Zu verschenken | abc.etüden

Sie war ambivalent. Sie liebte den Klang des Wortes, es hörte sich so viel melodischer und geheimnisvoller an als die Wahrheit: Sie war im Zwiespalt, zögerte, sich zu entscheiden. Sollte sie oder sollte sie nicht? War ihr Plan komplett bescheuert oder genial?

Noch einmal gab sie sich Phantasien hin, die süße Befriedigung versprachen – und schob sie weg. Ein neues Leben. Das war es doch, was sie wirklich wollte, ein Leben fernab aller Abhängigkeiten. Klar. Straight. Fit. Verantwortlich. Sensibel. Klimabewusst.

Sie sah sich selbst im Sessel hängen und verachtete ihre Schwäche.

„Mach es einfach“, schrie sie sich innerlich an, „los jetzt, Feigling, trau dich, tu einmal was nur für dich!“

Sie atmete tief durch.

Stand entschlossen auf, griff nach dem bereitstehenden Karton und kippte mit Schwung ihre gesamte Süßigkeitenschublade hinein. Ein energischer Griff – Plätzchenrollen aus dem Schrank und Schokoküsse aus dem Kühlschrank segelten hinterher. War das alles? Ja. Sie wusste es genau.

Den vollen Karton unter den Arm geklemmt, lief sie treppab zur Straße. Sie deponierte ihn an der Haltestelle, achtete darauf, dass das Schild „Zu verschenken“ gut sichtbar war, gönnte ihm einen endgültigen, erinnerungsseligen Blick zum Abschied und stapfte eilig zurück in ihren dritten Stock. Geschafft! Der Inhalt des Kartons fand bestimmt schnell Fans, um diese Uhrzeit waren viele Passanten unterwegs.

Sie warf sich auf die Couch und vermisste die Tröster jetzt schon. Aber sie würde es überleben, die ersten Tage würden schlimm sein und morgen würde sie bestimmt das Glas Nussnougatcreme leer fressen … Na und? Entscheidend war, keins mehr nachzukaufen. Sie war auf dem Weg zu einem weitgehend zuckerfreien Leben. Ihrer Gesundheit zuliebe, und nicht nur der.

Eine Verzweiflungstat? Keineswegs, dachte sie. Ein Befreiungsschlag.

 

abc.etüden 2019 36+37 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay (hier und hier), Bearbeitung: ich

 

Für die abc.etüden, Wochen 36/37.2019: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Ludwig, dem Etüdenerfinder, und lauten: Verzweiflungstat, ambivalent, hingeben.

Genug Drama in den letzten Tagen. Aber bevor sich jetzt jemand nach meiner geistigen oder sonstigen Gesundheit erkundigt: Danke, alles gut. Ich halte derartige Hauruck-Aktionen in den seltensten Fällen für wirksam. Wer aber dazu neigt, abends den Kühlschrank oder die Plätzchenschublade zu überfallen, dem hilft es möglicherweise, nichts im Haus zu haben …

Ein kritisches Auge auf den eigenen Zuckerkonsum zu haben, ist jedoch auf keinen Fall eine schlechte Idee.

 

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49 Kommentare zu “Zu verschenken | abc.etüden

  1. „ein Leben fernab aller Abhängigkeiten. (…) Verantwortlich. Sensibel. Klimabewusst.“ Grins. Wie ambivalent! Mein Volkskundedozent sagte einmal treffend: „Kultur kann mit Widersprüchen sehr gut leben.“ Schön geschrieben, danke!

