Die Doku | abc.etüden

Sie starrt auf den Fernseher.

Seidig waren seine Lippen gewesen und wohlschmeckend seine Küsse, auch wenn sie immer nur gehört hatte, dass man das von Frauen sagte, und er ein Schrank von einem Kerl war.

Sie starrt auf den Fernseher.

Was waren das für gute Zeiten gewesen, als er manchmal abends bei ihr vorbeikam und vom Türken Essen mitbrachte, so viel Fleisch, dass sie es zum Aufbewahren in die Salatschüssel schütteten, weil die Teller schon überliefen. Jeder Abend ein Fest, jede Nacht auch.

Alkohol hatte bei ihm immer eine Rolle gespielt, aber nicht, wenn sie zusammen waren. Er geht halt gern auf den Kiez feiern, hatte sie gedacht. Braucht seine Freiheit, um bei dem stressigen Job Dampf abzulassen.
Bis ihr auffiel, dass es jedes Wochenende war, dass ihn nichts mehr zu Hause hielt. Auch sie nicht.

Okay, der Job in der Finanzberatung war anspruchsvoll und aufreibend. Sie hatte ihn häufig gewarnt, dass er sich nicht übernehmen solle, brillanter Intellekt hin oder her. Es war verlockend, sich zu viel aufzuladen, und die Verdienstmöglichkeiten waren richtig gut.
Bis ihr auffiel, dass er abends am Telefon immer öfter streitsüchtig wurde. Nein, er habe nicht getrunken. Nein, er habe keine Probleme, er doch nicht. Nein, er habe alles unter Kontrolle. Glaub mir, Schatz.

Sie starrt auf den Fernseher.

Bis zu dem Tag, als er anrief und sie informierte, dass sie sich erst mal nicht mehr sehen würden. Er müsse sein Leben auf die Reihe bringen. Er liebe sie. Sie solle nicht auf ihn warten, sie habe was Besseres verdient.

Sie starrt auf den Fernseher, wo eine Doku über „die härteste Kiez-Kneipe“ läuft. An der Bar hockt einer der Abgestürzten hinter seinem Bier und lächelt breit. Einer, für den das sein „Wohnzimmer“ ist. Einer, den sie kennt.

Sie schaltet ab und sitzt da wie betäubt.

 

Etüden 2019 04+05 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Woche 04/5.2019: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Myriade und lauten: Salatschüssel, seidig, übernehmen.

Äh, ja, es gibt die Doku. Sie lief gestern Abend und heute Morgen im NDR-Fernsehen und heißt: „Hamburgs härteste Kiezkneipe – Wo die Nacht nie endet“ (Link zur NDR-Seite, gestern konnte man dort die Doku online aufrufen). Die Kneipe ist der „Elbschlosskeller“, schräg gegenüber vom „Goldenen Handschuh“. Ein Ort der Kontraste, freundlich gesagt, ich war vor ein paar Jahren öfter mal da. Kein einfacher Ort.

Typisch. So hübsche Illus, und mir fällt prompt was ein, was irgendwie zu keiner passt.

 

65 Kommentare zu “Die Doku | abc.etüden

  1. Ja, Beziehungen, auch die schönsten, enden irgendwann. So oder so. Und dann sitzt frau (oder auch man) vor dem Fernseher oder vor dem Rechner, verkriecht sich mit einem Buch in der Badewanne, bucht sinnlos einen Flug ins Aus einer Ferieninsel, und nichts wird wieder, wie es war. Schöne Geschichte, Christiane, danke dafür!

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    • Nichts wird wieder, wie es war. Das kann auch ganz gut so sein, liebe Elke (kommt halt drauf an, dass ein geliebter Partner stirbt, meine ich ganz sicher nicht), aber erst mal ist die Wahrheit ein Schock, mit dem man irgendwie umgehen muss.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  2. Liebe Christiane,
    angeregt durch https://agnesblogsite.wordpress.com/ hatte ich gerade noch die Geschichte von Herrn Hoek gelesen, und nun dein Beitrag. Scheint das Thema des Wochenendes zu werden. Was du beschreibst, hab ich mir auch schon vorgestellt. Und du hast das Entsetzen (mein Entsetzen, dass DAS jemandem passieren kann?) darüber gut eingefangen.
    Liebe Grüße
    Hummel

