Heulen gilt nicht | abc.etüden

Jetzt liefen doch Tränen. Evi starrte auf den Karton hinab, der ihr Erbe enthielt. Es waren zwei Ringbücher mit handgeschriebenen Rezepten, sie wusste es genau, Aktenordner mit Zeitungsausschnitten und diverse Backformen.

Als Kind war sie quasi bei Oma Gerlinde in der Küche groß geworden. Mama arbeitete abends oft lang, vor allem, seit Papa weg war und sie in das Haus zu Oma und Opa Friedrich gezogen waren.

„Du wirst ja wohl auf das Kind aufpassen können, wenn ich Dienst habe!“ Nicht die allerbesten Voraussetzungen für Enkelin und Oma, die sich jedoch bald stillschweigend darüber einig wurden, wie man das erzwungene Beisammensein erfreulich gestalten konnte. Als Oma Gerlinde sich auf dem Dorf gelangweilt hatte, war sie nämlich nicht davongerannt, sondern hatte ein Talent genutzt, um unter Leute zu kommen: Backen. Sehr schnell lud man sie zu Dorffesten oder im Freundes- und Verwandtenkreis nur noch mit ihrem aktuellen Lieblingskuchen ein. Fortan wirbelte Oma Gerlinde durch die Küche und erschuf am Band phantasievolle, wohlschmeckende Kalorienbomben. Und wenn sie das nicht tat, durchforstete sie die Zeitschriften nach interessanten Rezepten. Es dauerte nur kurz, bis Evi es ihr nachtun wollte, und etwas länger, bis sie nicht mehr davon lassen konnte.

Okay, sie hatte später andere Wege eingeschlagen. Ob „Das große Backen“, „Tortenschlacht“, „Deutschland sucht den Superkuchen“ oder wie auch immer, mit dem Wissen, dass ihre Oma ihr die Daumen drückte, hatte sie sich in die richtig mondänen, aufgemotzten Shows getraut. Alles war ein großer Spaß gewesen. Bis der Anruf gekommen war.

Der Karton wurde schwer in ihren Armen. Waren dies Fußstapfen, in die es zu treten galt, eine Pfründe, die zu sichern war? Auf jeden Fall war dies ihre Vergangenheit, ein Schatz. Erinnerungen. Liebe.

Sie wischte sich entschieden die Tränen ab. Heulen galt nicht. Der Tag verlangte nach Apfeltorte mit Tiramisu. Weinen konnte sie später.

 

2018 43+44 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung: ich

 

Für die abc.etüden, Woche 43/44.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Bernd und lauten: Pfründe, mondän, lassen.

 

32 Kommentare zu “Heulen gilt nicht | abc.etüden

    • Ja, was wären wir ohne! Aber diese Etüde ist nicht sehr autobiographisch; ich habe Karin weiter unten dazu was geschrieben, falls du schauen magst.
      Liebe Grüße
      Christiane, heute mit Feiertag

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  1. Großeltern mit ihren Begabungen und die Erinnerung daran sind oft eine wunderbare Mitgift für’s eigenen Leben, ich habe das an meinen Cousinen in der DDR erlebt; ich habe sie nicht, weil sich meine Erinnerung an sie auf wenige Besuche beschränkte, die Mauer trennte uns; übrig blieb später nur die Tante und deren Kinder, die mir aber auch fremd blieben. Einen Teekessel vom Opa väterlicherseits und von der kleinen Oma mütterlicherseits, die 3 Generationen groß zog , blieb mir eine Schürze, die ich mir erbeten hatte, viele umhäkelte Taschentücher, sie selber waren, obwohl sie in eigenen Häusern wohnten, mehr oder minder besitzlos. Es war die Zeit der vielen Paketsendungen nach Thüringen, die meine Elten und ich als Selbstverständlichkeit betrachteten und sie nicht mit Billigprodukten füllten. Was habe ich mich immer Weihnachten auf die liebevoll von der Oma gebackenen Plätzchen gefreut. Daher kenne ich auch keine gemeinsamen Jahresfeste.
    Wehmut kommt auf beim Lesen Deiner Geschichte, liebe Christiane

