Fernes Glockengeläut

Meine Kindheit weht zu mir herüber.
Fernes Glockengeläut …

(aus: Mascha Kaléko, Notizen, Quelle)

Okay, meine Übereinstimmung mit Mascha Kalékos Schicksal endet nach exakt diesen Worten, trotzdem musste ich daran denken, als ich dort stand und hinüber-/hinunterschaute und sentimental wurde. Schon komisch, alte Wege wiederzugehen, zu sehen, was sich alles verändert hat … und was nicht … Die Glocken läuten abends um halb sieben.

Und auch, alte Erinnerungen zu hinterfragen. Ich bin nun schon ziemlich lange von dort weg, der Lebensmittelpunkt, der es mal war, ist es lange nicht mehr. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich mir in den letzten Jahrzehnten einiges schöngedacht/schlechtgedacht habe, einfach dadurch, dass ich die Kinderbrille nie ganz abgesetzt hatte. Ich habe mir den Luxus gönnen können. Ich bin anderswo erwachsen geworden, habe anderswo in vollerem Ausmaß begriffen, wie Leute ticken, bin anderswo über geistige Kleinhirnigkeiten gestolpert. Obwohl ich, wenn ich heute darüber nachdenke, immer öfter auf Erfahrungen/Erinnerungen aus meiner Kindheit zurückfalle. Gute und schlechte. Wehmütig. Interessant. Vermutlich werde ich einfach älter. 😉

Interessant (für mich) auch mein Stolz, als ich neulich festgestellt habe, dass bei der Landtagswahl vor gut zwei Wochen zwar auch in „meinem“ Dorf „Agitation Frustration Demagogie“ (danke dafür, Herr Ärmel) zur drittstärksten Partei geworden ist (aber unter dem Landesdurchschnitt; und es gab 5 NPD-Wähler, ich wüsste mal gern, ob das immer noch die sind, von denen ich das als Jugendliche schon annahm), das Dorf ansonsten aber immer noch mit fast absoluter Mehrheit rotsockig gewählt hat. Auch das hat sich seit vielen Jahren nicht verändert.

Ich glaube, ich habe einfach das Bedürfnis, im Dorf meiner Kindheit „alles in Ordnung“ zu wissen. Was es natürlich nicht ist und nie war … aber das steht auf einem anderen Blatt und soll ein anderes Mal erzählt werden … oder auch nicht.

 

Dorf mit Kirche – 365tageasatzadayQuelle: ichmeinerselbst, ja, Handy, ja, gegen Abend

 

34 Kommentare zu “Fernes Glockengeläut

  1. Im Kindheitsdorf soll alles so bleiben wie es ist – ich glaube, das ist für uns alle so. Ein merkwürdiger Wunsch. Wieso sollte sich ausgerechnet dort nichts ändern? Jeder Ort ist für jemanden ein Kindheitsort – die Welt käme, würden sich die Wünsche erfüllen, zum Stillstand.
    Ich erinnere mich an den Besuch eines Vetters meines Mannes in seinem Kindheitsdorf. Er kam, dick und recht erfolgreich, mit seiner dicken Frau und seinem dicken Kind aus Florida, erstmals nach sehr vielen Jahren. Als er wegging, gab es noch keinen elektrischen Strom. Jetzt lief er verzweifelt mit seiner Kamera herum, um IRGENDETWAS zu finden, das noch so war wie damals.

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  2. Ich muss die alten Orte nicht mehr aufsuchen, da ja jetzt eh alles anders dort ist, ich bewahre die Bilder meiner Kindheit in mir und auf mancher Fotografie … das Leben ist und bleibt Wandel.
    liebe Grüße
    Ulli

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  3. Die Kinderbrille absetzen ist eine schöne Formulierung. In verschiedenen Bereichen gelingt das wohl verschieden gut und manchmal ist es auch ziemlich schmerzhaft, aber wichtig

