Der Enkel | abc.etüden

„Pfiffiküsschen, komm her und gib Oma ein Küsschen!“ So entstehen lang anhaltende Abneigungen gegen Wörter – „Pfiffikus“ stand auf seiner Liste konkurrenzlos ganz oben. Zuerst hatte er die Knutschanfälle seiner Oma noch über sich ergehen und sich tätscheln, herzen und küssen lassen, aber später hatte er immer öfter und immer lauter „Bäh!“ geschrien und war weggerannt, sobald sie sich näherte. Dass das seine Oma traurig machte, hatte er wohl bemerkt, auch, dass seine Mutter „Ach, lass ihn, in dem Alter sind sie alle so!“ gesagt hatte, aber er konnte es nun mal einfach nicht aushalten, dieses weiche, weiße Fleisch, diese Umarmung, in der er versank und keine Luft bekam, dieser Geruch nach Waschmittel, Deo und alternder Frau, überdeckt mit Parfum …
Sie hatte tapfer gelächelt und ihm verkündet, dass er ihr Lieblingsenkel sei, was auch immer er anstellen würde. Inzwischen war er selbst nicht mehr jung, aber diese Ansage hatte die Jahre überdauert.
Und nun war sie tot.
Nie wieder würde seine Lieblingsoma auf ihrer bequemen Chaiselongue liegen, noch traumverloren die Augen aufschlagen und dann lächelnd „Na, Pfiffiküsschen, soll ich uns einen schönen Kaffee machen?“ sagen.
Er saß neben ihr am offenen Sarg und verlor sich in Erinnerungen. Etwas berührte seine Hand, dann noch einmal, und als er hinabsah, bemerkte er erst, dass er weinte.

 

2018_24_2_zwei lz | 365tageasatzadayVisuals: ludwigzeidler.de

 

Für die abc.etüden, Woche 24.2018: 3 Worte, maximal 10 Sätze. Die Worte stammen in dieser Woche von Bernd von Red Skies over Paradise und lauten: Pfiffikus, traumverloren, tätscheln.

 

22 Kommentare zu “Der Enkel | abc.etüden

    • Ja, ganz sicher. Aber bei den beiden aus meiner Geschichte sehe ich kein „zu spät“.
      Er mag es ja hassen, wie sie ihn nennt, aber er hat sie offensichtlich öfter als einmal aus ihrem Nachmittagsschläfchen geweckt … und das bestimmt nicht unfreiwillig.
      Liebe Grüße
      Christiane

      Gefällt 2 Personen

  1. Danke für dieses Kleinod. Ich bin berührt. Dass aus dieser Wortspende etwas wird, das Emotional zu meinem eigenen, entfernt Erlebten, passt, freut mich. Liebe Grüße, Bernd

    Gefällt 1 Person

  2. Huhu, liebe Christiane, deine Etüde würd ich gern im Totenhemd-Blog veröffentlichen/rebloggen wenn Du OK gibst. Sehr schön geschrieben übers Pfiffiküsschen.

    Schönen ABend. Herzlich. PEtra

    Gefällt 1 Person

  3. Hat dies auf Totenhemd-Blog rebloggt und kommentierte:
    „Pfiffiküsschen, gib Oma ein Küsschen“, ist das nicht herrlich? Christiane hat es mit ihrer Etüde auf den Punkt gebracht bzw. ins Gefühl. Es blitzte sofort etwas in mir auf … ein Gedanke, eine Geste, ein Lächeln, Omas Hände.

    Meine Oma hat zwar nicht Pfiffiküsschen zu mir gesagt dennoch fehlt etwas seit ihrem Tod, der schon lange her ist.

    Nach dem Tod eines lieben und nahen Menschen fehlt immer etwas was diesen und die Beziehung miteinander ausgemacht hat. Diese Lücke ist nie zu füllen. Deshalb wollte ich Christianes schöne Etüde rebloggen und Euch zum Lesen schenken.

    Habt Ihr auch so einen Erinnerungsblitz, wenn Ihr die Geschichte lest? Ihr dürft auch ruhig ein wenig traurig werden …

    Like

  4. Pingback: Der Enkel | abc.etüden | Totenhemd-Blog

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.