Frau Reinlich hat ein Problem

„Sagen Sie, Kindchen, Sie gehen doch sicher einkaufen.“
‚Kindchen‘ bin ich. Wäre ich ein Mann, hieße ich ‚mein Lieber‘. Ich bin manchmal nicht sicher, ob sie meinen Namen nicht weiß, oder ob das schon das Alter ist. Vermutlich Bequemlichkeit.
„Sicher, Frau Reinlich.“

Frau Reinlich lauert mir hinter ihrer Wohnungstür auf. Ziemlich regelmäßig. Wenn sie sich allein fühlt, lädt sie mich zu Kaffee, Likörchen und Klatsch über die Männer ein. Nachdem ein Herzanfall Herrn Reinlich über die Wupper schubste, beschloss seine Mathilde nämlich, dass sie sich im Witwenstand auch amüsieren dürfe. Seitdem besucht sie Tanztees in diversen Etablissements und ist beim Abschleppen durchaus erfolgreich. Ich kann das beurteilen, ich wohne nur ein Stockwerk über ihr, so dick sind die Wände nicht.
Wenn ich mal weg bin, gießt sie meine Blumen.

„Eigentlich wollte ich ja frischen Salat, aber den kann man ja nicht mehr essen mit all den Genen drin.“
„Wieso?“
Sie runzelt die Stirn.
„Kindchen! Gene machen krank! Sehen Sie nicht fern?“
Sie meint nicht wirklich Gene. Muss ich etwas sagen? Ich muss. Frau Reinlich glaubt dem Fernsehen.
„Gesunde Ernährung ist wichtig, Frau Reinlich.“
„Da war eine Frau im Fernsehen, die hat eine Wurmkur gemacht. Damit sie sauber ist. Die hat auch gesagt, dass es ganz wichtig ist, dass man sich gut ernährt.“
„Ohne Gene.“ Es rutscht mir so raus.
„Ohne Gene!“ Frau Reinlich strahlt.
„Und warum hat die Frau die Wurmkur gemacht?“
Worauf will sie denn heute hinaus? Ich verdrehe innerlich die Augen. Ich wollte schnell los. Eigentlich.
„Wegen ihrem Hund, Kindchen! Der hat sie angesteckt! Der hatte Würmer!“

Ach, daher weht der Wind. Letztens hatte Frau Reinlich für vierzehn Tage den Hund ihrer Tochter in Pflege. Verfressen, langhaarig, weiß, klein und natürlich zu fett. Der Arme, aber ich halt mich da ja raus. Bei unserem Sonntagskaffee hat sie den Hund von ihrem Teller gefüttert und mit ihm rumgeknutscht. Vermutlich hat er auch in ihrem Bett geschlafen. Mein Fall wäre das nicht.

„Warum machen Sie sich Sorgen, Frau Reinlich? Der Hund von Marlene hatte doch bestimmt keine Würmer.“
„Glauben Sie?“

Keine Ahnung, aber ich nicke. Aber irgendwas stimmt wirklich nicht, denn seitdem hat sie nicht nur die Gardinen gewaschen, den Teppichboden shampooniert und die Sofapolster zur Reinigung gegeben, seither läuft die Waschmaschine Tag und Nacht.

„Ist denn etwas nicht in Ordnung, Frau Reinlich?“
Sie will nicht mit der Sprache heraus.
„Wissen Sie, Kindchen“, gesteht sie schließlich, „ich hab da so ein komisches Jucken am Körper, das geht nicht weg.“
Flöhe etwa? Lieber Himmel. Hoffentlich war sie mit dem Vieh nicht in meiner Wohnung.
„Oh“, sage ich, „aber, Frau Reinlich, Sie haben in der letzten Zeit so viel saubergemacht, da hält sich doch bestimmt nichts.“
Es überzeugt sie nicht. Sie schüttelt den Kopf.
„Wo genau juckt es denn, Frau Reinlich?“

Sie guckt mich Hilfe suchend an und wird rot. Die Sekunden dehnen sich. Langsam wird mir klar, dass ich da wohl eine indiskrete Frage gestellt habe.

