Lilly greift ein

Jenny hatte ihm öfter vorgeworfen, dass er ein beziehungsunfähiger Sack wäre. Unfähig, die Bedürfnisse anderer zu erkennen oder noch schlimmer: daran nicht mal interessiert. Sie hatte noch ganz andere Dinge gesagt, aber „beziehungsunfähig“ war immer dabei gewesen. Zum Schluss hatte er gar nicht mehr zugehört.
Unfähig. Er war eben einfach unfähig. Ein Versager. Ein Vollhorst.
Glaubte er das? Ach na ja. An guten Tagen nicht.
Sie hatten ganz bestimmt unterschiedliche Vorstellungen vom Leben. Haus bauen, Sohn zeugen, Baum pflanzen – nicht sein Ding. Noch nicht. Bei ihr dagegen tickte wohl schon die biologische Uhr, das war ihm nicht klar gewesen. Frauen waren manchmal komisch.

Wo also war dieses verdammte Vieh? Die Sucherei machte Thomas nervös. So groß war seine Wohnung nun auch wieder nicht, obwohl seine Schwester ihn gerade deswegen gebeten hatte, ihr Herzblatt für die Zeit, die sie im Krankenhaus verbringen würde, aufzunehmen. Er hatte nicht ablehnen können, obwohl Katzen nicht so sein Ding waren.
„Komm schon, Tom“, hatte sie zu ihm gesagt, „du kennst ihn, er kennt dich, ist doch optimal. Gib ihm regelmäßig zu fressen, streichel ihn, sprich mit ihm und sag ihm, dass ich bald wiederkomme und ihn vermisse, sieh zu, dass er immer auf sein Klo kann und gib acht, dass du die Tür nicht auflässt, damit er nicht abhaut. Weißt ja, bei mir darf er nicht raus. Meine ganzen Freunde wohnen in so Schuhschachteln, bei dir hätte er wenigstens zwei große Zimmer und die Küche als Auslauf.“ So war Lene. Nur das Beste für die, die ihr am Herzen lagen.
Außerdem war er ihr noch was schuldig gewesen wegen Helfen nach der Sache mit Jenny und so.
Sie hatte ihm nicht gesagt, dass der betagte Kater ein Kletterkünstler war und sich gern auf den Schränken und in den Regalen versteckte. Zwischen der Bügelwäsche. Unter dem Bett sowieso. Hinter den Gardinen oder den Büchern. Schubladen sollte man auch besser keine offenlassen. Lilly erwies sich als kreativ.

Thomas stand in der Küche und starrte nachdenklich auf das unberührte Futter. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. WO ZUM TEUFEL WAR LILLY? Er war heute Morgen spät dran gewesen, hatte nicht nach ihm geschaut, hatte nur das Futter aufgefüllt und war zur Arbeit gehetzt. Hatte den Pelzigen der Katzenschlag getroffen und er vergammelte jetzt unter irgendeinem Schrank oder hinter den Büchern? Bitte nicht. Lene würde ihn umbringen.
Konnte er entwischt sein? Ausgeschlossen!
Oder? Er dachte nach.
Oh Gott!
Er hatte gestern Abend gewaschen. Im Keller, wo in diesem Haus die Waschmaschinen standen. Möglicherweise hatte er seine Tür nur angelehnt gehabt und das neugierige Vieh war ihm gefolgt. Verdammt, verdammt, verdammt.
So schnell war er noch nie die Treppen vom ersten Stock in den Waschkeller hinunter gerannt. Riss die Tür auf, knipste das Licht an.
„Lilly? Lilius?“ Die dumpfe Wärme des schlecht belüfteten Kellers empfing ihn. Es roch nach Feuchtigkeit, Waschmittel und Weichspüler. Keine wartende Katze.

