Leiche im Keller | abc.etüden

Sie war eine, die immer auffiel, sei es, weil sie in der Schule rebellierte, sei es, weil sie der unangefochtene Star bei so Mädchenkram wie Voltigieren war; sie konnte sich das leisten und kam damit durch. Jahrelang hatte sie geglaubt, hinter dem Kopfschütteln, mit dem sie oft betrachtet wurde, stecke Mitleid. War sie denn nicht das arme Kind, dessen Mutter bei der Geburt gestorben war, aufgezogen von der Oma und ihrem fast abgöttisch geliebten viel älteren Bruder? Dass die reichen Familien ihren Töchtern den Umgang mit ihr verboten, während die Jungs ihr nachstellten, lag es doch an etwas anderem als an ihren zurzeit gerade giftgrünen Haaren?

„Die Schnepfen denken, dass du asozial bist, weil keine von denen weiß, wer dein Vater ist“, bemerkte ihr Bruder eines Abends, als sie sich lautstark über die Ungerechtigkeit beklagt hatte.
„Sag jetzt nicht, du weißt es?“ fragte sie routinemäßig genervt zurück und erstarrte, als sie ihn nicken sah.
„Irgendwann musst du es ja erfahren. Ich bin nämlich dein Vater“, antwortete er schließlich zögernd, „ich kann dir Brief und Siegel darauf geben. Aber bevor du mir jetzt mit Darth Vader, dem Ödipuskomplex oder so einem Scheiß kommst, werde ich dir was sagen, was dich ziemlich sicher umhaut und worüber du bitte zuerst nachdenkst: Ich habe ihr gewünscht, dass sie an dem verreckt, was sie mir – und damit auch dir – angetan hat, unsere sogenannte Mutter. Liebe war das nicht.“

 

2018_25_1_eins lz | 365tageasatzadayVisuals: ludwigzeidler.de

 

Für die abc.etüden, Woche 25.2018: 3 Worte, maximal 10 Sätze. Die Worte stammen in dieser Woche von Myriade und lauten: Ödipuskomplex, giftgrün, voltigieren.

Ähm, ja. Böse Wörter zeitigen böse Etüden. Jedenfalls manchmal.

 

35 Kommentare zu “Leiche im Keller | abc.etüden

  1. Für dich nicht (harter Tobak), für andere vielleicht schon. Wahr ist, dass es das gibt. Über den Umfang von Hilfsangeboten weiß ich nichts, kann mir aber gut vorstellen, dass die sich eher auf die umgekehrte Situation beziehen.
    Liebe Grüße
    Christiane

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      • Ich vermute/denke/gehe davon aus, dass das Sprechen über missbrauchende Mütter einem noch stärkeren Tabu unterliegt als über missbrauchende Väter, liebe Gerda. Gut, körperlicher Missbrauch ist vermutlich wirklich seltener, bei emotionalem bin ich mir ganz und gar nicht sicher – Kinder als Partnerersatz, das gibt es oft.
        Danke für dein Lob *stolzguck*!
        Liebe Grüße
        Christiane 😉

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    • seelischer Missbrauch? Zweifelsohne! das ist schon fast die Regel in Gesellschaften, in denen Frauen als Ehefrauen keine, dafür aber als Mütter von Söhnen sehr große Bedeutung haben. Die Folge: Sehr viele Frauen binden ihre Söhne lebenslang an sich und werten andere Frauen als mögliche Partnerin des Sohnes ab. Das muss gar nicht mal offen und bewusst geschehen, es reichen die Signale (Frust, Trauer, Krankheit der Mutter), um den Sohn seelisch zu verkrüppeln. Diese Form des Missbrauchs gibt es natürlich auch bei Vätern und Töchtern.
      Der Ödipuskomplex führt ja im seltensten Fall zu Mord und Inzest, er wütet meist nur im Seelenfeld. Ein großes Thema.

