Nachhauseweg | Weihnachts-/Neujahrsetüden

„Papa, weinst du?“ fragte der kleine Junge, als sie langsam in Richtung des Autos gingen. Der Mann schüttelte den Kopf, ließ aber für einen Moment seine Hand los, um sich die Nase zu schnauben. Mit dem anderen Arm hielt er eine Frau an sich gezogen, die offensichtlicher zwischen Weinen und Lachen schwankte.

„Tim, du hast gerade deine Eltern angeschrien und ihnen Hinterhältigkeit und Heuchelei vorgeworfen, und das alles für Finn und mich, bist du sicher, dass es das wert war?“

„Ach, Schatz, ich hatte doch heute Morgen schon versucht, es dir zu erklären, dass es jedes Jahr so ist“, nickte der Mann, „nach der Weihnachtsgans zum Mittagessen wird weitergetrunken, und nachmittags, wenn die erweiterte Familie zu Besuch kommt, haben oft beide schon Schlagseite, sagen alles, was sie sich sonst nicht trauen, und schaukeln sich hoch. Je nachdem, ob der Krawall mit meinen Onkeln ausartet, landet später gern schon mal einer in der Notaufnahme, nicht nur wegen Alkohol, deshalb bin ich so schnell weg mit euch, ich weiß, wie das ausgehen kann. Dir zu unterstellen, du hättest dich nur deshalb an mich herangemacht, damit ihr versorgt seid, war da noch relativ harmlos.“

Er sah sie zärtlich an und gab ihr einen schnellen Kuss, aber seine Stimme klang resigniert: „Jeder von meinen Brüdern hat ihnen schon Vorhaltungen gemacht und ich habe wenig Hoffnung, dass sich noch was ändert. Die ganzen Jahre habe ich den Schein gewahrt und ihre Sprüche irgendwie an mir abprallen lassen, Lieblingssohn und so, was übrigens auch gelogen ist, ich bin nur der Jüngste. Aber, mein Schatz, seit einem halben Jahr zeigst du, zeigt ihr beide mir, dass man auch anders miteinander umgehen kann, und ich verspreche dir, dass wir es wie meine Geschwister machen und uns die beiden nicht mehr antun – und ganz sicher nicht zu Weihnachten.“

 

2017 weihnachten neujahr 1 lz | 365tageasatzadayVisuals: ludwigzeidler.de

 

Für die Weihnachts-/Neujahrsetüden, Wochen 52.17 + 01.18: (mindestens) 3 Wörter, maximal 10 Sätze. Meine Wörter stammen dieses Mal aus der Weihnachts-/Neujahrsetüden-Wörterliste und lauten: Kuss, Heuchelei, Hoffnung, Notaufnahme.

Falls wir uns nicht mehr lesen sollten vorher: Rutscht gut rüber, ja?

 

51 Kommentare zu “Nachhauseweg | Weihnachts-/Neujahrsetüden

    • Eltern zu haben, die zu viel trinken, Probleme verursachen und völlig uneinsichtig sind, darüber spricht man so was von nicht.
      Mein Er schlägt den Weg seiner fiktiven Brüder ein und setzt sich (endlich) ab. Hast recht, ich wünsche ihm auch alles Gute, so was ist nie leicht, egal, wie berechtigt es ist …
      Auch dir Gutes!
      Herzliche Grüße
      Christiane

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  1. Eine wohl längst überfällige Entscheidung, die „er“ trifft, auch ich wünsche ihm und seiner nun neuen Familie viel Glück!
    Und dir auch ein gutes Hinüberkommen und uns weiterhin viel Freude und Inspiration miteinander,
    herzliche Grüße, Ulli

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    • Ja, längst. Manchmal braucht man etwas, was das Fass zum Überlaufen und damit die Dinge ins Rollen bringt.
      Auch dir alles Liebe, liebe Ulli, rutsch gut rüber dort auf deinem Berg, ich freue mich schon auf unser nächstes gemeinsames Blogjahr!
      Liebe Grüße
      Christiane

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  2. Ha, sehr schön, vielen Dank, ich war gespannt, ob und was du kommentieren würdest. Dass er weiß, dass das für ihn nicht so leicht ist, wollte ich durchschimmern lassen, deshalb eiert er, aber seine Brüder scheinen es ja schon vorgemacht zu haben, wie es geht, vielleicht bekommt er es auch hin, tauscht die Verantwortung für die Eltern gegen die für die Kleinfamilie – schon gut, sag nix. Und deswegen glaube ich auch nicht, dass er sich fragt, warum er was gesagt hat.
    Wenn allerdings die Beziehung in die Brüche gehen sollte, dann wird es sicher sehr schwierig für ihn. Aber es kann ja auch mal gut gehen.
    Ich vermute, dass für Philipp diese Reaktionen schlimmer sind oder waren als die Tatsache, die den Anlass gab, oder? Ich erinnere mich, dazu mal was bei dir gelesen zu haben …
    Liebe Grüße
    Christiane

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  3. So manches kommt an den Feiertagen ans Licht, weil es endlich mal nötig war. Wünschen wir allen, die das vielleicht real erlebt haben, eine wesentliche Kurve zu bekommen, in eine Richtung, die befreiend wird.

