Von Herbst und Schatten

 

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg Deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern wenn die Blätter treiben.

(Rainer Maria Rilke, Herbsttag, aus: Das Buch der Bilder, 1. Buch Teil 2, S. 48, 1902 (Entstehungsdatum), Online-Quelle)

 

Herbst

Eine trübe, kaltfeuchte Wagenspur:
Das ist die herbstliche Natur.
Sie hat geleuchtet, geduftet, und trug
Ihre Früchte. – Nun, ausgeglichen,
Hat sie vom Kämpfen und Wachsen genug. –
Scheint’s nicht, als wäre alles Betrug
Gewesen, was ihr entwichen?!

Das Händesinken in den Schoß,
das Zweifeln am eignen, an allem Groß,
Das Unbunte und Leise,
Das ist so schön, daß es wiederjung
Beginnen kann, wenn Erinnerung
Es nicht klein machte, sondern weise.

Ein Nebel blaut über das Blätterbraun,
Das zwischen den Bäumen den Boden bedeckt.

Wenn ihr euren Herbst entdeckt:
Dann seid darüber nicht traurig, ihr Fraun.

(Joachim Ringelnatz, Herbst, aus: Gedichte, Gedichte von Einstmals und Heute, 1934, Online-Quelle)

 

MUSIK IM MIRABELL

Ein Brunnen singt. Die Wolken stehn
Im klaren Blau, die weißen, zarten.
Bedächtig stille Menschen gehn
Am Abend durch den alten Garten.

Der Ahnen Marmor ist ergraut.
Ein Vogelzug streift in die Weiten.
Ein Faun mit toten Augen schaut
Nach Schatten, die ins Dunkel gleiten.

Das Laub fällt rot vom alten Baum
Und kreist herein durchs offne Fenster.
Ein Feuerschein glüht auf im Raum
Und malet trübe Angstgespenster.

Ein weißer Fremdling tritt ins Haus.
Ein Hund stürzt durch verfallene Gänge.
Die Magd löscht eine Lampe aus,
Das Ohr hört nachts Sonatenklänge.

(Georg Trakl, Musik im Mirabell, aus: Gedichte, 1913, Online-Quelle)

 

Herbstwald, trüb | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay

 

Ich habe mit mir selbst einen Deal gemacht: Einmal pro Jahr poste ich Rilkes Herbsttag. Es ist mir (mit Verlaub) scheißegal, dass viele von euch damit vermutlich den Deutschunterricht assoziieren, dieses Gedicht hat sich seit vielen, vielen Jahren in mein Herz eingegraben, deshalb will ich es hier lesen. Außerdem werden Gedichte dadurch nicht schlechter, dass man sie öfter als einmal liest.

Ich bin heute vermutlich erst gegen Abend online, falls sich wer wundert, dass ich nicht antworte.

Kommt gut in die neue Woche, so oder so!

 

74 Kommentare zu “Von Herbst und Schatten

  1. Liebe Christiane,
    das Rilkeherbstgedicht ist tatsächlich das erste Gedicht, das ich von ihm kennenlernte, aber nicht in der Schule, das war sehr viel später. Und ich lese es immer wieder gerne und denke auch immer wieder an es.
    Die Verse von Ringelnatz nun sind mir neu, sprechen mich aber auch sehr an, wobei ich auch schmunzenln muss, denn warum sollen nur wir Frauen mit dem Herbst (=Alter) hadern?!
    Und Trakl lud mich ein das gedicht gleich mehrmals zu lesen.
    Herzensdank für deine Auswahl, hab einen guten Montag.
    Liebe Grüsse
    Ulli

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    • Vielleicht sollen nur wir Frauen mit dem Alter hadern, weil so wenige Männer es erleben? Es gibt ja zwei Möglichkeiten: Lebewesen können alt werden oder jung sterben. Beides hat seine Vor- und Nachteile.

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    • Das mit dem Hadern hat mich auch erheitert, liebe Ulli. Vielleicht kannte Ringelnatz mehr Frauen als Männer, die mit dem Alter, und damit mit dem (scheinbaren) Verschwinden von Schönheit und Jugend haderten, dass er dagegenhalten wollte?
      Liebe Grüße
      Christiane, die ebenfalls überlegt, ob dieses Rilke-Gedicht … keine Ahnung …

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  2. So wie die Jahreszeiten unumstößlich wiederkehren, so gehören manche Gedichte einfach dazu und warum sollten wir sie nicht immerwieder gern lesen oder hören, zumal ihre Poesie etwas in uns anrührt, dem wir uns nicht entziehen können.
    Komm gut nach Hause, möge Dich bunt gefärbte Landschaft rechts und links von Dir auf Deiner Fahrt begleiten, lieber Gruß mit einem Mijau von Karin und 🐈

