Von Zeit und Vergehen

 

Durch manchen Herbst

Durch manchen Herbst des Leidens
mußt du, Herz,
eh dich die letzte goldne Sichel mäht.
Schon späht
ihr blankes Erz
nach deinem dunklen Blut.
Wie bald, so ruht,
verströmend Gold,
es, Abendröten gleich
in jenem Reich
des Ewigen Abends,
welcher Friede heißt!
O süßer Geist
der Nächte,
sei mir hold!

(Christian Morgenstern, Durch manchen Herbst, aus: Melencolia, 1906, Online-Quelle)

 

Nächtens will ich mit dem Engel reden

(VIII)

Nächtens will ich mit dem Engel reden,
ob er meine Augen anerkennt.
Wenn er plötzlich fragte: Schaust du Eden?
Und ich müsste sagen: Eden brennt

Meinen Mund will ich zu ihm erheben,
hart wie einer, welcher nicht begehrt.
Und der Engel spräche: Ahnst du Leben?
Und ich müsste sagen: Leben zehrt

Wenn er jene Freude in mir fände,
die in seinem Geiste ewig wird, –
und er hübe sie in seine Hände,
und ich müsste sagen: Freude irrt

(Rainer Maria Rilke, Nächtens will ich mit dem Engel reden, Teil von: Gedichte für Lulu Albert-Lazard; Irschenhausen, 25. September 1914, aus: Rainer Maria Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, Insel-Verlag 1953, S. 258)

 

Weisst du – wo?

Weit – weit –
Hart an der Ewigkeit,
Über den Zeiten,
Ganz hinter Mitternacht,
Wo schauernd schreiten
Füsse der Geister sacht,
Wo gar kein Wald mehr
Und keine Wiese lacht,
Wo, dieses Lebens leer,
Schläft eines Oceans Macht
– Dort winkt ein Streifen Strand,
Dort kreist die Sehnsucht mein
Adlergleich, ganz allein,
Suchend nach Land.

(Karl Ernst Knodt, Weisst du – wo?, aus: Neue Gedichte, 1902, Online-Quelle)

 

See und Waldrand im Nebel | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay

 

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich finde den Rilke einigermaßen verstörend und ungewöhnlich.Das Gedicht ist mir neu, ich versuche gerade, mir einen Reim darauf zu machen. Aber wie dem auch immer sei: Kommt gut in die neue Woche.

(Hinweis in eigener Sache: Heute und morgen ist eine gewisse Anthologie noch kostenlos herunterzuladen – bitte hier weiterlesen!)

 

26 Kommentare zu “Von Zeit und Vergehen

  1. Rilke befand sich stets in Konflikten mit der ihm anerzogenen Religiosität. Seine kritische Auseinandersetzung damit trifft man nur viel seltener an.
    Wenn du erlaubst, setze ich hier im Kommentar einen Link zu einem gut lesbaren Beitrag auf der Webseite des Deutschlandfunks zu einer Sendung vom Mai 2015, in dem das sehr gut dargestellt wurde:

    https://www.deutschlandfunk.de/rainer-maria-rilke-das-musst-du-wissen-dass-dich-gott.886.de.html?dram:article_id=320773

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    • Mich verstört dieses „Freude irrt“. Ansonsten liebe ich Rilke (auch) wegen seiner Religiosität.
      Danke dir für den Link, ich mag das sehr, wenn jemand zusätzliche Infos teilt. Sehr interessant und sehr komprimiert, gefällt mir gut. Ich frage mich, von wem die Zitate sind, die erkennbar nicht von Rilke stammen.
      Ich würde deine Aussage abwandeln: Rilke war ein zutiefst religiöser Mensch, aber er befand sich stets in Konflikten mit der ihm anerzogenen Form des Christentums.
      Liebe Grüße
      Christiane 😁👍

      Gefällt 6 Personen

      • Die Zeile
        Freude irrt
        passt doch wundervoll zu seiner Person.
        Wäre er ein immer glücklicher/zufriedener Mensch gewesen, ohne Probleme und jeglichen Zwiespalt, dann hätte er nie diese Zeile *Freude irrt* geschrieben.
        Er wollte sich makellos und war es doch ganz und gar nicht. Aber er verbarg es meist so gut, daß gestern der Prof. in der Literaturvorlesung über ihn sagte:
        Er schrieb in Glacéhandschuhen.
        Ich verstand gut, was er meinte und doch lieben wir Rilke gerade deswegen

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        • Auf die Idee, Rilke sei immer glücklich und zufrieden gewesen, bin ich noch nie gekommen, liebe Bruni. Und auch wenn ich mich schon länger immer wieder mal mit Rilkes Vorstellungen von Gott beschäftigt habe (und ja, der Link ist prima), passt es für mich dennoch nicht.
          Klar, wir wissen es nicht. Es ist ein Gedicht aus einem Zyklus, möglicherweise gibt es Hintergründe, von denen wir nichts ahnen. Ich lege es auf die Stelle mit den ungelösten Rätseln.
          Liebe Grüße
          Christiane 😁😺❤️

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    • Danke; ein wundervoller Link. so viel wußte ich nicht von seiner Gläubigkeit, die nicht flüchtig, sondern stets fragend war!