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  4. Meiner Kinderbrille zerbrach beim zweiten Besuch in meiner Geburtsstadt Goslar, meine Eltern hatten dort keine Verwandten und ich keine Schulfreunde, weswegen erst ein Besuch nach vielen Jahren Fortseins mit der Tochter anstand, der ich meine Heimat zeigen wollte und ich fand nichts mehr vor, von dem, was einmal sehr wichtig war. Das Geburtshaus abgerissenen, dort stand ein Supermarkt, meine Schule umgewandelt in ein Altenstift, die alten hübschen Einzelgeschäfte belegt von den üblichen Ketten und die wunderschöne im Krieg durch nichts zerstörte Stadt verkauft sich als Touristenattraktion. Es tat weh, sich an nichts mehr festhalten zu können und so geht es mir inzwischen mit vielen Erinnerungen aus der Vergangenheit.
    Eine interessante Diskussion hast Du hier angestoßen, die mich auch wieder über mich selber nachdenken lässt.
    Sei herzlich gegrüßt, liebe Christiane, von Karin

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    • Liebe Karin, ich habe ein Gegenbeispiel. Ich durfte meine Mutter in ihre Vergangenheit begleiten und stand mit ihr 45 Jahre später vor einer heruntergekommenen Häuserzeile in einem südlichen (glaube ich) Vorort von Königsberg, ehemals Ostpreußen. Kopfsteinpflaster, Bäume, alles grau. „Schau, Christiane, da oben die Fenster, da haben wir gewohnt. Und man kann immer noch durchgehen in den Hof, siehst du, die Tür ist offen.“ Wir sind nicht rein. Ich habe die Kirche gesehen und den Weiher (ein Feuerwehrteich), in dem sie schwimmen lernte und auf dem sie sich eines Winters beim Schlittschuhlaufen den Arm brach …
      Alles war anders, natürlich, aber sie konnte sich nach so langer Zeit ihrer Erinnerungen vergewissern. Ich bin sehr dankbar, dass ich dabei war, wir das teilen konnten und ich einen kleinen Einblick bekam.
      Liebe Grüße aus dem kühlen Hamburg
      Christiane

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  5. Das wollte ich ja auch mit der Tochter machen, ihr meine Kindheit, die in Goslar sehr glücklich war, näherbringen, aber alles, an dem mein Kinderherz hing, war verschwunden. Das Haus, die Menschen, deren Sonnenschein ich damals war , weil alle Söhne und Männer im Krieg waren, das tat weh. Die Stadt selber war wie eh und jeh, die alten Wanderwege, Rodelberge ,das fand ich wieder.
    Ich war früher so dankbar, dass ich keine traumatische Kriegserlebnisse hatte, in Goslar fiel keine einzige Bombe, es gab keine Zerstörung, deswegen war vlt.der Schock mit dem abgerissenen Geburtshaus (wir wohnten dort nur zur Miete ) so groß, ich hatte mich in Sicherheit gewiegt.
    Am Wochenende wurden uns hier 20 Grad versprochen! 😊

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    • „… dass nichts bleibt, dass nichts bleibt, wie es war.“
      Ist das immer so, dass man in der Vergangenheit Sicherheit sucht? Weil man sie kennt?
      Ja, mit den Bomben, da hattet ihr Glück. Meine Mutter konnte selten und wenig über all die Schrecken sprechen.
      Am Wochenende soll es hier auch wärmer werden, aber ich fürchte, auf 20 °C müssen wir noch bisschen warten. :-/
      Liebe Grüße
      Christiane

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  6. tja, bei mir ist es sehr anders.
    Ich stamme aus einem Dorf, das heute zu Saarbrücken gehört.
    Den Ortsnamen gibt es nicht mehr, dabei fand ich ihn so interessant 🙂
    Da wir zwischen dem Ort auf dem Hügel und dem im Tal wohnten, war mir das Dorf an sich nicht so wichtig. Wichtig war nur mein Elternhaus, mit Eltern, Großeltern und meiner Tante mit meinem Cousin.
    Hier liegen viele Erinnerungen und sie sind intensiv, manche nicht gut und andere wieder sehr schön. Einige Geschichten habe ich in wortbehagen aufgehoben.
    Meine Töchter kennen das alles gut und ihre Erinnerungen sind sehr schön.

    Liebe Grüße zum späten Abend von Bruni

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    • Eingemeindungen sind auch so ein Thema, was Identität schafft und nimmt … 😉
      Ich finde es wieder mal sehr interessant, wie unterschiedlich wir alle sind. Danke auch an dich!
      Liebe Grüße
      Christiane

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  7. Ich bin in meiner Kindheits-Stadt aufgewachsen.
    Erst mit der Hochzeit ging es in die Nachbar-Stadt.
    Immerhin nach 40 Jahren haben wir den Absprung geschafft, 60 km davon entfernt.
    Bärbel

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