    Danke für den Anstoß und alles Liebe zum bevorstehenden Jahreswechsel,
    Anna-Lena

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  4. Ja, man fragt sich wirklich, warum manche Familien aus dieser üblen Dauerschleife nicht ausbrechen. Kopfschüttelnde Grüße von Elke (leider immer noch oder wieder krank, doofer Husten)

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    • „Tim“ war, meiner Recherche nach, ein Name, der in den Neunzigern stark im Trend war, da wird das mit dem Großvater bisschen knapp, denke ich.
      Wie heißt denn dann das Stichwort dazu, wenn ich schon mal am Fragen bin?

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      • Ich meinte „Suchtproblematik – Verhaltensweisen – von Generation zu Generation weitergeben“. Ich bin kein Kind alkoholkranker Eltern, aber mit Sicherheit war einer meiner Großväter (der vor meiner Geburt starb, meine Großmutter hatte sich deswegen scheiden lassen) schwerer Trinker, und ich weiß, dass auch der Familienzweig auf der anderen Seite nicht unbelastet war. Gerate ich also an Bücher über „die klassischen Alkoholikerkinder“-Probleme, spricht mich das nicht an, das kenne ich nicht. Dennoch ist da was mit Suchtstrukturen, und ich würde gern mehr den Finger drauflegen können.

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  5. Liebe Christiane, in meinem Blog habe ich mich offiziell ins neue Jahr verabschiedet. Als kleinen Silvestergruß und Dank an alle fleißigen Etüdenschreiber, habe ich mir eine Etüde ausgedacht – es sind wirklich klasse dramatische Wörter und schrieb sich mit Freude. Ich wünsche allen Silbeneleven, Wortjongleuren, Satz-Schmieden und Text-Meistern ein gesundes glückliches 2018. Ein besonderer Gruß geht an Herrn Textstaub, dem Kreatur des études belscripto.
    Alles Liebe von der Fee🧚‍♀️✨

    Kuss
    Heuchelei
    Notaufnahme
    Hoffnung

    ——

    Everloving

    Als ein Sengen blieb das Gefühl ihrer Schlangenhautlippen auf seinem Schuppenmund.
    Sie haben Blumenarrangements aus Rosen, Veilchen und Schleierkraut in die Schaukästen der Glas-Drehtür gestellt, durch die er das Krankenhaus verlässt.
    In der Notaufnahme hat ihr Herz ausgesetzt und ihr Kuss auf der Bahre im Krankenwagen war ein letztes warmes Ausatmen, eine letzte Lüge des Lebens wie eine mit Liebe gestrafte Hoffnung, die sich ausgeseufzt hatte.
    Sie versuchten tatsächlich gegen seinen Willen sie noch wiederzubeleben und er wollte schreien: “Hat sie denn immer noch nicht genug geleistet für Euch?“
    Ihr toter ausgemergelter sich aufbäumender Körper verlor die steife Würde des Todes im widernatürlichen Aufbäumen wie ein Delinquent auf dem elektrischen Stuhl und erst nach fünf unerträglichen Versuchen sie ins Leben zurück zu schocken inklusive Herzmassage ließen sie sie endlich in Ruhe.
    Es würde Nachrufe geben, Beileidsbezeugungen und all den riesengroßen Bohei, den ein Land veranstaltet, das um einen verdienstvollen Bürger und Menschen in allen Würden trauert.
    Sie war seine Königin und er blieb ihr treu ergebener Handlanger und Lakai im Hintergrund und ihr letzter tiefer Blick galt ihm und das sollte nach siebzig für das Land verdienstvollen Jahren ohne nennenswertes Privatleben sein einziger Trost sein?
    Er fasste an sein verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk schlagendes Herz, dann draußen vor der Tür, sog er den hellen warmen Sonnenschein tief ein und zog bedächtig die ihm zu seinem Fünfundsiebzigsten von ihr in einem mit schwarzem dicken samtausgekleideten Kasten überreichte 1815er-Modell der aus Sachsen stammenden A.Lange&Söhne-Uhr auf, die er an einem schlichten rehbraunen Lederarmband an seinem rechten Handgelenk trug.
    Auf der Rückseite der Uhr befand sich eine Widmung in ineinander wie Liebenden verschlungenen Worten eingraviert: „For ever yours, in deep Love, M.“
    Doch er verzieh ihr auch diese Heuchelei wie er ihr noch immer alles verziehen hatte, das sie ihm aus falsch verstandener Liebe und Unwissenheit angetan hatte.