Thomas hielt sich am Türrahmen fest, als seine Knie plötzlich weich wurden, und schloss die Augen. Horrorszenarien überfielen ihn, spielten sich vor seinem inneren Auge ab. Lilly, durch die zufallende Haustür nach draußen auf die Straße entwischt, von dem ungewohnten Lärm erschreckt, vor einem Hund flüchtend, vor ein Auto gelaufen, über die befahrene Straße gerannt, in den Vorgärten oder dem Park streunend, immer wieder verscheucht, verängstigt, frierend, hungrig …

Und alles war seine Schuld. Jenny hatte ihn schon richtig erkannt, er hatte sich während ihrer ganzen Beziehung niemals so intensiv wie jetzt etwas gewünscht, jetzt, wo er den Gedanken nicht ertragen konnte, dass er das, was seiner Schwester fast das Liebste war, durch sein Desinteresse verloren hatte. Voll verkackt, Alter, aber sowas von. Er war ein unfähiger, selbstgefälliger Versager.

Er verließ die Waschküche und machte sich auf den Weg nach oben. Ihm graute davor, Lene anrufen zu müssen. Als er die Treppe in den ersten Stock in Angriff nehmen wollte, hörte er die Haustür gehen. Angestrengte Schritte näherten sich langsam. Die Nachbarin von unten, die wahrscheinlich vom Einkaufen kam. Nun, er konnte ja mal fragen.
„Äh, guten Abend. Entschuldigen Sie, Sie haben nicht zufällig gestern Abend oder heute hier im Treppenhaus eine schwarz-weiße Katze gesehen? Mit einem schwarzen Fleck am Kinn?“
Offensichtlich erkannte sie ihn als den neuen Mieter von oben, denn sie nickte grüßend und stellte ihre Einkaufstaschen ab, um ihre Wohnungstür aufzuschließen.
„Habe ich nicht, nein, und auch nichts gehört. Aber Sie wissen, junger Mann, dass Tierhaltung in diesem Haus verboten ist?“
Thomas unterdrückte den spontanen Wunsch, den Tag mitsamt der älteren Dame in die Tonne zu treten.
„Wusste ich nicht, nein, und es ist auch nur vorübergehend. Die Katze gehört meiner Schwester. Aber jetzt ist sie abgehauen und ich dachte, ich frag mal rum.“
„Ja, das ist dann immer nicht so schön“, sagte der Drachen hilfsbereit. „Haben Sie schon das Tierheim angerufen, ob sie dort vielleicht abgegeben worden ist? Oder Zettel gemacht mit Ihrer Telefonnummer? Die können Sie ja dann in der Gegend aufhängen.“
Thomas schluckte die Feststellung hinunter, dass er nicht wüsste, was er lieber täte. Ein einziger Alptraum. Sein Hirn marterte ihn mit Bildern von Lilly, der von Hunden gejagt auf einen Baum geflüchtet war und klagte … und er war nicht da gewesen, um sich um ihn zu kümmern.
„Danke“, sagte er und wankte zur Haustür. Öffnete sie, sah hinaus, halb darauf gefasst, halb hoffend, ein Miauen aus den Gärten gegenüber zu hören. Nichts. Es dämmerte, aber heute hatte er keinen Blick für das Abendrot. Er ließ die Tür wieder ins Schloss fallen und machte sich erneut ziemlich mutlos auf den Weg nach oben, als sein Blick routinemäßig die Pinnwand in der Nische mit den Bekanntmachungen für das Haus streifte. Über all den Müllabfuhrterminen,  Notrufnummern und sonstigem Kram prangte ein großer Zettel.