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    • Du erinnerst mich daran, dass ich bei Agnes noch was schreiben wollte, danke. 🙂
      Ich glaube, dass solche Fälle häufiger vorkommen, als man denkt, aber natürlich ist es jedes Mal eine Tragödie, irgendwie.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  3. Haltlosigkeit wie oft im Leben und der Partner kann mehr oder weniger nichts tun und Liebe hilft schon gar nicht. Mir tun beide leid in Deiner Geschichte. In Tochters Umfeld hat sich eine 32-Jährige erhängt, nach aussen meist fröhlich, war aber in einer Klinik und hatte Ausgang. Sie hinterlässt eine 5-jährige Tochter, einen fassungslosen Partner und eben solche Eltern.
    Dir einen lieben Morgengruss, Karin

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    • Richtig. Und natürlich dann die Frage, in meinem „Fall“ wie in deinem: Was hätte geholfen, was ist wann und wo schiefgegangen, was hätte getan werden können?
      Fühlt sich wie ein Versagen der Übriggebliebenen an, obwohl es das (oft) nicht ist …
      Liebe Grüße aus dem Regen
      Christiane

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      • In diesem Fall war sie sogar in einer Klinik in Behandlung und aufgrund ihrer (vorgetäuschten) Fröhlichkeit gab man ihr Ausgang, von dem sie nicht zurückkehrte. Ich habe sie kennengelernt: bildhübsch, liebenswert, damals fröhlich, übermütig und eines Tages schlug es von einem auf den anderen Tag um.
        Ich schaue mir jetzt mal Deine Doku an.
        Lieber Gruß zurück vom mir und dem pennenden Fellknäuel.

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        • Was für ein Schock dann. Oh weh.
          Wenn du magst, schreib mir doch, wie du sie findest, siehe auch mein Kommentar an Sabine Wortgeflumsel.
          Mein Fellgenosse pennt auch.

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        • Es war keine vorgetäuschte Fröhlichkeit, liebe Karin, das ist das Irrsinnige an der Geschichte, sie ist *oberflächlich*, aber sie ist da, wird nicht gespielt und dann fällt sie ab, die Kraft dazu ist aufgebraucht und zurück bleibt diese tiefe Traurigkeit, die ins Bodenlose führt, in dieses Loch, aus dem wohl nicht hochzukommen ist… und oft endet es so, wie Du schreibst…

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    • Kommt mir auch so vor. Da es das Wetter eigentlich nicht sein kann (oder?), schiebe ich es mal auf die Sterne … Danke für die Blumen. Hast du mal in die Doku geschaut?
      Liebe Grüße
      Christiane

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        • Die ist vordergründig eine One-man-Show, Motto „Wirt mit Herz“. Das ist ohne Zweifel auch so. Für die, die es sehen können, gibt es herzzerreißende Bilder dazwischen, gleichzeitig ist die Doku sehr respektvoll. Okay, das Kamerateam DURFTE vermutlich vieles nicht drehen wegen Datenschutz, aber sie haben sich echt Mühe gegeben. Ich finde die gut.
          Ich bin auch noch beim Kaffee. 😀

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  4. Liebe Christiane,
    so viele menschliche Abgründe! Man kann sie schlichtweg nicht ermessen und auch nicht erfühlen, man kann ahnen, dann hoffen und später kommt der Fall. Liebe schützt leider nicht vor Depressionen und auch nicht vor Suchterkrankungen, es kann ja immer nur der- bzw. diejenige handeln, die sich in diesem Teufelskreis bewegt, die/der Liebende kann nur „halten“.
    Ach, dazu fällt mir jetzt so vieles ein. Ich lasse es aber mal hier stehen.
    Du hast deine Etüde mitten aus dem Leben „gegriffen“, schmerzlich und gut.
    herzliche Grüße
    Ulli

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  5. Solche Geschichten gibt es leider viel zu viele. Ich denke, ein jeder kennt sie aus der näheren oder weiteren Bekanntschaft.

