Das Gedicht | abc.etüden

Es war einer jener Tage, an denen es überall hakte, aber es war der Welttag der Poesie*. In ihrer Mittagspause setzte sie sich im Großstadtrauschen nach draußen in die Sonne und schlug das mitgebrachte Gedichtbuch auf. Man konnte es ja versuchen.

Die gewünschte Ablenkung wollte sich nicht einstellen. Ständig kreisten ihre Gedanken um den Alltag. Ein Missverständnis mit einer Freundin. Ein geliebter Hund, der vom Krebstod bedroht war, zum Glück nicht ihrer. Ärztliche Untersuchungsergebnisse, die einen Freund erschreckten. Wikipedia protestierte mit eintägiger Abschaltung gegen drohende Uploadfilter und Abgeordnete bestätigten in Pressekonferenzen, „dass Presseverlage mit schlechter Wahlberichterstattung gedroht haben, wenn Abgeordnete gegen die #Urheberrechtsreform stimmen“.** Da musste man nicht mal mehr überlegen, wer von dem Uploadfilter profitieren würde. Sie erwog, am Wochenende demonstrieren zu gehen.

Der bestellte Café au Lait und ihr Franzbrötchen kamen und dufteten herrlich. Gedankenverloren biss sie ein kleines Stück ab. Israels politisch rechte Justizministerin machte in ihrem neuesten Wahlkampfwerbespot Werbung für ein Parfum namens „Faschismus“.*** Nun, was wusste sie über Israel, außer dass die Gesellschaft kontrastreich war und ziemlich anders zu ticken schien? Nicht viel, gab sie zu, aber allüberall schienen die Rechten auf dem Vormarsch zu sein mit ihrer Speerspitze der dumpfen Pöbler, die erst schrien, später schlugen oder schossen. Manchmal auch umgekehrt. Amokläufe per Helmkamera live ins Internet zu übertragen: Wahrscheinlich nur eine konsequente Weiterentwicklung, aber sie schauderte dennoch. In was für einer Welt würde sie ihre Tage beschließen, wenn das so weiterging? Würde es überhaupt noch eine geben?

Ihr Blick fiel auf ein wahllos aufgeschlagenes Gedicht.

„Das Gedicht ist nicht der Ort, wo das Sterben begütigt
wo der Hunger gestillt, wo die Hoffnung verklärt wird.“****

Es endete mit: „Das Gedicht ist nicht der Ort, wo der Engel geschont wird.“****

Na, großartig. Sie klappte das Buch zu. Jetzt war ihr die Laune endgültig verdorben.

 

abc.etüden 2019 12+13 | 365tageasatzadayQuelle: Photo by DREW GILLIAM on Unsplash, Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Wochen 12/13.2019: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Rina.P und ihrem Blog Geschichtszauberei und lauten: Café, verdorben, beißen.

 

Die Links dazu.

* https://de.wikipedia.org/wiki/Welttag_der_Poesie

** https://twitter.com/Senficon/status/1108674187529515011

*** https://derstandard.at/2000099816497/Ein-Hauch-von-Faschismus-umweht-Israels-Justizministerin

**** http://culturmag.de/litmag/litmag-weltlyrik-christoph-meckel/87898

Das zitierte Gedicht stammt von Christoph Meckel und heißt „Rede vom Gedicht“. Man darf es selbstverständlich nicht gänzlich zitieren (Urheberrecht), daher habe ich eine Online-Quelle verlinkt, von der ich hoffe, dass sie es darf, mir geht es eh nur um die zitierten Zeilen. Es ist in dem 1974(!!!) erschienenen Gedichtband „Wen es angeht“ zu finden (Christoph Meckel: Wen es angeht. Gedichte. Mit Graphiken des Autors. Düsseldorf: Eremiten-Presse 1974, S. 15).

Oh, und wer wissen will, ob morgen in seiner Nähe eine Demo stattfindet, kann das hier nachschauen, nämlich auf der Seite von savetheinternet.info: HIER KLICKEN.