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    • Die Fahrt war ausgesprochen erfreulich, kein Stau vor den Baustellen, freundliches Wetter, nicht viel los auf den Straßen … aber hier warteten in meinem Blogpostfach 191 ungelesene Mails. Gut, Benachrichtigungen die allermeisten, dennoch.
      Hinter mir liegt ein gewisser Fellträger auf der Heizung und schnurrt …
      Herzlich zurück, auch an deinen Katzenherrn
      Christiane

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    • Die letzte Strophe macht ganz bestimmt einen großen Teil seiner Beliebtheit aus, dieser Kontrast, diese Wendung von außen nach innen … nenn es, wie du willst.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  3. HERR, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß….. Daß Gedicht von Rilke berührt uns immer wieder, läßt uns daran denken, daß die „Sommerzeit“ und auch die „Herbstzeit“ unseres Lebens nur ein Augenblick der Ewigkeit war, und das der Zeiger unserer Lebensraum u aufhaltsam weiterwandert.Im Kreise, im Ringschluß. Immer neu drehten sich diese Kreise. Doch eines Tages bleibt der Zeiger unserer Uhr stehen. Aber nicht nur meiner/ Deiner / Eurer Uhren. Es gibt da noch ein anderes Ende: Das „Ende der Zeit“.Das „Ende der Welt“. Wer die Weisheitsbücher ein wenig gelesen hat, sollte das eigentlich wissen. Es wurde uns Menschen je eigentlich seit Anbeginn der Schöpfung gesagt…

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  4. Schlechter Unterricht kann leider viel verderben. Zum Glück kann man sich später davon distanzieren und die alten Dichter neu entdecken.

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    • Ja, da hast du recht. Das Problem ist, dass viele nicht zwischen der Literatur und dem Vermittler differenzieren. „Geh mir weg mit Gedichten, damit hat uns der Lehrer in der Schule immer gequält“ – wie oft habe ich das gehört. Schade, wirklich.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  5. Du bist die Herrin in deinem Bloghaus, liebe Christiane und was mich betrifft, ich liebe Rilke. Im Übrigen hast du ein gutes Händchen bei der Auswahl deiner Gedichte, da findet doch jeder etwas …

    Mit Gruß in die neue Woche,
    Anna-Lena

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  6. Hallo liebe Christiane, es passt doch auch jeden Herbst wieder ganz fantastisch und ich habe mich – wieder – sehr darüber gefreut 🙂 Schöne Woche und *kaffeerüberschieb* (frisch von Hand gemahlen und ganz klassisch im Porzellanfilter aufgegossen, hach, das duftet 😀 )

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    • Siehst ja, ich war unterwegs. Aber jetzt nehme ich deinen Kaffee gerne, ich will wenigstens heute noch durch meinen Blog laufen und Etüden lesen und Antworten/Kommentare schreiben …
      Sei herzlich gegrüßt
      Christiane

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  7. Es steht hier ungewollt 2mal. Das Herbstgedicht von Rille hat sich ja längst auch “ in m e i n Herz❤ eingegraben. Was dort eingeschrieben ist, bzw. Was dort wächst🌱 als winzig kleines Pflänzchen, ist das Wertvollste, was wir besitzen. Doch nicht um es zu besitzen, erhielten wir es, sondern um es weiterzugeben : an solche Menschen, die es ebenfalls als etwas sehr Wertvolles empfinden. Also nur mutig weiter in dieser Richtung! Was schert mich die Meinung anderer? Entweder tue ich mein Bestes, nach ehrlichem☺ Prüfen, im Denken an alle, – oder ich ziehe mich zurück, suche andere, neue Wege….

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  8. Liebe Christiane, du bist ja eine der Wenigen in Bloghausen, die mir mit Poesie kommen darf – gern auch kämpferisch und trotzig. Also auf der Schule hatten wir den Rilke nicht, aber den Satz „Wer jetzt allein ist…“ hab ich schon mal gehört, dachte aber dass das von einem der Romantiker ist, wie hieß der noch, der mit „Mitte des Lebens“ Hölderlin? Ach, pfeiff was auf die Bildung und Google. Sind alle drei tolle Gedichte.

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    • Falls du Hölderlin meinst, hieß das Gedicht „Hälfte des Lebens“. Das ist das mit den Schwänen, die ihre Häupter ins „heilignüchterne Wasser“ tauchen. Darauf muss man auch erst mal kommen. Ich hatte es mal auf dem Blog.
      Danke für das Kompliment mit der Poesie, das freut mich wirklich sehr.
      Liebe Grüße
      Christiane

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      • „ES LEBT?!“ -> Hammer. Das Autopict spricht zu dir, genau. Ich will nicht klagen, alles gut. Du erinnerst dich sogar noch? Gut… ja, ich war dann mal weg. Mal sehen, jetzt. Und ja, der Deutschunterricht. Trauma.
        Viele Grüße…

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        • Ich erinnere mich sogar noch an deine häufige Herbstbeschäftigung, bei der du unter die Blütencoiffeure gehst, bzw. Mutter Natur dabei ablichtest. Nein, das ist höchstens ein klitzekleiner Wink mit dem Zaunpfahl …
          Hab schon gedacht, du hättest das Bloggen aufgegeben.

