Sternenwanderer | abc.etüden

Der Priester war fett, so unglaublich fett, dass es Merin jedes Mal ekelte, wenn sie ihn ansah. Aber sie musste ihn auch nicht mögen, er war nur der Mittelpunkt der wichtigsten Zeremonie ihres Lebens, zu der sich das ganze Dorf um das große Feuer versammelt hatte. Schon immer war das Sternenwandern ein Vorrecht ihrer Sippe gewesen. Seit ein paar Monden war sie endlich alt genug, nun war sie an der Reihe, hinauszugehen. Oder bleiben zu müssen, das Feuer würde es sagen.
Als er ihr gebieterisch winkte, legte sie ihm den kleinen Lederbeutel mit den seltenen schwarzen Steinsplittern in die Hand, die sie in den letzten Wochen auf ihren einsamen Wanderungen gesammelt hatte. Er warf die Bruchstücke auf die Blechpfanne, die seit Stunden auf dem Feuer stand und glühte. Ein fliederfarbener Lichtschein erhob sich plötzlich, die Umstehenden raunten beeindruckt, die Steine schienen zu schmelzen und färbten sich blutrot. Der Priester begann auf seinem Hocker gefährlich zu schwanken, als er die Augen so verdrehte, dass Merin nur noch die weißen Augäpfel sah. Mit einer Stimme, die sie noch nie von ihm gehört hatte, rief er schallend: „Merin, Sternenwanderer, wo ist dein Herz?“

 

abc.etueden schreibeinladung 10.17 4 | lzVisuals mit freundlicher Genehmigung von ludwigzeidler

 

Es gibt Wörter, die sind wie glatt geschliffene Kiesel, sie passen leicht und gefühlt für fast alles, man kann sie schleudern wie Würfel. Die dieser Woche (Sternenwandern, fliederfarben, Bruchstücke) sind dagegen anders, sie sind kantig und schillernd und wunderbar, und es sagt bestimmt etwas über mich aus, dass mein erster Schreibimpuls, der erste Satz, der mir in den Sinn kam (der letzte), in Fantasy-Richtung weist …

Schreibeinladung zu Kürzestgeschichten, 3 Worte in maximal 10 Sätzen, Woche 10/ 17, Gastgeber ist zum Glück wie immer der Herr hinter dem Textstaub, Wortspenderin die famose Frau Westendstorie.

 

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24 Kommentare zu “Sternenwanderer | abc.etüden

  1. Du Schnelle! Als ich deine Zeilen gelesen habe, dachte ich noch vor dem Ende, das ist ganz Christiane, die Fantasy so mag. Am Ende dann schreibst du es. Ist doch schön, dass wir uns hier im Blog schon ziemlich gut kennen. : )

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    • Ich hatte plötzlich diesen Satz im Kopf, den letzten. Und dann überlegte ich mir „nur“ noch, wer den gesagt haben könnte und warum. So macht Schreiben Spaß!
      Danke für dein Lob, ich hoffe, dass die Muse auch bald bei dir stoppt …
      Schönen Sonntag auch dir!
      Liebe Grüße
      Christiane

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  2. Ich rätsele nun sehr, liebe Christiane, wie ich den letzten, den ersten Satz, der sich Dir mitteilte, verstehen soll.
    Ist das Glühen der Steine für den Priester zu schwer zu verstehen? Oder meint er, Merin hätte ihr Herz für diese Steine verkauft und nun wäre es mit den schwarzen Steinsplittern verglüht?

    Bei Merin stutzte ich schon und dann kam es auch – eine Fastasygeschichte *lächel*. Damit hatte ich nicht gerechnet.

    Lieber Gruß von mir

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    • Liebe Bruni, was dieser Satz zu bedeuten hat, weiß ich ehrlich gesagt auch nicht. Er wollte nur, wie gesagt, gesagt werden.
      Ansonsten ist mit der Geschichte alles in Ordnung, die Steine haben offensichtlich getan, was sie sollten, und der Priester hat (in Trance, daher darf der Satz auch so nebulös bleiben, Konversation mit der Anderwelt halt) Merin als Sternenwanderin bestätigt. Mehr ist da nicht.
      Vergnügte Grüße
      Christiane

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