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      • Ein großes Thema. Gehört unsere Gesellschaft da für dich dazu? Vielleicht, wenn die Täterinnen vor/im/relativ kurz nach dem Krieg geboren sind, oder? Also mehr ein „Kriegsenkel“-Thema?
        Ich bin in den letzten Jahren häufiger Gast bei Aufstellungen. Das sind in der Regel verdeckte Aufstellungen, das heißt, man weiß nicht, worum es geht, aber ich habe wirklich oft mitbekommen, dass Kinder die Erwachsenenrolle einnahmen/einnehmen mussten, und dass die Lösung oder ein Teil der Lösung darin bestand, diese Strukturen aufzulösen …

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    • Kriegerwitwen und deren Söhne gehören dazu, sicher. aber in der deutschen Gesellschaft ist das Problem nicht endemisch, ist den Grundstrukturen nicht inhärent, da die Frauen sich inzwischen als Frauen und gleichberechtigte Partnerinnen grundsätzlich ausleben können. Insofern ist es auch möglich, mitgeschleppte ältere Strukturen aufzulösen. Der Missbrauch ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Bei Menschen aus anderen Kulturkreisen, bei denen die Frauen weiterhin ihren gesamten Wert aus dem Besitz eines Sohnes ziehen, ist das anders.

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      • Jupp, an die anderen Kulturkreise dachte ich als Erstes, deshalb habe ich gefragt. Wobei ich mich immer noch an meine Kindheitsfreundin erinnere, die ganz klar weniger wert war, weil sie ein Mädchen war. Heute tut mir auch ihr Bruder leid.
        Na ja, anyway. Danke dir!

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    • Da stimme ich dir zu. Das abzutun, nur weil man sich dann besser fühlt, hilft den Betroffenen kein Stück weiter, für die es Alltag ist.
      Danke dir, dass du Anlaufstellen nennst.

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  2. Die Tatsache, dass es so etwas wirklich gibt, lässt mich schaudern… aber so sind sie eben, die Etüden: bunt wie das Leben.

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    • Genau, in den Etüden darf alles seinen Platz finden, solange es in 10 Sätzen passiert … okay, nein, nicht alles, es gibt Etüden, die würde ich nicht freischalten/zulassen. Aber bei unserem jetzigen Kreis Mitschreibender wird das eh nicht vorkommen, denke ich.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  3. Liebe Christiane, heftig, ja! Aber es gäbe das Wort Ödipuskomplex nicht und die damit verbundene Mythologie, wenn es nicht auch die dazugehörende Unsäglichkeit gäbe. Noch immer wird wenig über missbrauchende Mütter an ihren Söhnen gesprochen/geschrieben, leider ist aber auch das eine Facette des Lebens, du hast das gut auf den Punkt gebracht!
    Hrzliche Grüße, Ulli

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    • Ja, wird es, ich kannte einen Fall, wo es zumindest heftigster emotionaler Missbrauch war, möglicherweise mehr. Ich habe auch die Mutter dazu kennengelernt: gruselig; und das sage ich selten.
      Herzlich zurück
      Christiane

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  4. *schluck* Die Überraschung hast du sehr gut hingekriegt ! Immer wieder erstaunlich, was in so einem kurzen Text alles geht. Bin gespannt auf deine Nr.2 in dieser Woche

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    • Ja, denke ich auch immer wieder, wenn ich die Universen lese, die andere mit so wenigen Sätzen umreißen. Echt erstaunlich.
      Ich habe keine Ahnung, ob mir diese Woche noch eine zweite Etüde gelingt, mich hält der Ödipuskomplex ziemlich gefangen und es widerstrebt mir für mein eigenes Schreiben eigentlich, ihn völlig zu verharmlosen, egal, wie elegant ich das bei anderen finde. Mal sehen.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  5. Die üblichen Verdächtigen sind gemeinhin die „böse Schwiegermutter“ oder die „böse Stiefmutter“ bzw. der „böse Stiefvater“ oder allgemein der „böse Onkel“. Das das Thema so tiefgreifend ist, hätte ich nie gedacht und bin total erstaunt über die Zahlen. Danke für die Erhellung!

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    • Neeee, Werner, da ist eine Menge an dir vorbeigezogen. Das Thema ist böse und tief, und meine Etüde streift es nur oberflächlich.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  6. Genial, liebe Christiane, wie Du den Ödipuskomplex mit eingebaut hast.
    Eine gute Geschichte, die etwas streift, was keiner für möglich hält, aber es geschieht und wir wissen es alle, Mütter sind nicht unbedingt edel, nur weil sie Mütter sind…, und manchmal ist die gute Mutter auch eine, die andere, verborgene Seiten hat.

    Liebe Grüße von Bruni

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    • So ist das, Bruni, es geschieht, und es geschieht oft. Die dergl hat einen Link dazu angehängt, wo Zahlen genannt werden, es ist viel mehr, als man denkt. Einzelfälle sehen anders aus.
      Liebe Grüße
      Christiane

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