Sie war eine Getriebene. Es war durchaus nicht so, dass sie sie verfolgten. Das hatten sie nicht nötig. Sie hatten lediglich eine unsichtbare Mauer um sie errichtet, die es unabwendbar machte, ihnen ins Messer zu laufen, wann immer sie ihre Gedanken schweifen ließ. Hinter irgendeiner Ecke lauerten sie ihr auf und erschütterten sie mit ihren grell geschminkten Gesichtern: das Herzrasen, die Bitterkeit, die Vorwürfe, die Tränen, der Tod. Abweichung von der vorgegebenen Bahn? Unmöglich.
Über ihr jagten Vögel dahin, schossen elegant und wagemutig durch den Himmel, schienen nicht an die Gesetze der Physik gebunden. Schliefen sie jemals?
Sie hatte sich an die Gefangenschaft gewöhnt. Daran, dass es unten bei ihr immer ein wenig zu grau war. Man musste sich in Acht nehmen. Sonne? Die war woanders. War sowieso zu hell. Sie hatte es doch nett. Oder nicht?
Über ihr tanzten die Vögel im Licht. Ihre Rufe sprachen von Sommer. Von Freiheit. Von Sehnsucht.
Ihr Leben hatte sie zu dem werden lassen, was und wer sie war – und die Dunkeltiere gehörten dazu. Hatte sie nicht mehr in ihrer Schatzkiste gehabt? Hatte sie ihnen die Macht eingeräumt, ihr Leben so zu verengen? Wann? Warum?
Licht fiel auf ihr Gesicht, wärmte ihr Herz, erzählte von Mut. Immer öfter starrte sie nach oben. Wünschte sich unter die tollkühnen Flieger, die nie zu landen schienen. Das Leben aus einer anderen Perspektive sehen. Unbekümmert sein. Ruhe finden.
Sich mit Anlauf vom 10-Meter-Turm im blinden, lachenden Vertrauen in eine unbekannte Tiefe zu stürzen: nicht ihr Ding. Was sie fesselte, stützte sie gleichermaßen. Sie hatte Verantwortung für ihre Dunkeltiere und nicht vor, alle Fehler noch einmal zu machen.
Sollte es dauern. Es war ihr Weg.
Sackgassen sind nach oben offen.
„Sriih“, „sriih“, „sriiiih“ schrien die Mauersegler einander zu. Sie würde kämpfen. Und fliegen. Wohin auch immer. Irgendwann.
Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir
Für die abc.etüden, Wochen 23/24.2019: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Werner Kastens und seinem Blog Mit Worten Gedanken horten und lauten: Abweichung, unabwendbar, verengen.
Wer sie hören und sich erinnern mag: Mauersegler auf deutsche-vogelstimmen.de
Puh.. .. ganz grossartig geschrieben, aber nicht einfach. Lese ich nochmal und nochmal und sinne darüber nach….. was ich sagen will: grosses Kompliment.
Und liebe Grüße
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Bin gespannt, ob es noch was in dir losrüttelt. Danke 😀
Liebe Grüße
Christiane
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Es rüttelt die ganze Zeit😚
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Gut, ich warte 😀
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Wunderbar geschrieben und, wie schon erwähnt, sehr berührend
Lieben Gruß
Alice
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Danke!
Ja, es ist manchmal nicht leicht.
Liebe Grüße
Christiane
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Ich sehe das Bild eines vom Leben bislang enttäuschten Menschen, den Krankheit, vielleicht auch eigene Fehler oder bewusste Unterdrückung „klein“ gehalten haben und er in Hoffnungslosigkeit versunken ist. Aber er fasst wieder Mut, um die dunklen Gedanken langsam abzuschütteln und aus der inneren Tiefe wieder aufzutauchen.
Sehr intensiv und eindrucksvoll geschrieben, liebe Christiane!
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Sieht so aus, als ob das Experiment gelungen wäre und die Etüde bei jedem individuell andockt.
