Menschliches und Frühlingsanfang

 

Letzter Versuch.

Ich habe mich zu erhängen gesucht:
Der Strick ist abgerissen.
Ich bin in’s Wasser gesprungen:
Sie erwischten mich bei den Füßen.
Ich habe die Adern geöffnet mir:
Man hat mich noch gerettet.
Ich sprang auch einmal zum Fenster hinaus:
Weich hat der Sand mich gebettet.
Den Teufel! ich habe nun alles versucht,
Woran man sonst kann verderben –
Nun werd’ ich wieder zu leben versuchen:
Vielleicht kann ich dann sterben.

(Ada Christen, Letzter Versuch, aus: Lieder einer Verlorenen, 1868, Online-Quelle)

 

DIE VERSUCHUNG

Nein, es half nicht, daß er sich die scharfen
Stacheln einhieb in das geile Fleisch;
alle seine trächtigen Sinne warfen
unter kreißendem Gekreisch

Frühgeburten: schiefe, hingeschielte
kriechende und fliegende Gesichte,
Nichte, deren nur auf ihn erpichte
Bosheit sich verband und mit ihm spielte.

Und schon hatten seine Sinne Enkel;
denn das Pack war fruchtbar in der Nacht
und in immer bunterem Gesprenkel
hingehudelt und verhundertfacht.
Aus dem Ganzen ward ein Trank gemacht:
seine Hände griffen lauter Henkel,
und der Schatten schob sich auf wie Schenkel
warm und zu Umarmungen erwacht —.

Und da schrie er nach dem Engel, schrie:
Und der Engel kam in seinem Schein
und war da: und jagte sie
wieder in den Heiligen hinein,

daß er mit Geteufel und Getier
in sich weiterringe wie seit Jahren
und sich Gott, den lange noch nicht klaren,
innen aus dem Jäsen destillier.

(Rainer Maria Rilke, Die Versuchung, aus: Der neuen Gedichte anderer Teil, 1918, Online-Quelle)

 

…ALS EINE REIHE VON GUTEN TAGEN

Wir wollen uns wieder mal zanken,
Auf etwas hacken wie Raben,
Daß unsre zufriednen Gedanken
Eine Ablenkung haben.

Wir wollen irgendein harmloses Wort
Entstellen,
Dann uns verleumden und zum Tort
Etwas tun; das schlägt dann Wellen.

Wir wollen dritte aufzuhetzen
Versuchen,
Dann unsere Freundschaft verfluchen,
Einmal sogar ein Messer wetzen,
Dann aber uns – in Blickweite –
Auseinander zusammensetzen,
Um superior jedem weiteren Streite
Auszuweichen;
Mit dem Schwur beiseite:
Uns nimmermehr zu vergleichen.

Dann wollen wir, jeder mit Ungeduld,
Ein paar Nächte schlecht träumen,
Dann heimlich eine gewisse Schuld
Dem anderen einräumen,
Dann lächeln, dann seufzen, dann stöhnen,
Dann plözlich uns gründlich bezechen,
Dann von dem vergänglichen, wunderschönen
Leben sprechen.

Und dann uns wieder einmal versöhnen.

(Joachim Ringelnatz, …als eine Reihe von guten Tagen, aus: Allerdings, 1928, Online-Quelle)

 

Der Lenz ist da!

Das Lenzsymptom zeigt sich zuerst beim Hunde,
dann im Kalender und dann in der Luft,
und endlich hüllt auch Fräulein Adelgunde
sich in die frischgewaschene Frühlingskluft.

Ach ja, der Mensch! Was will er nur vom Lenze?
Ist er denn nicht das ganze Jahr in Brunst?
Doch seine Triebe kennen keine Grenze –
dies Uhrwerk hat der liebe Gott verhunzt.

Der Vorgang ist in jedem Jahr derselbe:
man schwelgt, wo man nur züchtig beten sollt,
und man zerdrückt dem Heiligtum das gelbe
geblümte Kleid – ja, hat das Gott gewollt?

Die ganze Fauna treibt es immer wieder:
Da ist ein Spitz und eine Pudelmaid –
die feine Dame senkt die Augenlider,
der Arbeitsmann hingegen scheint voll Neid.

Durch rauh Gebrüll läßt sich das Paar nicht stören,
ein Fußtritt trifft den armen Romeo –
mich deucht, hier sollten zwei sich nicht gehören …
Und das geht alle, alle Jahre so.

Komm, Mutter, reich mir meine Mandoline,
stell mir den Kaffee auf den Küchentritt. –
Schon dröhnt mein Baß: Sabine, bine, bine …
Was will man tun? Man macht es schließlich mit.

(Kurt Tucholsky/Theobald Tiger, Der Lenz ist da!, in: Die Schaubühne, 26.03.1914, Nr. 13, S. 371; Online-Quelle)

 

Im Gespräch | 365tageasatzadayQuelle: Photo by Fred Mouniguet on Unsplash

 

Ich habe mich, wie ihr möglicherweise auch, gefragt, was dieses „Jäsen“ ist (Rilke, letzte Zeile). Die Auflösung findet sich im „Frühneuhochdeutschen Wörterbuch“, dort steht unter „jäsen“: ›sich zersetzen, sich in Gärung befinden, aufschäumen (von Flüssigkeiten)‹; ütr. ›brausen, aufwallen (von Gefühlen)‹. (Online-Quelle)

Kommt gut in die neue Woche, mit Sturm, Regen oder Sonne, und feiert den Frühlingsanfang!