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    • Das kenne ich auch, liebe Karin: Vorfreude auf die Pakete aus der DDR, wo damals noch beide Omas lebten. Und auch wir haben Pakete über Pakete zur Post geschleppt, speziell zu Weihnachten und den Geburtstagen …
      Eine meiner Omas kochte gut, und meine Mutter hatte ein Händchen fürs Backen, aber diese Geschichte ist an die Nachbarin meiner Kindheit angelehnt, die das Haus eigentlich oft (nicht meist) mit einem oder mehreren Kuchen verließ. (Sie sah auch so aus.)
      Ich habe allerdings tatsächlich die Back-Ringbücher meiner Mutter noch, und auch die Backformen, die zuverlässig ihre Arbeit verrichten, auch wenn sie jetzt wesentlich weniger in Benutzung sind, denn alles andere an meiner Etüde war erfunden.
      Liebe Grüße in deinen Morgen
      Christiane mit Feiertag, hach!

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  2. Die Illus für ein Backbuch als Bachelorarbeit! Tolle Idee. Selbst wenn sie von Böhmermann verhackstückt wird. Aber auch das Nachbacken ist klasse. Danke für den Fund!
    Liebe Grüße
    Christiane

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  3. Oh, und was haben wir uns (in Rumänien) über die Pakete aus Deutschland gefreut! Das war wie Weihnachten und Geburtstag zusammen. Sie kamen nie zu den Feiertagen, weil der Anlass immer eine Hochwasserkatastrophe war (wir hatten regelmäßig sowas), als deren Folge die sehr hohen Zölle aufgehoben wurden. Sonst hätten wir für die Pakete mehr bezahlen müssen als sie unsere Schenkenden gekostet hatten (und als wir hätten aufbringen können). Da wir persönlich von den Katastrophen nie betroffen waren (unser Haus lag auf einem Berg), waren das keine echten Hilfssendungen, zumindest nicht für uns. Es waren auch nur selten Lebensmittel drin (Öl, Pralinen, Haferflocken …), dafür immer gut erhaltene Kleidung. Wir suchten uns aus, was uns passte, ließen dann unseren Freundinnen und Nachbarinnen, Freunden und Nachbarn die Wahl und brachten den Rest ins Pfarramt, wo sie von Leuten abgeholt werden konnten, die keine Angehörigen im reichen Ausland hatten.
    Ja, und die Rezepte von meiner Oma und meiner Mutti habe ich auch noch im Ordner. Er ist mit „Rezepte von Oma“ beschriftet, und ich werde ihn mit genau dieser Beschriftung an meine Enkelin weiterreichen. Nicht weil sie ein Mädchen ist, sondern weil sie die Älteste ist. Der Enkel bekommt eine Kopie. Ich ergänze nämlich den Ordner durch eigene Lieblingsrezepte, trotz und auch mit Hilfe von „chefkoch.de“ und Konsorten.
    In Sachen Weinen: Auch das kenne ich. Bei mir heißt es: „Nicht weinen, Elke, nicht schreien. Es nützt ja nichts.“

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    • Familientraditionen sind schon was Großartiges, also manchmal. Aber Rezepte werden dadurch nicht schlechter, dass sie (noch) nicht durch die Generationen gereicht wurden!
      Danke für die Erzählung, das mit den Zöllen wusste ich nicht, liegt aber nahe. Ja, wer solche Pakete schicken kann, ist vermutlich immer reich, nicht wahr? 😏 So kommen Missverständnisse zustande …
      Liebe Grüße
      Christiane

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  4. Da muss ich gleich an meine lange verstorbene Großtante denken, bei der wir als Kinder auch ständig in den Topf oder Backofen guckten und uns auf das Ergebnis freuten …

    Sehr schön geschrieben, erinnerungsträchtig und berührend.
    Feiertagsgrüße aus Brandenburg,
    Anna-Lena

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  5. das ist eine schöne Verwendung von mondän und Pfründe! Mit Backen habe ich es persönlich gar nicht, freue mich aber natürlich,wenn mir jemand einen selbst gebackenen Kuchen mitbringt oder serviert. Von Zuhause erinnere ich mich, dass die Schüssel, in dem der Teig angerührt worden war, hinterher von uns Kindern ausgeleckt werden durfte. Dafür wurde er durch Striche dreigeteilt und wehe, man überschritt die Linie! man nahm den Zeigefinger, strich ihn über den verbliebenen Restteig und leckte ihn ab. Hmmm. Grad jetzt läuft mir das Wasser im Mund zusammen! Süßes war damals etwas sehr Seltenes, heiß Begehrtes.