Ich lese sie natürlich anders als du, lieber Werner, aber ich komme zu einem ähnlichen Ergebnis. 😀
Liebe Grüße
Christiane
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Das „individuelle Andocken“ gefällt mir sehr.
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Mir auch! *lächel*
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Irgendwie wollen mir keine Worte einfallen, um diesen Text angemessen zu würdigen! Mindestens hervorragend geschrieben – auch von mir ein großes Lob!
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Ich danke dir. Ich glaube, andersherum hätte ich auch meine Schwierigkeiten. Daher danke ich dir für die Rückmeldung, dass die Etüde dir gefällt.
Liebe Grüße
Christiane 😀😺🌞👍
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Puh, eindrücklich… fast zieht er mich runter, dein Text, aber gut, dass Sackgassen oben offen sind, daran halte ich mich jetzt fest. Kompliment für diesen Text!
LG Hummel
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Er fasst dich an, das freut mich. Und ja, das ist die Essenz: Sackgassen sind oben offen! Ein Merksatz für die Pinnwand.
Schön, dass du die Etüde magst!
Liebe Grüße
Christiane
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„Sackgassen sind nach oben offen“ Tralala, ein wunderbarer Satz !! und die „Verantwortung für die Dunkeltiere“ ein lohnenswerter Denkansatz !
Der Text gefällt mir überhaupt sehr gut. Kompliment! Das einzige, was für mich aus dem Text herausfällt ist „nicht ihr Ding“, aber das ist wahrscheinlich wieder einmal ein regionales Thema 🙂
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„Nicht mein Ding“ ist auf jeden Fall umgangssprachlich und damit fällt es aus dem Sprachduktus meiner Protagonistin raus. Danke, sehr aufmerksam, ich muss dir recht geben, war mir nicht aufgefallen.
Oder heißt das, den Ausdruck kennt man bei euch nicht???
Liebe Grüße und schön, dass es dir gefällt
Christiane
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Wir sagen eher „das ist nicht meins“, aber das ist ja fast dasselbe
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Stimmt. Vielleicht/vermutlich hast du recht und es ist regional. Interessant, war mir noch nie so aufgefallen.
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„Sackgassen sind nach oben offen“ hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Ich denke auch, dass deine Etüde bei jedem etwas anderes auslöst. In jedem Fall ist deine Geschichte sehr eindringlich.
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Das freut mich, dass sie zu dir spricht. Und ja, dieser Satz bedeutet auch mir sehr viel.
Liebe Grüße
Christiane 😀🌞
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Gegen die Dunkeltiere zu “ kämpfen“, ist wahrscheinlich vergebliches Tun, weil sie zu ihr gehören; ihnen aber nicht zu viel Raum zu geben, sich selbst vertrauen, an sich zu glauben, ihren Weg, den sie für sich eingeschlagen hat ,zu akzeptieren, das brächte wieder Zuversicht und Leichtigkeit in ihr Leben. Ihr würden Flügel wachsen – ab und an Fledermausflügel für die Dunkeltiere und Albatrosschwingen für ihr sonstiges Leben.
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Das Problem sehe ich darin, den Dunkeltieren mit Respekt zu begegnen und ihnen den gebührenden Platz zu bemessen, also eine Art Gleichgewicht herzustellen. Dann klappt das auch mit dem Fliegen …
Danke und liebe Grüße
Christiane
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Das meinte ich ja mit dem nicht zu viel Raum geben. Am Jahresanfang suchen mich regelmäßig Dunkeltiere heim; sie gehören so ca. 1-2 Monate zu mir und dann sind sie urplötzlich verschwunden, die Fledermäuse haben sich zu Albatrosse gemausert.
Hab‘ einen schönen Tag, ich Rhabarber-Himbeercrumbele -:))), Karin
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Ohhhh. Lecker! Würde ich um die Ecke wohnen, würde ich mich selbst einladen … 😁
Ah, saisonale Dunkeltiere. Die gehören nicht in diese Etüde, aber klar, die gibt es auch.