 

38 Kommentare zu “Menschliches und Frühlingsanfang

    • Ich habe vorhin was von „Schnee bis in die Niederungen“ gehört und ein bisschen aus Sympathie mitgefroren 😉
      Aber es soll ja ab Mitte der Woche deutlich wärmer und frühlingshafter werden. Wir werden sehen.
      Auch dir eine gute Woche, lieber Arno, und, falls du den Frühling mit der Kamera suchst, gute Motive!
      Liebe Grüße
      Christiane

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  1. Liebe Christiane, das Ringen der Menschen, um Liebe, um Freude, um ein „Wir“, ein kleines bisschen Glück und wie sie scheitern, weil sie nicht sehen können, nichts spüren und Vögel, die singen, Partnerinnensuche und Nestbau …
    ich wünsche dir Freude auf den Neuewochenwegen,
    liebe Grüße
    Ulli

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  2. Schwere Kost zum Wochenbeginn, liebe Christiane, aber so ist das Leben und der Winter scheint sich noch zusäztlich breit zu machen.

    Einen schönen Wochenbeginn und liebe Grüße zu dir!

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  3. Es gibt ja viele berühmte Versuchungs-Gemälde – von Bosch bis Dali, aber Rilkes Gedicht erinnert mich an das von Grünewald, dessen Scheußlichkeit kaum zu übertreffen ist. O ja, der Engel ist auf eine teuflische Weise hilfreich! .Quäle dich, Mensch, mit Sünden und Plagen, vielleicht, dass du dich kelterst und endlich doch zu einem klaren Wein wirst.

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    • Ja, aber „in den Heiligen“. Hat Rilke die Menschen als „Heilige“ gesehen, wenigstens potenziell? Ich überlege.
      Mich beeindruckt das Gedicht gerade sehr.
      Ich muss nach den Versuchungs-Gemälden mal schauen gehen …
      Liebe Grüße
      Christiane, bei der es graupelt

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        • Ich erinnere mich an einen April vor über 10 Jahren, da lag noch lange Schnee, von daher glaube ich das jetzt nicht so richtig. Andererseits ist gerade an allem die Erderwärmung schuld …
          Ja, das ist gewaltige Kost, in der Tat, zu jedem allein kann man sich schon ’nen Wolf lesen …

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      • ich hatte einfach in meinen Gedanken hinter den Heiligen ein Hain gesetzt ohne groß darüber nachzudenken … Falsch?

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        • Ich habs mir jetzt noch mal genau durchgelesen. Sollte er den Menschen als Heiligen sehen, dann wäre das Innere des Menschen so etwas wie ein heiliger Hain und nur er selbst kann sich um seine Teufel kümmern, sie entweder besiegen oder mit ihnen untergehen…
          Es ist nicht die Sache eines Engels, sich hier einzumischen.
          Ist es so, wäre Hain tatsächlich überlüssig! *g*

          Liebe Grüße von Bruni

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        • Ach so – Er hilft ihm insofern, daß er die Versuchung wieder in den Menschen hinein jagt, und da soll er sie selbst in Schach halten. Schließlich gehört das Böse wie das Gute zu ihm, aber die außer Rand und Band geratene Versuchung,. die bringt er wieder an den ihr zustehenden Platz… Der Engel hat nicht die Macht, den Menschen von seinen Eigenschaften zu befreien. Die sind ihm von Gott, seinem Büß, gegeben
          Au weiah , Herr Rilke

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      • Heute sind es sogar vier denkwürdige Lyrikstücke und da ich das allererste schon lange gesucht hatte und den Namen der Dichterin einfach nicht mehr wußte, bin ich nun ganz geplättet, es hier bei Dir zu finden, liebe Christiane, und die anderen rücken deshalb ein Stückchen nach hinten 🙂

        Liebe Grüße von Bruni am Montagnachmittag

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  4. Liebe Christiane,
    das ist Gedichtkost wie das Wetter da draußen – heiter bis wolkig, stürmisch und sanft. Ich unverbesserlicher Optimist nehme mal diese Zeile mit: „Dann von dem vergänglichen, wunderschönen Leben sprechen“.
    Es wolkt, es sonnt, es stürmt, es regnet, jetzt haben wir Abwechslung und es ist uns auch wieder nicht recht -:)
    Lieber Gruß auch an den Mausefänger, Karin

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    • Liebe Karin, leih mir gerade mal ein bisschen Optimismus, mein Internet ist tot 😭.
      Es scheint eine große Störung zu sein, ich hoffe, es geht schnell vorbei …
      Deprimierte Grüße
      Christiane

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    • „Alle“ nicht, natürlich. Aber die Dame von der Störungsstelle, mit der ich eben sprach, wusste von Störungen im Stadtgebiet und war der Ansicht, dass es sich vielleicht allein hinbiegen könnte. Ansonsten darf ich mich heute Abend zur Technik durchkämpfen – telefonisch. 😩

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  5. Oje, ich hoffe, das Internet funktioniert wieder bei dir.
    Als jemand, der häufig mit Depressionen kämpft, kann ich das Gefühl im ersten Gedicht sehr gut nachvollziehen. Aber ich bin immer noch der Meinung, dass das Leben nicht nur zum Sterben gut ist 😉
    Hoffentlich kommt diese Wetterbesserung zur Wochenmitte auch wirklich, die Natur steht hier schon in den Startlöchern.

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    • Ja, hat sich nach ein paar Stunden wieder von selbst eingekriegt. Aber erst mal bin ich innerlich Amok gelaufen.
      Ach, ein paar Grad mehr würden mir für den Anfang schon reichen. Ich möchte draußen sitzen und arbeiten können 😁
      Liebe Grüße zum Abend
      Christiane

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