„Na ja, da unten eben, Sie wissen schon“, sagt sie plötzlich verschämt. Zur Generation Porno gehört Frau Reinlich nicht, noch nie, man muss auch für kleine Geschenke dankbar sein.
Hm. Ich überlege. Es gibt Dinge, die ich im Detail ganz bestimmt nicht wissen möchte, aber in mir keimt ein Verdacht. Als mein Verflossener, der Idiot, sich zum Teufel scherte, war das eines der spezielleren Geschenke, die er mir hinterließ. Genauer gesagt, war das sogar der Anlass.

„Frau Reinlich“, platze ich heraus, „entschuldigen Sie die Frage, aber hatten Sie zufällig in der letzten Zeit Herrenbesuch?“
Sie nickt überrascht.
„Und danach fing das erst mit dem Juckreiz an? So eher … unten?“ Wie fragt man eine Frau danach, die ungefähr das Alter der eigenen Mutter hat und sich schlimmer aufführt, Himmelherrgott?
Sehr dankbares, verschämtes Nicken. Ich schweige. Sie schweigt auch und schaut an mir vorbei ins Treppenhaus.
„Kindchen“, sagt sie dann mit schwacher Stimme, „ich wage ja gar nicht, Sie darum zu bitten, aber könnten Sie mir nicht dagegen etwas mitbringen? Ich lade Sie auch zum Essen ein.“

Tür zu, weg ist sie. Frau Reinlich hat mich reingelegt.
Ich soll also wirklich in der Apotheke ein Mittel gegen das, was der Idiot damals als ‚Sackratten‘ bezeichnet hat, kaufen und das süffisante Grinsen des Apothekers und seiner Mannschaft auf mich nehmen? Das glaubt mir doch keiner, dass das nicht für mich ist! Nicht mit mir. Soll sie doch ihren Herrenbesuch schicken!
Aber halt, mir fällt da was ein. Wenn dem so ist, weiß ich, was zu tun ist. Die Viecher sind doch sozusagen standorttreu. Sie bekommt ein paar Einmalrasierer aus dem Supermarkt von mir. Mit Gelstreifen. Und ganz großzügig eine Tube Rasiercreme.

Wenn sie ernsthaft Stress macht, muss ich eben meine Blumen verschenken.

 

medicine-1279553_640Quelle: Pixabay

 

Disclaimer: Liebe Kinder, bitte nicht nachmachen! Lernt Filzläuse erkennen (und das Wort aussprechen, ohne zusammenzubrechen) und geht in die Apotheke und holt euch was dagegen. Keinen Perubalsam. Und scheißt auf den Apotheker und was er denken könnte, die hören noch viel Schlimmeres.

Diese Geschichte entstand mal vor ziemlich vielen Jahren und hat es geschafft, nicht weggeschmissen zu werden, oh Wunder, sondern überarbeitet das Licht der Öffentlichkeit zu erblicken. Irgendwie fand ich, sie würde ziemlich perfekt zum Wochenthema des Mitmachblogs („Worüber man nicht spricht“) passen, wo ich sie eben reingestellt habe, aber natürlich darf sie auch hier in meiner Sammlung nicht fehlen …

 

38 Kommentare zu “Frau Reinlich hat ein Problem

  1. Herrjeh ja, worüber wir nicht reden wollen, was wir nicht zeigen wollen, was wohl die anderen denken … und noch immer werde ich von Verkäuferinnen gefragt, ob ich denn keine Tüte für die Slipeinlagen haben möchte, nein, möchte ich nicht!
    Ja, andere Generation habe ich früher gedacht, hat sich wirklich so viel verändert? ich fürchte nicht.
    Danke für die amüsante Geschichte und herzliche Samstagmittaggrüsse
    Ulli