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  2. Spätestens um die Weihnachtszeit wird sie rückfällig werden 🤗 vlt.schafft sie es nur, maßvoller zu naschen, denn was wäre die Welt für mich ohne Süßigkeiten ,es sei denn, ich hätte Diabetes. Dir einen mit Honigmitrosinenundnüssenmüsli versüssten Morgengruss,Karin

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    • „Zuckerfrei leben“ ist ja auch so eine angesagte Ernährungsblase, liebe Karin, die mit medizinischen Notwendigkeiten nicht unbedingt etwas zu tun hat. Und wenn man sich mal anschaut, wo und wie viel Zucker heutzutage überall enthalten ist, das gegen die WHO-Empfehlungen setzt und sich überlegt, welche Krankheiten durch Zucker zumindest begünstigt werden, dann kann man zumindest sehr nachdenklich werden. Dass Hauruck-Maßnahmen selten fruchten, steht auf einem anderen Blatt, aber mit irgendwas muss man ja anfangen.
      Liebe Grüße 😀🌧️😺
      Christiane, immerhin mit Kaffee ☕

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      • Liebe Christiane, natürlich sind die Ernährungsgewohnheiten heute zu überdenken, waren sie aber eigentlich schon immer, nur mich stört nach wie vor diese Verteufelung von allem. Das Maßhalten ist meiner Meinung nach die wichtigste Lektion, sei es Fleisch, Alkohol, Zucker, Zigaretten usw.usf.
        Die angeblichen Weltretter mit ihren ..ismen betreiben das aus einer Wohlstandsgesellschaft heraus, die fast nie unter Mangel gelitten hat und diese Missionierung stört mich ganz gewaltig.
        Die Menscheit muß umdenken, wenn sie ihre Lebensgrundlage auf diesem Planeten nicht zerstören will, aber dazu bedarf es ganz anderer Initiativen, bei denen vor allem Ausbeute kein Thema mehr ist.
        Aber das führt zu weit weg von Deiner „Süßen“.
        Lieber Gruß an Dich, Karin

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      • Klar hast du recht, liebe Karin. Aber ich bleibe dabei, dass man selbst anfangen kann (und vielleicht sogar muss), denn wenn man auf andere wartet, kann das leicht so eine Sache sein wie mit der freiwilligen Selbstkontrolle der Industrie … man wartet nicht bis fünf, sondern eher bis zehn nach zwölf. 😉
        Vielen kleine Initiativen schaffen ein großes Ganzes – und würden diese Initiativen nicht oft so dogmatisch daherkommen, wäre es leichter, mit ihnen zu leben, aber das nimmt ihnen nicht das Existenzrecht. 😁👍

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  3. Ich bin auch ein Süßmaul. Hönig in den Kaffee, Banane aufs Brot, jeden Tag ein Pudding-Dessert, abends ein paar Kekse. Aber alles in Grenzen.
    Ich denke, wenn man nicht mehr geniesst, sondern nur reinschaufelt, dann wird’s gefährlich. Und dann braucht’s den Kraftakt.

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  4. Die süßen Versuchungen gibt’s in unseren nordwestlichen Reichländern überall…
    ein Tribut an die sogenannte Wohlstandsgesellschaft. Und wer nicht süße Säfte trinkt, trinkt dann eben Alkohol mit … oder doch lieber Nullkalorienwasser?! *g*

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  5. Mutig, sich so den eigenen Süchten zu stellen! Mut braucht es sowieso und einen Willen, um Süchte loszulassen – nur eins mag ich nicht, wenn es zur Doktrin wird, wenn welche die Nase rümpfen, weil andere geniessen können, Genuss ist nämlich nicht Sucht, er kann es nur werden!
    Liebe Christiane, wieder eine Etüde mit Tiefgang, bei der man auch in sich selbst hinein horchen kann …
    herzliche Grüße
    Ulli

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    • Wenn wir es schaffen könnten, weniger zu eifern, wäre eh vieles leichter. Und den*die andere*n einfach leben zu lassen.
      Ich werde nie verstehen, warum das so vielen derartige Probleme bereitet.
      Herzlich zurück
      Christiane 😁😺🌞👍

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  6. nichts zuhause zu haben, ist die trefflichste Vorkehrung!

    Meine Mutter schickte mir mal in ein Erholungsheim einen Karton mit Süssigkeiten. Immerhin war ich ja 6 Wochen dort.
    Dort war man verdrossen ob des Geschenks und verteilte es flugs unter den Kindern. Als erzieherische Maßnahme.