 

31 Kommentare zu “Das Gedicht | abc.etüden

  1. Diese gesprochene Aufnahme habe ich auf meinem Blog mit noch etlichen anderen, falls Du Deine Quelle wieder entfernen müsstest.
    Ich war gestern in der Schauspielfassung von „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ von Grossman, wobei zum Glück meine Bedenken zerstreut wurden, dass evtl,. die Umsetzung dieses wunderbaren Buches nicht gelingt. Auch da ging es um den Patriotismus des Sohnes, der in jungen Jahren geweckt wird und letztendlich zu radikalem Denken führt. Aber der Faschismus steckt auch leider noch in ganz viel alten Köpfen.
    Lieber Gruss aus dem dritten Frühlingstag hier bei uns, Karin

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    • Jaaa, den Christian Brückner habe ich mir gestern auch angehört, der ist toll, danke dir! Ich glaube nicht, dass meine Quelle nicht sicher ist, die machen mir den Eindruck, dass sie wissen, was sie tun, sonst hätte ich sie nicht genommen.
      Verrückte Welt, liebe Karin, jedenfalls wenn man hinschaut, was viele nicht tun und nicht wollen, weil sie es nicht aushalten …
      Liebe Grüße aus dem nach wie vor trüben Hamburg
      Christiane mit Fellträger mit Baggerlärm

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    • Ich glaube, dass WP das selbstständig macht. Ich habe es als Kommentar lange nicht mehr versucht, vermutlich geht es mit der No-cookie-Option immer noch.
      Macht mir in diesem Fall aber nichts, liebe Karin, alles gut! 🙂

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    • Ja, mir war auch so. Regelrecht stolz bin ich darauf, dass ich in meinen Hirnwindungen das Gedicht aufgetrieben habe, das war nämlich anfangs nicht mehr als ein Fetzen Erinnerung.
      Nachdenkliche Grüße zurück
      Christiane

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  2. Liebe Christiane, ich habe in der letzten Woche „Spieltrieb“ von Juli Zeh gelesen, seitenweise könnte ich daraus zitieren, hier nur ein Satz: „Seit wir den Glauben und damit die Wahrheit verloren haben, liegt zwischen Heuchelei und Ehrlichkeit der letzte Unterschied, der uns bleibt.“ Mir geht dieser Satz nicht mehr aus dem Kopf und fühle mich umgeben von so unglaublich viel Heuchelei, besonders, wenn es um Politik geht. Wie soll da eine gesunde Gesellschaft wachsen, agieren und gedeihen? Wie sollten da noch Engel geschont werden?
    Danke für deine nachdenklich stimmende Etüde.
    Liebe Grüße
    Ulli

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    • Heuchelei, das trifft es, liebe Ulli.
      Ich habe mir die (zynische? wirklich?) Frage angewöhnt: Wohin/wie fließt das Geld, da ich Firmen (Einzelpersonen weniger, kommt drauf an, Personen im öffentlichen Leben (z. B. Politiker) fallen unter „Firmen“) immer materielle und/oder machtpolitische Interessen unterstelle.
      Stecken wir, die wir eine bunte Fahne hochhalten, alle nur den Kopf in den Sand? Darf man das fragen? Darf man das denken? Was folgt daraus? Für mich, für dich, für alle?
      Ich bin gar nicht heiter.
      Herzliche Grüße in den Süden
      Christiane

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      • Eine gute Frage – nun kaue ich an ihr herum, einerseits glaube ich nicht, dass „wir“/ich den Kopf in den Sand stecken, solange wir Worte finden, solange wir Bilder machen, solange wir den Mund aufmachen und auch mit unserem Unmut, unserem Protest nicht hinter dem Berg halten, aaaber dahinter ist ein Gefühl, dass leider während der letzten Jahre wieder gewachsen ist, dass „wir“ den Wahnsinn in der Welt nicht aufzuhalten vermögen. In mir ist eine große Schwere zwischen meiner Liebe und Freude an der Welt und ihren unendlichen Facetten und meinem Abscheu gegenüber Menschenwerk, demjenigen, dass von Macht, Gier und Hass gesteuert wird. Ich habe dem nur meine kleine Freude und meine Liebe entgegenzusetzen …
        So, und nun gehe ich Bärlauch ernten.