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  2. Kenne ich bestens. Ich ärgere mich auch des öfteren über mich selbst weil mir dies und das peinlich ist. Zum Beispiel: ich bin ja gerade in einem Kurhotel. Was mache ich mit den Slipeinlagen, stehen die etwa im Bad, wo sie hingehörten ? Nein, die befördere ich in den Kasten damit die Zimmerfrauen sie nicht sehen. Reichlich blöd, aber ich tu es trotzdem.
    Unterhaltsame Geschichte von der Frau Reinlich und ihren Herrenbesuchen und dem Problem „da unten“

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  3. Liebe Christiane, dies ist eine wirklich amüsante Geschichte, obwohl mir als staalich geprüftem Langweiler manchmal der kleine Ekelfrosch im Hals stecken geblieben ist. Früher hat es dafür auch den Begriff „Oberschenkelantilopen“ gegeben, der irgendwie netter klingt 😉 Dir ein zauberhaft gesundes Wochenende 🙂

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    • Lieber Arno, vielen, vielen Dank für genau diese Rückmeldung, denn genau an diese Iiiiiiiiiiiiiiiiiih-Grenze wollte ich heran (und auch mit dem Begriff „Sackratten“ darüberschlagen). Ha, es hat geklappt, ich freue mich sehr!
      Sehr vergnügte (krabbelgetierabwesende) Grüße und dir ein wunderbares Wochenende!
      Christiane

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        • Ich kann dir nicht mehr sagen, woher ich ihn kenne, nur dass ich ihn schon sehr lange kannte und er sehr verbreitet zu sein scheint. Wohl aber glaube ich mich zu erinnern, dass die Idee für diese Geschichte von einem Mann stammte, der dem Problem auf diese Art begegnet ist …

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  4. Brrrr… Jetzt juckt’s mich überall, und ich habe das nur gelesen. Da bekommt unsere ‚Beobachtung‘ von heute früh gleich eine neue Bedeutung: Mitarbeiterin im Lebensmittel-Laden kommt vom WC ohne sich die Hände zu waschen und setzt ihre Arbeit fort.
    So. Ich geh jetzt nochmal Gemüse waschen. Hatte ich schon gesagt? Alles juckt! Brrrrr-iehhhhh-schüttel…

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    • *loslach* Tschuldigung! War nicht so gemeint!!
      Wie merkwürdig (und interessant), wo da bei jedem Einzelnen die Schwellen liegen, also die Ekel-Schwelle meine ich. Ich weiß nicht viel darüber, außer, dass sie unterschiedlich hoch sind, dass das auch eine gesellschaftliche Norm ist (was „eklig“ ist), dass Ekel uns vor Keimen schützt (wir finden es eklig, also fassen wir es nicht an, geschweige denn essen es) und dass sich nur ein Fünftel angeblich nach dem Toilettenbesuch überhaupt die Hände wäscht.
      Aber wenn ich jetzt weiter darüber nachdenke, dann juckt es mich auch. Wann hat eigentlich der Fellträger seine letzte Flohtablette bekommen? Hm … 😉
      Samstagabendgruß
      Christiane

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      • … bei mir Beide Gestern und aus gutem Grund… letztes Jahr hatte ich Flöhe und vorletztes Jahr Läuse von Tochter. Auf allem waren weiße Bettlaken und in der Apotheke hatte ich keinen nahe hinter mir nachdem ich mein Anliegen vorgebrachte 😂😂😂 Mega Geschichte Dankeeeeee

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      • Ich musste ja selbst fast lachen… Mit den Ekel-Schwellen ist das so eine Sache, das hängt sicher auch davon ab, wie nahe oder besser in welcher Beziehung man zu einem Menschen steht (also z.B. betreute Personen, Patienten, Kinder, Eltern etc.) und sicher auch Gewöhnung.
        Schwierig wird es, wenn dann neues ‚Getier‘ hinzukommt. Wir hatten mal eingeladen und als die Gäste kamen, teilten sie uns mit, die Kinder hätten eben Kopfläuse gehabt, das wäre aber frisch behandelt. Nun weiß ich schon, dass Läuse eigentlich kein konkretes Hygieneproblem ist, sprich: das kann jeden treffen, und dass eine Behandlung hilft aber frag nicht, wie lange es mich da gejuckt hat und welche Theorien wir hatten, wo überall die sich evtl. wohlfühlen… 😉
        Brrrr. Es juckt wieder…. Mit dem Fellträger sagst du was, ich werf ihn glaub jetzt erstmal raus.
        Einen gejuckten Sonntagfrühgruß an dich!