Liebe Nachbarn! Wer vermisst eine Katze? Schwarz-weiße Katze zugelaufen! Bitte melden bei Mina, WG, 2. Stock

Zum zweiten Mal für heute traf ihn fast der Schlag. Dieser allerdings vertrieb alles Blei aus seinen Knochen. Thomas sprintete förmlich in den zweiten Stock. Auf sein Klingeln hin öffnete ein junger Typ, der so blass war, dass es sogar Thomas auffiel.
„Ja?“
„Jemandem von euch ist eine Katze zugelaufen?“
Der Typ nickte.
„Komm rein, mach die Tür zu. Sie ist bei Mina.“
Er drehte sich um. Thomas trat ein und stand in einem langen Flur voller Türen, der mit allerlei Kram vollgemüllt war.
„Mina?“ rief der Blasse, bevor er rechts in einer der offenen Türen verschwand.
„Ja?“
„Hier ist jemand wegen der Katze!“
„Ich komme!“
Weiter hinten hörte er ein Geräusch.
„Nein, hiergeblieben“, sagte die Stimme freundlich. Aber dann erschien eine Katze im Türrahmen und marschierte auf Thomas zu.
„Lilly!“ rief er. „Lilius! Komm her, Katerchen! Wo hast du denn gesteckt?“ Er ließ sich auf die Knie fallen und beobachtete den großen Kater, der majestätisch auf ihn zuschritt, sich vor ihm aufbaute und darauf wartete, dass Thomas eine Hand ausstreckte, damit er seinen Kopf in ihr versenken und sich kraulen lassen konnte.
„Na, du Abenteurer“, sagte Thomas. „Wenn wir das in einer stillen Stunde deinem Frauchen erzählen, dann kriegen wir aber beide mächtig Stress.“ Er stand auf und nahm den Kater auf den Arm. Mina war zu ihnen gekommen. Auf ihrer Schulter saß ein rotgetigertes Katzenkind.
„Hi“, sagte Thomas. „Ich würde dir ja gern die Hand schütteln und mich bedanken, wenn ich nicht gerade verhindert wäre. Ich bin Thomas und wohne eins tiefer. Wie hat der Strolch denn zu dir gefunden?“
„Das frag den Zwerg auf meiner Schulter“, sagte Mina grinsend. „Die maunzte an der Tür rum, und als ich rausguckte, stand er davor und wollte unbedingt rein. Dann hat er Emmas Futternapf leer geputzt, sich auf die Couch gelegt und so getan, als ob er hier wohnt. Ganz schönes Macho-Gehabe, aber Emma fand das cool, also hab ich die beiden gelassen. Nur als er dann heute keine Anstalten machte aufzubrechen, dachte ich, dass ihn bestimmt wer vermisst und hab unten den Zettel hingehängt.“
„Da war ich vermutlich schon weg zur Arbeit.“
„Ist er dir abgehauen? Wie heißt er? Lilly?“
„Er hörte schon auf Lilly, bevor meine Schwester vor vielen Jahren merkte, dass er ein Kater ist“, bestätigte Thomas. „Er gehört ihr. Ich sage manchmal Lilius zu ihm, aber Lene findet das nicht witzig. Gestern war ich unten zum Waschen und habe wohl verpennt, die Tür ins Schloss zu ziehen, da muss er raus sein. Danach hab ich nicht sofort gemerkt, dass er weg war, weil er sich eh viel versteckt. Er ist bei mir bloß zwischengeparkt, ich hab mir nie so viel aus Katzen gemacht. Und wenn ich mir überlege, was alles hätte passieren können, mache ich mir Vorwürfe, dass ich so ein Idiot war.“
Mina nickte und betrachtete Lilly, der inzwischen den Kopf auf Thomas‘ Schulter gelegt hatte.
„Versteh ich gut, aber mach dich nicht fertig. ‚Einem Menschen, den Kinder und Tiere nicht leiden können, ist nicht zu trauen‘, heißt es. Er hier mag dich auf jeden Fall. Falls es dir hilft und ich das sagen darf, ich finde, du bist durchaus am Gewinnen. Wenigstens vorläufig.“
Lilly begann mit geschlossenen Augen zu schnurren. Seine Welt war also anscheinend wieder ganz okay. Thomas hätte vor Erleichterung heulen können. Vielleicht würde er sein Leben ja doch nicht als Vollhorst beschließen.