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    • Jaaaaa, an das Teigauslecken erinnere ich mich auch, das stand auch bei mir hoch im Kurs, speziell bei meinen Lieblingsplätzchen, wo ich sogar den fertigen, ungebackenen Teig gegessen hätte, jedenfalls gefühlt – welches Kind kennt das nicht?
      Ansonsten muss ich aber ehrlich zugeben: Nein, selbst gebackene Plätzchen schmecken nicht automatisch besser, genauso wie Selbstgekochtes nicht automatisch besser schmeckt als im Restaurant, vom Lieferdienst oder aus der Mikrowelle. Das ist einfach eine fromme Lüge … 😉
      Abendgrüße
      Christiane

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      • Das Schüsselausschlecken kommt nie aus der Mode, jedes Kind liebt es und ich habe die herrlichsten Fotos von der Tochter, dem Enkel mit verschmierten Händen und Gesicht -:)) Rohen Plätzchenteig esse ich heute noch gern.
        Zum Kochen und Backen: bei PLätzchen und Kuchen mundet mir meist mein Selbstgebackenes besser, aber ich benutze , zumal jetzt, wo ich allein bin, gern vorbereitete Produkte , einfach auch um Zeit zu sparen, von der ich ja eigentlich so viel habe, aber Lesekost braucht halt auch seine Zeit -:)))
        Lieber Gruß aus dem ersten Novembertag an Dich,
        Karin

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        • Lesekost braucht auf jeden Fall ihre Zeit, liebe Karin! Und ich kann jeden verstehen, der oder die auf Vorbereitetes zurückgreift, nicht jede*r zelebriert das Kochen oder Backen – bitte säuberlich von denen trennen, die es überhaupt nicht KÖNNEN, das ist wieder was anderes.
          Lieber Gruß zurück aus Hamburg mit ein paar Sonnenstrahlen
          Christiane

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  6. Ich habe das Backen für mich in letzter Zeit wieder entdeckt, es schafft einfach eine besondere Art der Gemütlichkeit.
    Auch wir haben Pakete zu meinem Onkel in die „Ostzone“ geschickt, hoch im Kurs waren Orangen, Einwegrasierer und Nylonstrümpfe.
    Ich finde es immer schön, wenn diese Familientraditionen weiter gegeben werden.
    Deine Etüde weckt diesmal anscheinend bei vielen Lesern Erinnerungen, das ist schön.
    Liebe Grüße
    Viola.

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    • Willkommen im Club! Wir auch Nylonstrümpfe, ich erinnere mich aber auch an Kaffee. Kaffee immer.
      Das dachte ich auch, als ich es las, ui, was für Erinnerungen da hochkommen, und so viele. Nun erlebe ich das nicht zum ersten Mal hier, aber ich freue mich jedes Mal darüber, dass so viele lieb gewonnene Mitschreiber*innen hier aus dem Nähkästchen plaudern mögen.
      Liebe Grüße in deinen Abend
      Christiane

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  7. Konnte mich richtig hinein versetzen in Deine Geschichte! Zumal meine Frau gerade mit der Keksbäckerei begonnen hat (u.a. Vanille-Kipfel) und ich sowieso gerne Kekse und Kuchen esse.
    Denn damit habe ich mir quasi meine Frau damals „gesichert“. Und das kam so: Als wir noch nicht verlobt waren – und wie man im Norden sagte „miteinander gingen“ – wurde ich nach angemessener Zeit an einem Sonntag zu ihrer Familie eingeladen. Und da gab es dann einen Erdbeerkuchen in der Form belegter Boden mit Erdbeeren und Schlagsahne dazu. Und ich wollte natürlich einen guten Eindruck hinterlassen und habe den halben Kuchen verzehrt. Und da hatte ich das Herz meiner späteren Schwiegermutter gewonnen!