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Ich habe den Text gleich dreimal gelesen und jedes Mal anders aufgefasst. Wahrscheinlich gibt es viele Interpretationen. Wirklich toll geschrieben.
Grüße, Katharina
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DAS finde ich allerdings toll und überrascht mich, dass dir unterschiedliche Interpretationen dazu einfallen. Vielen Dank!
Magst du dazu was sagen? Ich finde es immer spannend, wie meine Sachen aufgefasst werden, gerade die etwas nebulöseren, wozu diese Etüde ganz sicher gehört. Musst aber nicht, ich bin bloß neugierig. 😀
Liebe Grüße
Christiane 😁😺
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Erst dachte ich bei den Dunkeltieren an Depression/dunkle Gedanken, dann dass es auch Erinnerungen sein könnten. Weitergesponnen vllt eine Auftragsmörderin und die Opfer, die sie in ihrem Kopf verfolgen. Ich bin relativ gut darin überzuinterpretieren, wenn man mir den Raum lässt. 😉
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Cool! Bei Nr. 1 und 2 bin ich bei dir, auf die Auftragsmörderin wäre ich nicht gekommen! 😉
Danke für die Aufklärung!
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Ich bin bei „Was sie fesselte, stützte sie gleichermaßen“ hängengeblieben. Das macht mich nachdenklich… sehr schöner Text!
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Danke! Dazu passt (in meinen Augen; weiß nicht, ob du so was magst) ein Zitat von Hölderlin: „Wer auf sein Elend tritt, steht höher.“
Ja, irgendwie zynisch in dem Kontext und auch ja, natürlich aus dem Kontext gerissen …
Danke für dein Mögen!
Liebe Grüße
Christiane
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Ich weiß nicht, ob ich Hölderlin mag, ich habe ihn noch nie bewusst gelesen – sollte ich? Der Satz ist… irgendwie… interessant. Fies, aber interessant. Wer auf etwas tritt, liegt immerhin nicht mehr, also, doch, interessant.
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Wenn du generell die Sprache aus der Epoche magst, dann ja, Hölderlin gehört ohne Zweifel zu den Großen um 1800. Ich finde ihn nicht leicht zu lesen, er war geistig nicht balanciert, um nicht „nicht gesund“ zu sagen. Aber er hatte etwas zu sagen. Ich würde mit Gedichten anfangen.
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Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 25.26.19 | Wortspende von viola-et-cetera | Irgendwas ist immer
Liebe Christiane,
Deine Etüde hat mich sehr angesprochen nicht nur der Mauersegler wegen.
So viele sind es hier dieses Jahr, mehr als seit zehn Jahren, allgegenwärtig auch jetzt ihr Schrei, und das, wo ich mir im Mai noch Sorgen machte, sie kämen nimmermehr. (diese Sorge ist ein echtes Dunkeltier in meinem Gespensterzoo).
Die Verantwortung für die Dunkeltiere hat mich sehr angerührt und nachdenklich gemacht.
Hat man sie?
Muss man sie hegen?
Oder ließe man sie besser verenden?
Das Verendenlassen liegt uns ja nicht so.
Ignorieren geht nicht, davon wachsen sie, das ist bekannt.
Aber bewusst aushungern?
Oder wenigstens auf Diät setzen?
Oder freilassen?
Laufen sie dann fort?
Zum wem laufen sie dann?
Stellen sie eine Gefahr für die Allgemeinheit da?
Lieber versuchen sie zu dressieren, ihnen Sitz, Platz und Männchen machen beibringen?
Ihnen sagen, wenn sie einen anspringen, ja du bist ein gutes Dunkeltier, aber nun mach fein Platz?
Stoff für unendlich lange Gedankenspiele. während die Mauersegler kreisen nimmermüd.
Danke dafür.
Einen schönen Abend wünscht
Natalie
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