesagt!
„Wirklich? Du bist ja süß. Ja, gern.“

Erst dachte er, er hätte sich verhört. Dann raste die Erleichterung wie eine Welle durch seinen Körper und machte, dass ihm schwindlig wurde. Er wusste genau, dass seine Beine ihn jetzt auf keinen Fall tragen würden, also blieb er sitzen und legte vorsichtig seine Hand auf ihre, als wäre das das Normalste überhaupt. Sie lachte ihn an, und die Welt blieb stehen.

 

Julia-Menge, Fraktal – 365tageasatzadayQuelle: Pixabay

 

Achachach. Da präsentiert uns Jutta in ihrer neuesten Schreibanregung den „ziemlich verliebten“ Erkan, und morgen ist Valentinstag. Ein Schelm, der Böses dabei denkt? Nachdem ich den Valentinstag meist souverän ignoriere (und nicht nur ich), konnte ich jedoch der Aufforderung, an einer Liebesgeschichte zu basteln, zu meinem eigenen Erstaunen nicht widerstehen. Nicht mal irgendeine drohende Verdammnis musste hinein. Hm. Sehr merkwürdig.
Sagt mir bitte, ob ich zu sehr in den Kitschtopf getreten bin, ich habe versucht, es zu umgehen … wenn man nicht generell diese Art Geschichten schon für Kitsch hält.

Ach so: Mehr Infos zur Mandelbrot- und Julia-Menge gibt es hier und hier, Apfelmännchen werden hier erklärt, und ich behaupte nicht, dass ich irgendwas davon verstanden habe.

 

41 Kommentare zu “Wofür Mathe alles gut ist

  1. Die Geschichte ist gut. Falls du einen Rat willst: der Anfang mit dem Klassenclown ist nicht recht stimmig für mich. Vielleicht wäre es besser, hier „interkulturelle Differenzen im Annäherungsmuster zwischen Mann und Frau“ anzudeuten, wenn du verstehst, was ich sagen will 🙂 Es steckt ja schon in deiner Geschichte drin, du brauchst es nur ein bisschen herauszuarbeiten: Der Erkan kann sich nicht einfach an ein Mädchen ranschmeißen, das ihm gefällt, weil seine Kultur ihm das nicht erlaubt. Und: Sein älterer Bruder hilft ihm auf die Sprünge. Julia ist da viel unkomplizierter und fragt niemanden um Rat, eben ein deutsch sozialisiertes Mädchen. – Froher Valentinstag (den ich auch ignoriere)!

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    • Liebe Gerda, ich wollte die ganze interkulturelle Geschichte eigentlich recht weit in den Hintergrund schieben (Gymnasium, Oberstufe). Von daher stimme ich dir zu, dass ich vielleicht ein anderes Wort für „Klassenclown“ brauche, mehr irgendwas, was in die „opinion leader“-Richtung geht, aber mir fiel/fällt nichts ein.
      Und Julia hat ganz sicher mit ihrer Freundin über Erkan gesprochen. Ganz sicher. 🙂
      Liebe Grüße aus dem kalten Norddeutschland
      Christiane

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  2. *lach*, ich finde den Klassenclown nicht übel, er passt in die Schüler-Liebesgeschichte gut hinein. Einer, der auf sich aufmerksam machen möchte und es auf seine übliche
    Clownmanier tut, mit der er hier aber 0 Erfolg hat, also muß er etwas anderes ausprobieren.
    Ich fand den dringend erforderlichen roten Faden gut, der sich durch eine süße erste ein wenig spröde Liebesgeschichte zieht.

    Liebe Grüße in den Valentinensonntag, auf den wir doch zuerst pfeifen und ihn dann gekonnt ignorien, liebe Christiane 🙂 oder etwa nicht?
    Bruni

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  3. … der Klassenclown kompensiert meist etwas… und die Schöne ist oftmals genervt von Oberflächlichkeit… der Weg der Zueinanderfindung ist krass individuell und von dir treffend beschrieben… :mrgreen:

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  4. liebe Christiane, wunderbare Geschichte! Herzschmerz bleibt Herzeschmerz und verliebt sein fühlt sich immer gleich an, ob mit 15 oder 50 (ich weiß wovon ioh rede :-))) ) Wo hast du denn die „Julia-Menge“ ausgegraben? Tolle Idee!
    Liebe Grüße
    Carmen

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    • Liebe Carmen, ich auch … 😉
      Auf die Julia-Menge bin ich mehr zufällig beim Bildersuchen (Thema: Mathe) gestoßen, und da die Angebetete noch keinen Namen hatte, hab ich versucht, irgendwas zu stricken, dass ich sie unterbringen konnte (inklusive einem Mathematik studierenden älteren Bruder). Freut mich, dass es dir gefällt, habe mir schon privat anhören dürfen, es wäre zu sehr an den Haaren herbeigezogen. Versteh ich nicht … (okay, klar ist es das) 😉
      Liebe Grüße
      Christiane

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