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    • Ui, lieber Werner, ihr seid aber früh dran, die sind doch bis Weihnachten dreimal wieder alle, oder? Gut, meine Mutter widmete sich auch früh mit Hingabe der Stollenbäckerei, die nämlich immer ein paar Wochen liegen mussten, bis sie durchgezogen waren und von der gestrengen Bäckerin für genießbar befunden wurden …
      Mit dem halben Erdbeerkuchen bist du aber ein Risiko eingegangen, dass du nicht als „Fresssack“ abgestempelt wurdest. Aber klar, jede*r freut sich, wenn es schmeckt, schon klar. Ich hoffe, du magst/mochtest Erdbeerkuchen wirklich so sehr!
      Liebe Grüße
      Christiane, lachend

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      • Wenn es in den Märkten wieder Glühwein zu kaufen gibt, ist das ein Zeichen, mit der Keksbäckerei anzufangen. Und übrigens: der Erdbeerkuchen hat mir wirklich geschmeckt. Und damals mit 20 konnte man Berge vertilgen.

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        • Kommt Glühwein gleichzeitig mit Lebkuchen in die Läden? Da bin ich raus, übrigens, ich mag gekauften Glühwein gar nicht, maximal auf Weihnachtsmärkten.
          Und was das Fassungsvermögen spätjugendlicher Mägen angeht: DAS hätte ich nie infrage gestellt! 😁

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        • Ich habe respektlos den Buß- und Bettag zum Buß- und Knettag umbenannt; es war der Tag, an dem ich früher anfing, die Kekse zu backen, sie mußten ja auch noch mürbe werden und lagen wohlverschlossen in ihren Dosen.

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  8. »Waren dies Fußstapfen, in die es zu treten galt, eine Pfründe, die zu sichern war?« Und Pfunde mit denen man wuchern könnte. Fein. Danke. Liebe Grüße, Bernd

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  9. Deine Etüde weckt meine Kuchen- und Gebäck-Erinnerungen mit einem lauten Weckruf *g*. Wie oft saß ich bei meiner Oma in der Küche, die groß war, eine Wohnküche, wie damals üblich, und schaute gebannt zu, wie sie Teig rührte oder knetete, wie sie die Rosinenschnecken vorbereitete und immer noch rieche ich den Duft von Zimt und Zucker, der sich bis heute in mir ausgebreitet hat und da als ganz wichtige Erinnerung liegt.
    http://wortbehagen.de/index.php/gedichte/2015/februar/sahnige_erinnerung
    Meine Mutter backte auch und hier überschneiden sich meine Erinnerungen. Die eine backte dieses, die andere jenes. Eines machten sie beide, Weihnachtsgebäck, das in hohen Blechdosen Sorte für Sorte gesammelt wurde. Der Nachteil an dieser Art der Aufbewahrung war, daß die zuletzt gebackene Sorte ganz oben lag und meine Lieblingssorte ungefähr in der Mitte 🙂 *kicher*
    Rohen Teig naschen mochte ich nie, aber ich war die, die die meisten Kuchenstücke verdrückte und möglichst mit viel Sahne dazu…
    Meine Oma backte die Zimtwaffeln zu Weihnachten und meine Mutter den Frankfurter Kranz zu meinen Geburtstagen.
    Die Teignascher habe ich heute um mich herum 🙂

    Ganz herzlich, Bruni am Feiertag

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    • Ich frage mich gerade, liebe Bruni, ob wir nicht irgendwann mal ein Plätzchenhappening machen sollten, wo jede oder jeder ein Lieblings-Plätzchenrezept beisteuert, gern mit Tipps und Tricks, damit sie auch ganz sicher klappen.
      Unglaublich, wie viele Erinnerungen schon hochgekommen sind, und jetzt kommst auch noch du … 😉
      Hohe Blechdosen kenne ich übrigens auch, die nur in der Weihnachtszeit in Aktion traten und in denen geschichtete Schätze lagen … und wehe, meine Mutter entdeckte, dass ihre Vorräte schmolzen, dann gab es aber Stunk! Glücklicherweise war ich es nicht allein, hin und wieder bekannte sich auch mein Vater schuldig …
      Liebe Grüße
      Christiane, fast bisschen sentimental

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