    Die Statistik dazu ist ja auch sehr betrüblich, sowohl für Mann als auch Frau:

    „18 Prozent der Männer und 14 Prozent der Frauen nehmen
    riskante Mengen Alkohol zu sich (>20 g Reinalkohol/Tag für
    Männer und >10 g Reinalkohol/Tag für Frauen), vor allem
    unter 25-Jährige und Personen zwischen 45 und 65 Jahren.“

    Weitere Einzelheiten und Tabellen siehe im Alkohoilatlas Deutschland:

    Klicke, um auf Alkoholatlas-Deutschland-2017_Auf-einen-Blick.pdf zuzugreifen

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  6. Hey Christiane,
    dadurch dass du so unaufgeregt und mit Abstand erzählst, spürt man den Schock und die Leere der Protagonistin. Auch wenn traurig finde ich deinen Text wirklich toll.
    Grüße, Katharina.

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    • Danke dir. Dann habe ich es richtig gemacht: Durch die Monotonie, die Wiederholung, das Abgestumpftsein sollen die Fassungslosigkeit und der Schock durchschimmern. Dieser Punkt, wo man „Atmen“ denkt, um nicht umzukippen.
      Freut mich, dass dir der Text gefällt.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  7. Eine sehr gute und fürchterlich eindrucksvolle Geschichte, liebe Christiane.
    Ich habe mit großem Interesse die Kommis verfolgt, ich glaube, Du kannst es erkennen, und sie wunderte mich nicht, diese Geschichte von Dir, auch wenn ich die Doku noch nicht kenne.
    Aber wie oft sind es Menschen, die in Alkohol und/oder Drogen abrutschen, die nie in dieses Milieu geschaut hatten und ob wir es verstehn oder nicht, es ist so und wegreden kann es keiner. Ich habe es nun schon so oft aus der Ferne oder Nähe gesehen und doch nicht gesehen, weil es, wenn es zu nahe ist, auch nicht gesehen wird. Die Augen sind wie verklebt und wenn alles vorbei ist – egal wie – dann sagt man, ach so, ja, klar, ich hätte es erkennen müssen… (Aber es hätte es geholfen?)

    Es ist schmerzhaft, aber es passiert, ständig und an Orten, an denen man es nicht vermutet.

    Liebe Grüße zum Sonntag von Bruni

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    • Es ist schmerzhaft zu sehen, aber ja, es passiert. Ständig. Wie recht du hast.
      Und natürlich ja, auch ohne in dieses Milieu abzurutschen, das gab es für die Etüde nur obendrauf als bunten Fleck. Viele kämpfen und verlieren zu Hause, scheinbar unbemerkt.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  8. Du hast es gut verwendet, dieses glitzernde, Buntewelt verheißende Millieu, das gottseidank nicht meine Welt ist, aber um das Glitzernde darin weiß ich wohl *lächel*

    Liebe Grüße von mir

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  9. Kann den Walisen verstehen. Mir ging die Doku zu sehr in die Richtung „Rauhe Schale, herzlicher Kern“, und auch wenn der Typ authentisch ist, so ist der Kiez doch immer weniger so, sagten jedenfalls die, die hinter die Kulissen schauen.
    Von dir habe ich am ehesten erwartet, dass es dich nicht oder nicht sehr schockt, und dass du sortieren kannst, was du siehst.
    Von dieser Seite weiß ich seit Freitag, und ich habe/hatte sofort an dich gedacht. Schön, dass du die ganze Doku sehen konntest, das freut mich richtig. Ich halte die Seite für sehr nützlich (und legal) und werde sie bestimmt häufig nutzen.
    Liebe Grüße
    Christiane

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  10. Ich stelle seit einiger Zeit im Bekanntenkreis vermehrt fest, dass manche nichts mehr mitbekommen wollen, wenn das eigene Leben immer mehr in die letzten Jahrzehnte rückt, genügend Schotter da ist und ‚man sich das Leben nur noch schön‘ machen will.
    Als wenn das Leben ein Ponyhof sei und man durch Weggucken und Tunnelblick etwas ändern könnte …
    Das macht mich so wütend, weil wirkliche Empathie einfach weggespült wird …

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