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          • Sagen wir mal so, ich hab mich ein wenig zurückgenommen, da ich anderweitig genug zu tun hatte, oder eher tun wollte. Aus einer eigentlich kurzen Pause ist dann eine lange geworden, ein paar mal hab ich hier und da kommentiert, aber zu mehr hat es irgendwie nicht gereicht. Die letzte Energie zum Bloggen oder zum Veröffentlichen hat dann gefehlt, jetzt schaun wir mal.
            Ja klar, lang leben die Astern!
            🙂

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          • Wenn ich sehe, wie wenig Luft (nicht Lust) zum Etüdenschreiben ich oft habe, kann ich es mir gut vorstellen, wie es dir geht oder zumindest gehen könnte.
            Ja, schaun mer mal, ich bin gespannt, was kommt!
            Grüße in den wilden Süden! 🙂

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  9. Schöne Herbstgedichte, die sehr gut am Herbstmorgen zu lesen sind (sicherlich auch am Abend und Mittag und überall dazwischen, doch gerade ist Morgen und ich lese „nach“). Rilkes Herbstgedicht wäre viel zu schade, um es nur einmal im Leben zu lesen.

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  10. Da kommne ich so spät wie nie und es ist bei dir so voll wie selten 🙂 Du hast drei Hochkaräter ausgesucht, wie soll ich jetzt einen Sieger küren. Das klappt nicht, liebe Christiane. Ich schaffe es nicht. Rilkes Herbsttag war das Gedicht von ihm, bei dem ich weinte, als ich es das erste Mal hörte und es berührt mich heute noch so wie damals, nur weine ich nicht mehr dabei, stattdessen schreibe ich schnell weiter… Ringelnatz ärgert mich mit dem Satz, der Ulli auch aufgestoßen ist
    *Dann seid darüber nicht traurig, ihr Fraun.*
    Hätte er Frauen und Männer (von mir aus auch gerne, Männer und Fraun) geschrieben, hätte ich ihn *geküsst*, aber so?
    Tracl, der Wortgewaltige, was soll ich sagen, er ist über jeden Zweifel erhaben!
    Eine wundervolle Auswahl an herbstlichen Gedichten, die schöner und besser nicht sein könnte!
    Du kamst gesund und munter aus der *Fremde* *lach* wieder an? Juchhu!
    Was sprach der Fellträger? War er nicht erst mal beleidigt? Das können sie ja so verdammt gut zeigen, die süßen Fellmonster.
    Ganz herzlich, Bruni

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    • Meine Vermutungen zu Ringelnatz hatte ich ja schon geäußert, liebe Bruni, tja, andere Zeiten, andere Umstände. Ich bin bei meiner Auswahl dieses Mal voreingenommen, ich kann es nicht anders bekennen, aber ich dachte, ich habe wenigstens zwei Gedichte gefunden, die nicht zu sehr abfallen.
      Ja, ich bin gesund, munter und glücklich wieder zu Hause, wo diese Woche noch ein großer Berg Arbeit auf mich wartet, leider. Der Fellträger hatte eine Rundum-Kuschel-Betreuung durch zwei meiner Lieblingsmenschen, der war ziemlich relaxt (und nicht beleidigt), als ich wiederkam, hat dafür die letzten Tage aber bevorzugt auf meinem Schoß verbracht, wenn es ihm nicht zu umständlich war.
      Liebe Grüße am Morgen
      Christiane

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  11. Das Herbstgedicht von Rilke könntest du meiner Meinung nach im Herbst auch jede Woche bringen, ich hätte nichts dagegen. Nicht nur der Sommer war sehr groß, dieses Gedicht ist es auch.
    Abgesehen davon gefällt mir das von Trakl auch sehr gut, es ist reine Melancholie und so schwer wie Honiggebäck mit extra Butter…

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    • Ich mag sie alle, auch den Ringelnatz, der gern als so leicht angesehen wird, was meiner Meinung nach komplett falsch ist (Morgenstern ebenso).
      Freut mich, dass du den Rilke ebenso liebst wie ich. 😁
      Liebe Grüße
      Christiane ❤️👍

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  12. Leicht das Schwere sagen, das ist hohe Kunst. Es ist einer der Vorteile des Erwachsenseins, dass man sich eigene Urteile bilden und Rilke ganz, ganz wunderbar finden darf! 🙂 (Und Morgenstern auch!) Liebe Grüße zurück, Tanja 🙂

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