 

Lilly – 365tageasatzadayQuelle: Pixabay

 

Tom (sucht etwas), Treppenhaus und Ausgeschlossen! spuckte Juttas Geschichtengenerator für diese Woche aus. Nun, nachdem ich aus diversen Beiträgen und Kommentaren erfahren hatte, dass Tom bereits durchaus negative Erfahrungen mit Treppenhäusern gemacht hatte, wollte ich ihn nicht schon wieder vor verschlossenen Türen stehen lassen. Und dann wusste ich, dass Tom verzweifelt eine Katze suchen würde …

 

52 Kommentare zu “Lilly greift ein

  1. SUPER!!! Du schreibst so lebendig, das ist klasse. Und mir gefällt der Wechsel zwischen Dialogen, Selbstreflektion und Erzählung sehr. Auch die „Moral“ am Ende der Geschichte – tierliebende Menschen – und dass da ein offenes Ende winkt – vielleicht entwickelt sich ja eine neue Liebesgeschichte für Thomas?

    Das Bild erinnert mich an meine erste Katze: Die hieß Herrmann – bis wir ebenfalls feststellten, dass sie kein Kater war. Gib Dir das: Eine Kätzin mit dem Namen Herr-Mann 🙂

    LG Birgit

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  2. eine geschichte wie direkte mang aus dem leben gegriffen / sehr treu und klar / das weiche knie bleibt und unter dem hemd der schwitzfleck / ging ja nochmals gut aus “ dachte tom“ und überdachte seine freundschaft zu lilly /
    fein fein / einer katzenmutter gleich.

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    • Liebe Jutta, ich glaube, Tom ist eigentlich relativ normal. Vielleicht wirklich bisschen sehr auf sich selbst bezogen, aber nicht grundsätzlich bösartig. Eigentlich der Stoff, aus dem die Bücher nicht sind … 😉
      Liebe Grüße
      Christiane

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      • Ich weiß, was du meinst. Aber es gibt schon auch recht viele „normale“ ProtagonistInnen, die dann allerdings mit einer „ungewöhnlichen“ Situation konfrontiert werden – oder vielleicht auch „nur“ aus ihrer Normalität ausbrechen wollen?

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        • Daher dein ständiger Verweis darauf, ProtagonistInnen in Schwierigkeiten zu bringen, schon klar … Aber die meisten wollen doch nur (in) ihre Normalität zurück. Ja, davon leben extrem viele Geschichten, auch alle, die die Welt retten, stimmt 😉

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  3. Ich kenne ein paar Katzen, deren Geschlecht nicht zum Namen passt. Allerdings ändern die meisten dann den Namen wieder oder versuchen es. Aber da Katzen ja eh nur auf ihre geheimen, unaussprechlichen Namen hören (wenn überhaupt) … 🙂

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  4. Ein feiner Text um Lilly, klingt so ähnlich wie Milli, den ich so gut nachvollziehen kann…
    Wie schnell sind sie weg auf ihren leisen Sammetpfoten, liebe Christiane , und man sucht und sucht und wenn man dann Erfolg hat, ist plötzlich die ganze Welt wieder in Ordnung!

    Liebe Grüße von mir

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    • Bei mir gilt immer noch, dass ich jedes Mal froh bin, wenn die Tür aufmache, und der Fellträger davor hockt, liebe Bruni, egal, ob mit Maus oder ohne.
      Ich kann dich gut verstehen, und ja, ich habe auch an deine Milli gedacht. Allerdings NICHT beim Namen! 🙂
      Liebe Grüße zurück
      Christiane

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  5. Von all den vielen Katzen, die ich hatte in vielen Jahren ist sie die einzige, die ich immer noch vermisse…
    Dabei war Miro doch eigentlich mal mein Katzenprinz.
    Da konnte ich mich noch besser abfinden.

    Das glaube ich Dir gerne, daß Du jedesmal froh bist, ihn wieder zurückzuhaben, nach seinen bestimmt sehr abenteuerlichen nächtlichen Katergängen *g*

    LG von mir an Dich

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