Rückwärtsgang | Adventsetüden

„… man haut ja auch nicht bei voller Fahrt plötzlich den Rückwärtsgang rein“, dozierte der alte Mann mit großer Gebärde und sah die fröstelnden Passanten auf dem Weihnachtsmarkt mit leicht zusammengekniffenen Augen an, „nein, man bremst ab, bis man steht, und wechselt dann den Gang, dann nimmt keiner dabei Schaden, nicht das Auto, nicht man selbst.“ Schneeflocken rieselten sachte herab und verfingen sich in seinem grauen Rauschebart, was ihn nicht weiter störte, er nippte vorsichtig an seinem Glühwein – mit Amaretto, denn er mochte es gern heiß und süß. „Aber nein, was passiert? Fünf vor Weihnachten kommen die Leute komplett im Stress nach Hause gerast, und dann soll husch, husch alles wie von selbst easy und feierlich sein!“ Er schnaubte und nahm lieber noch einen Schluck, bevor er sich ernsthaft aufregte.

„Früher“, brach es dann doch aus ihm heraus, „früher wussten die Leute noch, dass man keinen Schalter umlegt, um Feierlichkeit zu empfinden, dass das eine Zeit der innerlichen Vorbereitung braucht, deshalb hieß der Advent auch die stille Zeit. Aber heute, heute ist inzwischen alles, was sie können, sich volllaufen lassen – ja, das ist auch ein Schalter, nur fühlt man sich hinterher meist nicht heilig, sondern hat einen mehr oder weniger bösen Kater, was ganz sicher nicht im Sinne des Erfinders ist. Und schon schimpfen wieder alle auf Weihnachten, anstelle auf die Idee zu kommen, dass sie vorher die Heiligkeit hätten kurz trainieren können, ruhig hinsetzen, kein Handy, kein Fernseher, kein Computer, bloß paarmal zehn Minuten bisschen Kerzenschein oder Lichterketten und Musik und Klappe halten und so.“

Er winkte resigniert ab, schwankte ein bisschen und verschwand schließlich in der Menge, die seinen Blick sowieso schon befremdet gemieden hatte. Nur ein kleiner Junge drehte sich um und ihm schien es, als würde durch den jetzt stärker fallenden Schnee ein weiter, roter Mantel und ein prall gefüllter Sack auf dem Rücken des Mannes schimmern – aber das konnte ja nicht sein, oder?

 

2017 advent 2 lz | 365tageasatzadayVisuals: ludwigzeidler.de

 

Für die Adventsetüden, Woche 49 + 50 + 51.17: (mindestens) 3 Worte, maximal 10 Sätze. Meine Wörter stammen dieses Mal aus der Adventsetüden-Wörterliste und lauten: Glühwein, Kater, Kerzenschein, Lichterketten, Schnee, Stress, Weihnachtsmarkt.

Ja, doppelt oder nichts, wenn ich schon mal dabei bin oder so. Mein Vorweihnachtsstress reduziert sich gerade erheblich, ich hoffe auf eine recht ruhige Vorweihnachtswoche.

In eigener Sache: Ihr, die ihr dies lest, habt ihr schon Wörter gespendet für die Weihnachts-/Neujahrsetüden? Nein? Dann bitte husch, hier entlang! Danke!

Euch allen unverdrossen einen schönen 3. Advent!

 

23 Kommentare zu “Rückwärtsgang | Adventsetüden

  1. Ganz ungestresst heute die Krippe aufgebaut, nur noch ohne Kind, das zieht erst am Heiligabend ein. Glühwein mit Amaretto werde ich aber nicht versuchen, der soll dem Weihnachtsmann Deiner Geschichte vorbehalten bleiben, sonst habe ich morgen zwei Kater 🤔. Du bist eine Meisterin in Wendepunkten und sanftem Grummeln.
    Lass es Dir gut gehen und sei lieb gegrüßt, Karin

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    • Glühwein mit Amaretto kann ziemlich lecker sein, liebe Karin, solange man es schafft, nur einen davon zu trinken, was das größere Problem in meinen Augen ist.
      Mein Weihnachtsbäumchen (Schwemmholz) steht auch schon und leuchtet, das Engel-Orchester kommt erst zu Heiligabend.
      Danke für das „sanfte Grummeln“! 🙂
      Herzliche Grüße aus dem kaltsonnigen Hamburg
      Christiane mit Lufthunger

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  2. Eine sehr feine Geschichte, liebe Christiane, und ich bin auch dafür, daß die Hetzenden endlich mal ein bisschen Heiligkeit üben mit Kerzen und still sitzen.
    Mir fällt es leicht. Ich hab meine Lebkuchen gebacken und sonst fast nichts gemacht und das hat verdammt viel Spaß gemacht.
    Der kleine Junge hat richtig gesehen. Ich lese es auch heraus. Der Nikolausbrummbär wurde wohl schon scheel angesehen, aber machmal hilft so eine kleine Standpauke schon …

    Liebe Grüße von Bruni

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  3. tja, ich hatte heute meine Auszeit und sie tat sehr gut.
    Aber stressig darf ich meinen Alltag sowieso nicht mehr nennen 🙂
    Er war es mal und es machte mir sehr viel Spaß

    Liebe Gutenachtgrüße von Bruni an Dich und den Fellträger

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