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  2. Ja, dieses Gedicht von Rilke ist schon sehr hart. Einen schönen Start in diese Woche hast du uns bereitet, euch wünsche ich das Gleiche!

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    • Ich mag den Link, den Puzzleblume gepostet hat, das ist sehr interessant, was der Typ da sagt … das erklärt es nicht (in meinen Augen), aber es sagt ein bisschen mehr über Rilke aus.
      Liebe Grüße, schönen Abend dir und eine gute Woche!
      Christiane

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  3. Ich habe alle drei immer wieder gelesen und bei Rilke pochte mein Herz und ich verstand es auch erst, nachdem ich dem Link gefolgt bin, liebe Christiane.
    Zu flüchtig darf man es nicht lesen und ich mußte mich ziemlich zur Ordnung rufen 🙂 Aber er half mir zum Verstehen.

    Ganz herzlich, Bruni

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  4. ich zügle nach dies Mal, hatte nie die Ruhe, die ich für diese Gedichte gebraucht hätte. Nicht nur für Rilke, auch für die anderen beiden. danke für die Auswahl, ich lasse sie noch weiter in mir arbeiten. Liebe Grüße.

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    • Ich finde sie allesamt nicht leicht und nur scheinbar eingängig.
      Wenn sie etwas mit dir machen, freut mich das, das ist mehr als genug.
      Liebe Grüße zurück 😁👍

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  5. ps Ich sah grad – rätselnd wegen der Zeilen „Eden brennt“ und „Leben zehrt“ – dass das Rilke-Gedicht vom 26. September 1914 ist. Da war der 1. Weltkrieg zwei Monate alt. Speziell zum 26. Sept. 1914 lese ich: „Einer Havasmeldung zufolge haben die Deutschen gestern wieder die Beschießung der Kathedrale von Reims aufgenommen“.

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    • Ich hab jetzt nochweiter gesucht undgefunden, dass am 22. September 1914 die Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen in Brand geschossen wurde. Es gab einen ungeheuren Aufschrei der Empörung nicht nur in Frankreich, sondern in der gesamten Christenheit. Die deutsche Heeresleitung war bemüht, den Schaden klein zu halten, indem sie behauptete, die Beschießung von Reims sei notwendig gewesen, aber die Kathedrale hätte verschont werden sollen. Genutzt hat das wenig. Rilke hat der Brand selbstverständlich schwer getroffen – daher die Zeilen „— ob er meine Augen anerkennt“. Er hat den brand gesehen und war erschüttert. „Freude irrt“. . .

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        • So ist es. Hier Wiki:
          „Nach der Marneschlacht vom 5. bis 12. September 1914 hatten sich die deutschen Truppen in befestigte Stellungen nördlich von Reims zurückgezogen, die sie bis 1918 halten konnten. Die Stadt, die am 13. September von französischen Soldaten besetzt worden war, wurde aus diesen Stellungen heraus von der deutschen Artillerie beschossen. Ein Großteil des Stadtzentrums wurde dabei zerstört, auch die Kathedrale selbst wurde spätestens ab dem 17. September immer wieder getroffen. Am 19. September schlugen insgesamt 25 Geschosse in das Bauwerk ein und setzten zunächst das Gerüst am Nordturm in Brand. Bei seinem Einsturz beschädigte es den Skulpturenschmuck der Fassade. Das Feuer griff auf den Dachstuhl über, der völlig ausbrannte. Das Bleidach schmolz, auch ein großer Teil der mittelalterlichen Glasfenster wurde zerstört. Ab 1915 war die Fassade mit Sandsäcken geschützt, wurde aber bis zum März 1918 immer wieder zum Ziel des Artilleriebeschusses. Bei Kriegsende ragte das Bauwerk schwer beschädigt über den Ruinen der Stadt auf.[7]

          Aufgrund ihrer Bedeutung als Ort politischer und nationaler Identität Frankreichs sowie ihrer architekturgeschichtlichen Bedeutung wurde die Zerstörung der Kathedrale von Reims von der Kriegspropaganda beider Seiten ausgiebig kommentiert. Der deutsche Heeresbericht vom 22. September 1914 rechtfertigte den Beschuss mit einem auf einem Turm befindlichen französischen Beobachtungsposten.[8] Die französische und internationale Presse stellten die Zerstörung dagegen als Akt bewusster und gezielter Barbarei dar.[9]

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          • Auf mich wirkt das Gedicht so, als müsse es eine Fortsetzung finden. Rilke hatte damals Lou Albert-Lasard gerade erst kennengelernt, und er hat in diesen ersten Tagen einen ganzen Zyklus an Gedichten an sie geschrieben, daher suche/lese ich gerade in diese Richtung. Auf fembio steht: „Im September 1914 lernen sich Lou Albert-Lasard und Rilke kennen, beide zutiefst verstört vom Ausbruch des 1. Weltkriegs. Die gebürtige Lothringerin musste als Deutsche Frankreich überstürzt verlassen. Ihr schreckliches Erlebnis hält Lou in dem Gedicht »Kriegsausbruch« fest. Die Malerin und der Dichter stürzen sich in eine stürmische Liebesbeziehung, die nicht von Dauer sein kann.“

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