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  3. „Ich habe dem nur meine kleine Freude und meine Liebe entgegenzusetzen …“ schreibt Ulli, und ich nicke mit dem Kopf. Auch der Satz mit der Scheinheiligkeit hat meine volle Zustimmung. Also bleiben wir jedenfalls ehrlich und in unserer Kraft, überschätzen und unterschätzen uns nicht und tun, was wir eben können, auch wenn sich der Himmel über uns mit immer schwererem Gewölk bezieht. Denn wohin zielt das alles? Nicht die faschistoiden Grüppchen machen mir Angst, sondern die Scheinheiligkeit und Arroganz der tatsächlich Mächtigen, die grad mal wieder atomwaffenfähige Bomber gen Osten geschickt haben, um die russische Abwehr zu testen. Von den US nach England – von deutschem Boden aus koordiniert – Richtung Kaliningrad.Dieselben Bomber waren gegen Jugoslawien, Irak und Afganistan im Einsatz, wo andere „humanitäre Einsätze“ geflogen wurden.

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    • Ja, natürlich, und ich nicke mit. Was sonst, wenn nicht jeder bei sich und so viel er*sie kann?
      Das, was dir Angst macht, macht auch mir Angst, nur für mich reicht sich das irgendwo die Hand: Profitgier, Machtgier, die Menschen nicht mehr als Personen, sondern bestenfalls als „Human Resources“ sieht. Ich erinnere mich noch, wie schlecht mir wurde, als ich den Begriff zum ersten Mal hörte.
      Teile und herrsche. „Wir“ und „die“. So einfach. So beliebig.

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  4. Sehr gut getroffen. Die Situation um einen rum, kann einem wirklich den besten Café au lait verderben.
    Gestern habe ich das erste mal gemerkt, wie oft ich überhaupt bei Wiki lande. Ich glaube 3 oder 4 x bevor ich gar nicht mehr klickte…

    Wer von allem, was um uns rum passiert, profitiert – na wir auf jeden Fall nicht.

    Toller Text, der wirklich noch nachhallt.
    Danke schön

    Liebe Grüsse

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    • Eben, dieses diffuse, manchmal auch sehr konkrete Unbehagen … dieses Gefühl von „Das kann doch wohl nicht wahr sein“. Mir ging das so, als ich von der Helmkamera hörte. Ich hatte gedacht, Amokläufe seien nicht mehr steigerbar. Wie naiv.
      Liebe Grüße zurück!
      Christiane

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        • Na ja, um ein Zeichen zu setzen. Um genannt zu werden, so wie die Kids, die damals Columbine zusammengeschossen haben, die haben Heldenstatus in der Szene. Kein Witz.
          Das Schlimme ist, dass es kein Ausrutscher mehr ist, dafür gibt es zu viel davon und zwar überall. Der Wahnsinn hat Methode.

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  5. Ich glaube so Tage kennt jeder. Ich weiß nur nicht, ob es besser wäre, weniger von der Welt mitzubekommen. Als einzelner Mensch kann man eh nicht mit alle den Informationen umgehen, vor allem weil es meist das Schlechte ist, das herasusticht. Oder man muss sehr optimistisch sein und glauben das viele Menschen nicht schlecht sondern dumm sind.
    Grüße, Katharina.

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    • Oh, ich glaube durchaus, dass viele Menschen dumm sind, dass sie es nicht wissen oder dass es sie null kümmert. 😉
      Und ich glaube nicht, dass es besser wäre, weniger mitzubekommen, ich denke, dass mehr hinterfragt werden muss, wer was warum sagt oder was wann warum passiert. Damit läuft man dann allerdings Gefahr, sich die Tage öfter langfristig zu versauen, denn das ist nicht lustig.
      Liebe Grüße zurück
      Christiane

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  6. Pingback: Schreibeinladung für die Textwoche 14.19 | Extraetüden | Irgendwas ist immer

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