Versiegelt | abc.etüden

Sie sah auf den Handzettel, den ihr die junge Frau am Ausgang der U-Bahn routiniert in die Hand gedrückt hatte: Parkettversiegelung. Was für ein Mist, wen kümmerte so was schon, es war doch egal, alles war egal, seit … ja, seit.

Jeder Tod kommt immer zu früh.

Ihr ganzes Leben war seitdem versiegelt, das war ein gutes Wort dafür. Sie hatte nicht mehr weinen wollen, hatte den Kummer nicht ausgehalten, da waren das Lachen und alle anderen Gefühle gleich mit auf der Strecke geblieben.

Wie jeden Tag bog sie auf ihrem Heimweg auf den sonnenbeschienenen Weg durch den Park ab und sah es plötzlich zum ersten Mal in diesem Jahr durch die Luft torkeln und flattern. Rötlich braun, das war doch … ein Pfauenauge, ein Kleiner Fuchs, ein Admiral … und die, die sie einst die Namen der Schmetterlinge gelehrt hatte, die konnte sie nun nicht mehr fragen.

Sie stockte, als der Schmerz brüllend mit Messern auf sie einstach, aber sie nahm ihn hin, akzeptierte, wie verlassen und klein sie sich fühlte, gestattete sich eine Träne und fühlte sich in ihrer Trauer von der Sonnenwärme umarmt und gehalten.

Aus ihrem in sich gekehrten Dahinhasten war ein schon fast gemütliches Schlendern geworden. Und zu Hause würde sie ausprobieren, ob dieser Handzettel Papierfliegerqualitäten aufwies.

 

2018_11_1_eins lz | 365tageasatzadayVisuals: ludwigzeidler.de

 

Für die abc.etüden, Woche 11.2018: 3 Worte, maximal 10 Sätze. Die Worte stammen in dieser Woche von Natalie aus dem Fundevogelnest und lauten: Pfauenauge, versiegelt, schlendern.

Und vielleicht, wer es noch kennt, so als Lied für den Tag …  😉

 

 

 

37 Kommentare zu “Versiegelt | abc.etüden

  1. Ja, so kann sich das anfühlen. Wenn Trauer nicht zugelassen wird. Es kann Jahre dauern, zu den Gefühlen zurückzufinden, und nicht jeder Mensch schafft es ohne Hilfe. Eine zutreffende und trotz allem optimistische Schilderung, liebe Christiane! Danke dafür.

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  2. Trauer hat viele Gesichter und wann sie einen wieder einnimmt und wodurch das ist immer wieder ungewiss – alles hat seine Zeit, sagt man, aber kann Trauer wirklch je aufhören oder ist es nur, dass sie mit der Zeit nicht mehr so „sticht“?
    Dank für deine Etüde, die am Ende eine gute Leichtigkeit findet, dazu das Lied … den Luxus gönne ich mir mittlerweile immer wieder gerne und kostet nix!
    herzlich grüße ich dich, liebe Christiane, Ulli

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    • Das finde ich eine gute Frage. Aus meiner Erfahrung heraus sage ich, dass Trauer irgendwann aufhört, ja, aber das Vermissen nie – aber sogar das schwächt sich irgendwann ab. Aber vielleicht müssten wir dazu klären, wie wir Trauer definieren. Ist „Trauer“ und „traurig sein, weil ein geliebter Mensch nicht mehr da ist“ dasselbe?
      Herzliche Grüße zurück
      Christiane

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      • Die erste Trauer ist von einem so intensivem Schmerz (meine Erfahrung), dass ich sie vom Traurigsein unterscheide, aber manchmal kann mich eben dieser Schmerz, wenn auch in abgeschwächter Form, wieder erwischen … und manchmal bin ich einfach traurig, weil ein geliebter Mensch nicht mehr hier ist…
        liebe Grüße, Ulli

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        • Ja, okay, verstehe ich. Aber ich, wenn ich an meinen eigenen Schmerz (in dieser deiner Defintion) denke, der wird über die Jahre schwächer und seltener. Allerdings, bei mir, über wirklich viele Jahre, nicht zwei, drei oder fünf.
          Herzlich zu dir
          Christiane

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    • Danke!
      Das Lied sprang mir in den Kopf, als ich Assoziationen zu „schlendern“ suchte. Ich vermute, dass ich die Platte irgendwann mal ziemlich häufig gehört habe, hach, lang ist das her … 😉
      Liebe Grüße
      Christiane

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  3. Ich sitze hier und schlucke, zumal ich heute Abend vom (erwarteten) Tod einer lieben Freundin erfahren habe 😦 .

    Ich steige bald etüdenmäßig wieder ein, in dieser Woche habe ich es wieder nicht geschafft, obgleich das Internet jetzt stabil ist.
    Macht ja nix!

    Fühl dich gedrückt, liebe Christiane ❤ ,
    Anna-Lena

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    • Ach Mensch, verdammt. Das verschlägt mir gerade die Sprache. Und dann so was. Mist.
      Die Etüden sind Kür, nicht Pflicht. Komm einfach wieder dazu, wenn dir danach ist, ich hoffe, bald.
      Sei umarmt, du auch ❤
      Christiane

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  4. Eine schöne leise Geschichte. Trauer ist so unberechenbar, finde ich. Einen Tag bricht man wegen der minimalsten Assoziation in Tränen aus, dann fühlt man gar nichts, dann ist da eher Wut , dann ist die Trauer ein kleines vertrautes Haustier,dann wieder ein Riesenmonster …
    – und ein Ratgeber der Zeitvorgaben macht, ist wohl ein schlechter
    Natalie

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    • Ein Monster mit vielen Gesichtern. Genau das ist es.
      Mir tun nur all die Leute leid, die denken, sie müssten irgendwie empfinden, weil man das so tut.
      Schwieriges Feld, aber Alleinsein mit seinem Kram ist auch nicht gerade einfach.
      Abendgruß
      Christiane

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  5. Eine gute Geschichte, liebe Christiane
    Ich denke, Trauer ist sehr individuell und Zeitvorgaben für Trauer kann ich nicht ernst nehmen.
    Ich finde es so schön, daß Du SIE am Ende schlendern läßt, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie die lange Trauer endlich überwinden konnte
    Herzlichst, Bruni

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    • Ich weiß nicht mal, ob „überwinden“ das richtige Wort ist, liebe Bruni. Sie macht einen ersten Schritt, etwas bricht wieder auf, sie lässt es zu und erfreut sich an den „Randerscheinungen“: Schmetterlinge, Sonne, der Gedanke an Papierflieger, der für die meisten ja auch vermutlich mit der Kindheit verbunden ist.
      Sie schlägt den Weg zur Heilung ein, so nenne ich das.
      Morgengrüße aus der durchstürmten Stadt im Norden
      Christiane

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      • auf jeden Fall wird ihr Blick wieder offener für das, was sie umgibt, sie igelt sich nicht mehr ein und nimmt wahr
        Ein guter neuer Beginn

        Regenstürme, Schneestürme, liebe Christiane?
        Hier ist es eisig und in der Wohnung am schönsten.
        Nach gut zwei Stunden im Freien wollte ich nur noch ins Warme.

        Liebe Wochenendgrüße an Dich von Bruni

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