    —-

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    • Eine wahrhaftige Feuerwerksetüde, liebe Fee, bunt und funkelnd und todernst und voller großer Gefühle … vielen Dank dafür!
      Ich habe deine Etüde zur Schreibeinladung verlinkt (bei meiner Etüde in den Kommentaren ist nun wirklich nicht der richtige Platz dafür), möge sie noch von vielen gelesen und bewundert werden, dem Etüdenerfinder inklusive!
      Herzliche Grüße, alles Liebe, rutsch auch du gut ins neue Jahr!
      Christiane

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  6. Ein schwieriges Kapitel, liebe Christiane, Du hast sehr geschickt eine relativ kurze Geschichte daraus gemacht.
    Ich habe eine Alkoholikerin erlebt, meine Schwiegermutter, die damit auch sehr verschwiegen umging und als sie starb und die Wohnung aufgelöst werden mußte, da wurde es offenbar… Das, was ich nie verstand, löste sich in den vielen vielen leeren Flaschen, die mal mit Klarem gefüllt waren…
    Eine liebe Frau, die sich urplötzlich höchst seltsam benahm, boshaft und spitzfindig wurde und ich konnte mir nicht erklären, wieso sie scheinbar zwei Persönlichkeiten hatte.
    Sie starb vor sehr vielen Jahren an Leberzirrhose

    Liebe Grüße von Bruni

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    • Ja, es ist nicht leicht, ganz sicher nicht. Wobei ich auch Leute kannte, die auch ohne Alkoholeinfluss echt bösartig sein konnten 😦
      Für Frauen war das ja noch undenkbarer als für Männer damals. Eine schlimme Geschichte, liebe Bruni.
      Liebe Grüße, unverdrossen, und rutsch du gut rüber ins neue Jahr, falls ich es dir noch nicht gewünscht habe!
      Christiane

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  7. Die hat Zug, die Geschichte 👍 Leider gibt es so viele Spielarten von Weihnachtszwängen, denen man sich – scheinbar – nicht entziehen kann, wobei die meisten nur nervig sein mögen, was für diese Situation natürlich nicht gilt. Umso mehr sei es deinem Protagonisten gewünscht, dass er sich dem im nächsten Jahr wirklich entziehen kann.
    Ich wünsche dir einen guten Start ins neue Jahr 🙋

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  8. Nach dem leidigen Hausgewerkele las ich Deine Geschichte, formidable Beziehungsaufzeigegeschichte mit Enkelerzählwert. Wo noch Zeit für schnelle zärtliche Küsse bleibt, kann die Liebe noch nicht weit weg sein, sondern erinnert sich nah und sie mahnt in genau diesen kleinen wie beiläufigen liebevollen Gesten: Es ist noch nichts verloren solange man voneinander etwas wissen will und auch weiß warum. Das las sich sehr schön, dieses offene erkennende Miteinander. Heute Morgen setzte ich mein Etüden-Textchen prompt falsch – ich bin einfach manchmal zu versackpieft um was richtig zu blicken. Ich bin gespannt, dieses Jahr hast Du erzähltechnisch tüchtig Gas gegeben… 👌Bis bald sagt die Fee🧚‍♀️✨

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    • Ja, dieses Jahr war das Etüdenjahr, blogtechnisch gesehen, das ist wahr. Wobei ich die etwas längeren Sachen, die ich davor geschrieben habe, auch immer noch sehr schätze.
      Bis bald, gern!
      Christiane

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  9. An längeren Sachen üb ich mich auch… das ist ein Fulltime-Job.😉

    Ich mag diese ernsten Themen, wie Alkoholsucht in der Familie. Es ist gut, wenn die Kinder wie Tim oder seine Brüder diesen Teufelskreis aus oftmals von Eltern an Kinder übertragene und weitervererbte Süchte, Traumata und falscher Verhaltensweisen zu durchbrechen schaffen, darum so tröstlich Deine Erzählung. Wie sagte Oscar Wilde: Freunde kann man sich aussuchen, Verwandte hat man und der hier ist auch von ihm: Ich liebe meine Verwandten – aus der entsprechenden Entfernung…
    🤗
    Komm gut ins neue Jahr…✨🧚‍♀️

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