Vom Licht

 

Augen und Fenster haben noch nicht Licht genug

Blau und weiß und weiß und blau
Stehen die Wolken zerteilt zur Schau,
Liegt die Erde blank, frei wie ein grüner Teller
Und überreicht die Sonne als goldenes Ei.
Über mein Fenster streicht der Vögel Flug
Und fährt am silbergetriebenen Gewölk vorbei.
Augen und Fenster haben noch nicht Licht genug
Und erwarten der Liebsten wolkenfreies Gesicht
Und ihre Wünsche, die sie wie ein Gedicht ins Blaue spricht.

(Max Dauthendey, Augen und Fenster haben noch nicht Licht genug, aus: Lusamgärtlein, in: Gesammelte Gedichte und kleinere Versdichtungen, Albert Langen, München 1930, S. 243)

 

Auf die Reise

Um Mitternacht, auf pfadlos weitem Meer,
Wann alle Lichter längst im Schiff erloschen,
Wann auch am Himmel nirgends glänzt ein Stern,
Dann glüht ein Lämpchen noch auf dem Verdeck,
Ein Docht, vor Windesungestüm verwahrt,
Und hält dem Steuermann die Nadel hell,
Die ihm untrüglich seine Richtung weist.
Ja! wenn wir’s hüten, führt durch jedes Dunkel
Ein Licht uns, stille brennend in der Brust.

(Ludwig Uhland, Auf die Reise, aus: Sinngedichte, 1861, Online-Quelle)

 

Der Wächter der Lampe

Wachsein ist alles. Es kommt die Nacht
und keiner wird keinen erkennen.
Haltet wacht
und laßt die Lampen brennen.
Alles Werden ist wankend und ungewiß,
aber alles Ziel ist Reife.
Und das Licht leuchtet in der Finsternis,
auf daß sie es einst begreife.

(Manfred Kyber, Der Wächter der Lampe, aus: Genius Astri, 1918, Online-Quelle)

 

Sonnenuntergang | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay

 

Kommt gut in die neue Woche!

 

33 Kommentare zu “Vom Licht

  1. Den Dauthendey hab ich dank dir kennen gelernt – wie wundervoll die Gedichte von ihm sind. Und – ich freue mich jeden Montag morgen auf deinen Beitrag. Ein wundervolles Ritual beim ersten Kaffee, um sich auf die kommende Woche einzustimmen. Hab einen wundervollen Tag 🌼

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    • Kyber war Anthroposoph und offensichtlich in etwas bewandert, was Wikipedia/seine Zeit als „Okkultismus“ bezeichnet, wie ich erfahren habe, als ich ihn gegoogelt hatte – was mir erklärt hat, woher ich den Namen vage kannte.
      Ich war auch ganz bezaubert, als ich es entdeckt habe, liebe Gerda, danke! Für mich eindeutig das Highlight meiner heutigen Montagsgedichte.
      Liebe Grüße
      Christiane 😁😺👍❤️

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      • Da stimme ich Euch beiden sooo gerne zu, denn mir ging es ebenso. Auch wenn die anderen beiden inhaltsreich und wohlgefällig sind *lächel*, das von
        Kyber ziehe ich heute einfach vor, liebe christiane

        Gsnz herzlich, der Nachzügler Bruni *g*

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  2. Liebe Christiane,
    deine heutige Zusammenstellung bedeutet mir viel. Bi mir brennt gerade Tag und Nacht eine Kerze für den Seelenweg meines Bruders, am Abend vor der Tür knipse ich ein Solarlaternchen dazu für ihn an. So schwingen diese Zeilen mit meiem, was du allerdings ja nicht wissen konntest 😉
    Mich berührt wieder sehr Dauthendey, aber auch die Zeilen von Kyber, wieder jemand, den ich noch nicht kenne!
    Herzensdank und liebe Grüsse
    Ulli

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  3. Pingback: Hell und dunkel: eine Baumskizze, ein bearbeitetes Legebild, ein altes Foto, ein Gedicht | GERDA KAZAKOU

    • „Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt das, was wir befürchten, bestimmt.“ (Zitat von Ernst Bloch, wobei ich keine Quellenangabe habe.)
      Ja, wäre schön, und da „die Menschheit“ immer „die anderen“ sind, liegt es an einem selbst, etwas dazu beizutragen.
      Liebe Grüße, guten Morgen!
      Christiane

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