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  5. Ach, ach, ach, hoffentlich hört nun endlich bald dieses Lachen auf 🙂
    Was für eine niedliche Geschichte, liebe Christiane, von der Frau Reinlich mit dem Herrenbesuch *kicher immer immer noch ein bissel*
    Wie gut, daß Du sie aufgehoben hast. Mir gefällt sie wirklich sehr.

    LG von Bruni

    PS Ich kannte bisher nur den Begriff Filzläuse und davon spricht eine feine Dame halt nicht *kicher*
    Mich juckt es jetzt am Kopf, aber das muß Einbildung sein, denn Micki hat garantiert keine Flöhe mehr *g*

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    • Ich hab das eben schon erwähnt, Bruni, ich kenne den Begriff schon sehr lange und weiß nicht mehr, woher. Vermutlich habe ich ihn mir gemerkt, weil er so plastisch ist, so was setzt sich ja fest …
      Katzenflöhe und dies hier haben aber angeblich so rein gar nichts miteinander zu tun *lach*. Wie schön, dass es deinem Katzenkind gut geht!
      Liebe Grüße
      Christiane 😉

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  6. Die Ekelschwelle liegt bei „Ungeziefer“wahrscheinlich allgemein ziemlich niedrig und noch niedriger, wenn es sich am eigenen oder fremden Körper herumtreibt, egal ob Wanzen, Flöhe, Läuse, Zecken, Milben …..auch das Ungeziefer ist ja Natur und will leben, hat irgenwie auch seine Daseinsberechtigung nur: bitte nicht an mir! -:)))
    Das Sprechen darüber driftet leicht und meist in die Vulgarität ab, wie oft bei allem, was das Sexuelle anbelangt und da kommt wieder dieses Schamgefühl, das ich woanders ansprach, zur Geltung.
    Wenn ich kleinen Kindern, später den Jugendlichen in der Schule mit den richtigen botanischen (ich meine nicht die lateinischen) Worten erkläre, was sich da alles an Getier herumtreibt und wie ich dem, um nicht angesteckt zu werden, mit Hygiene begegne und wenn es passiert ist, was ich für mich und den anderen zu tun habe, dann könnte ich dieser Vulgarität begegnen….der Alltag sieht natürlich wieder ganz anders aus.
    Ich beneide keinen Lehrer, der dieses Fach unterrichten muß vor Halbwüchsigen, denn da können Traumata entstehen, die sich erst viel später auswirken.
    Warum setzt bei allem, was ins Sexuelle hineinspielt, so oft die Behutsamkeit, das Sprachgefühl aus…und ja nicht erst seit heute…..
    Mir ist bei der Sequenz aus dem Boot das Lachen im Hals stecken geblieben, denn eigentlich ist sie an Roheit kaum zu übertreffen und widerlich.

    Ich wünsche allen einen ungezieferbefreiten Sonntag und wenn nicht, dann:
    Fragen sie ihren Arzt oder Apotheker…oder die Nachbarin -:))))

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    • Warum die Behutsamkeit in der Sprache aussetzt: Hilflosigkeit. Überforderung, Angst, Abwehr. Eventuell auch alles zusammen, such dir was aus. Kommt auch drauf an, welche Möglichkeiten mensch selbst hat, und die wiederum erwirbt man sich über das Elternhaus, die Freunde, die Schule … Würden wir alle mit einem Problem nüchtern und sachlich umgehen (können), wäre die Welt besser, ich bin davon überzeugt.
      Sonntagsgrüße
      Christiane

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