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    • Ja, nicht, ich dachte mir, dass du/jemand das wiedererkennen würde. Hat gedauert, bis ich zugab, dass Chips im Schrank ziemlich häufig den Abend nicht überleben. Seitdem kaufe ich nur welche, wenn Besuch kommt. 😉
      Der Karton hat bestimmt große Freude ausgelöst *kopfschüttel*. Ich hoffe, du hast auch was von den dir zugedachten Gaben abbekommen … 😁
      Liebe Grüße
      Christiane 😀👍🌞🍬🍭

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    • Das ist die übliche Praxis, Gerhard, ich habe es auch erlebt und mich machte es traurig, weil ich sonst mit Süßigkeiten wirklich nicht verwöhnt wurde … Aber ich verstand es, die anderen hätten sonst zugucken müssen und wären neidisch gewesen.
      Einmal, bei einem anderen Erholungsaufenthalt, da war ich 7 Jährchen alt, bekam ich einen Brief meines Vaters und darin waren 6 Weingummischlangen. Eine durfte ich behalten. Das habe ich nie vergessen…

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  7. Eine Prise von dem Eifer deiner Protagonistin würde mir gut tun 😃.
    Ich finde es prinzipiell gut, bei sich selber anzufangen. Wenn es allerdings in blinden Aktionismus umschlägt, ist es zuviel des Guten. Dieser Grat kann schmal sein.
    Hat auf jeden Fall Spaß gemacht, bei dir zu lesen!

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    • Da gebe ich dir völlig recht, der Grat kann schmal sein. Ich denke, manchmal ist es okay, mit dem Paukenschlag anzufangen und dann zu schauen, wie es sich entwickelt.
      Liebe Grüße zum Wochenende
      Christiane 😁😺🌞👍

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  8. Ohne Zucker ist gar nicht so schwer, zumindest ohne Industriezucker. Man muss nur viel selbst herstellen, zB Brot. Irgendwann gewöhnt man sich dran, vor allem wenn man ohne kein Bauchweh mehr hat.
    Grüße, Katharina

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  9. Wieder so eine köstliche Wendung von dir.
    Dachte ich doch noch sie wolle in irgendein alternatives Wohnprojekt auf dem Land ziehen.

    Keine schöne Vorstellung mit den Fundevögeln an diesem Karton vorbeizukommen (also für mich, für sie schon;))

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  10. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 38.39.19 | Wortspende von Make a choice Alice | Irgendwas ist immer

  11. *schmunzel*, ich hätte an alles gedacht, aber nicht an Süßigkeiten, die es nun zu verschenken galt 🙂
    Ich bin zwar ein Süßschnabel, aber kontrolliere mich selbst täglich. Volllstopfen kann mich mich sowieso nicht. Da sag etwas in mir, das reicht jetzt und ich gehorche. Eigentlich immer.
    In einem Restaurant würde ich locker den Hauptgang ausfallen lassen, um ein lecker aussehendes Dessert stattdessen zu essen 🙂

    Herzlich, Bruni, am Sonntagnachmittag

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    • Ha, das klingt so, als ob du es gut hättest, liebe Bruni. Kann ich mir mal ein bisschen was von dir borgen? Wenn ich etwas essen mag, dann mag ich davon oft gern viel …
      Liebe Grüße
      Christiane am Abend, gerade mega im Stress bei der Schreibeinladung … 😉

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      • Ich bin ein sehr langsamer Esser, liebe Christiane, nicht, weil ich das will, sondern weil es halt so ist. Und das hilft mir wohl auch, nicht ZU viel Süßes zu essen. Aber so ganz ohne möchte ich nicht sein.
        Streß ist mies, bitte nicht zu lange, sonst wirst Du noch krank und wer soll sich dann um den Fellträger kümmern

        Liebe Grüße in die nächste Woche von Bruni an Dich

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