Vogelflug II | abc.etüden

Was ihr Mann zu einem Kurs „Divination – Antike und Neuzeit“ sagen würde, wusste sie, ohne ihn gefragt zu haben.
„Was willst du denn damit? Wahrsagerin werden?“

Nun, das war die Frage. Abgesehen davon, dass sie sich nicht sicher war, ob sie sich in esoterische Kreise begeben wollte (das Plakat hatte im Schaufenster einer sogenannten spirituellen Buchhandlung gehangen), war ihr beim Nachdenken darüber klar geworden, dass sie eigentlich nur eine einzige Zukunft interessierte: ihre.

Schön, sie hatte ein Faible für Geschichte und hätte beinahe mal Religionswissenschaften studiert. Der Gedanke an Zukunftsdeutung aus Vogelflug, Astrologie und Kartenlegen übte durchaus einen gewissen Reiz auf sie aus. Sie war jedoch ehrlich genug, sich selbst einzugestehen, dass die Zukunft an sich nicht das Problem war.
Die Frage war schlicht: Was sollte sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen? Die Kinder waren aus dem Haus, die Ehe mit ihrem Mann hatte das Funkeln verloren und war einem wärmenden, geschätzten Feuerchen gewichen. Liebe, ja, klar, aber irgendwo waren sie älter geworden und lebten manchmal ganz schön nebeneinander her und nicht miteinander. Sie war zu bequem und zu ängstlich, das für eine ungewisse Zukunft aufzugeben (auch das eine unbehagliche Einsicht), außerdem hatten sie beide hart dafür gearbeitet, genau diesen Status quo zu erreichen.
Aber in ihr war dieses … Loch. Es muss im Leben doch mehr als alles geben, schrie es beharrlich. Was fehlte? Sie wusste es nicht.

Draußen schwang sich ihr Mann auf sein Motorrad. Es würde eine der letzten Ausfahrten vor dem Winter werden. Hoffentlich war er vorsichtig, die Straßen waren oft laubbedeckt und rutschig, und er hatte erst letztes Jahr wieder mit dem Biken begonnen. Nicht auszudenken, wenn etwas passierte …
Motorradfahren. Ein Traum, eine alte Liebe.

Was war überhaupt aus ihren ureigensten Träumen geworden, überlegte sie. Hatte sie niemals welche gehabt?

 

abc.etüden 2019 43+44 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, bearbeitet von mir

 

Für die abc.etüden, Wochen 43/44.2019: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Ulli und ihrem „Café Weltenall“ und lauten: Vogelflug, ängstlich, schwingen.

Ich habe es dieses Mal Veronika nachgemacht: irgendwie dasselbe Thema, nur ein anderer Aspekt, eine andere Geschichte. Vielen Dank! Euch, so ihr habt, einen guten Feiertag!

 

44 Kommentare zu “Vogelflug II | abc.etüden

  1. Ich glaube, die Frage nach den Träumen, die frau vielleicht niemals gehabt hat, stellen sich viele (Frauen). So wie die Frage nach den eigenen Wünschen, sobald Kinder da sind. Hat frau sich je etwas anderes gewünscht als irgendwas für die (größer werdenden) Kleinen? Während man(n) krampfhaft versucht, weiterhin seinen eigenen Hobbys und Interessen nachzugehen, hat frau kaum die Muße, darüber nachzudenken, ob es solche Interessen überhaupt gibt. Und wenn die Kinder aus dem Haus sind, ist alles so lange her, dass es scheint, als wäre es nie wahr gewesen. Falls es das je gewesen ist.
    Ich habe mal von Weltreisen geträumt, fällt mir dabei ein. Ein teures, umweltfeindliches Hobby, sobald es nicht mehr nur geträumt ist. Aber preiswert und unschädlich, so lange es beim Träumen bleibt.

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    • Wenn mensch irgendwann in sich dieses Loch, diese Suche nach „mehr“ in sich entdeckt, dann gibt es viele Möglichkeiten, sie zu füllen. Ich bin da ganz klassisch geblieben: Die Kinder sind aus dem Haus, sie hat Zeit. Viele erwischt es vorher, dann sind wir bei „sich verwirklichen“ oder so.
      Wobei ihr Mann, ebenfalls ganz klassisch, ins Außen geht: das Motorrad. Die andere klassische Version wäre die Geliebte.
      Die Frage ist, ob sie jemals „Interessen“ hatte, die sie jetzt wieder aufnehmen kann, denn sehr häufig ist alles im Außen so langanhaltend und befriedigend wie ein neuer Pullover …
      Vielleicht muss man in relativer Sicherheit (materiell, psychisch) aufgewachsen sein, um sich Träume zu erlauben, die über die klassische Rolle hinausgehen? Eigentlich glaube ich das nicht, denn sonst würde es diese „Vom Nichts zum Superstar“-Geschichten nicht geben. Liebesheirat wurde auch erst populär, als man nicht mehr heiraten musste, um zu überleben …
      Viele Fragen, viele Überlegungen. Danke für deine, liebe Elke.
      Liebe Grüße
      Christiane

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    • Partnerschaften sind immer Kompromisse, lieber Werner, ja, unbedingt. Die Frage ist, wer was aufgibt und wer was gewinnt, und wie ausgeglichen das Verhältnis ist – aber wer führt da schon Buch?
      Ich weiß nicht, ob es eine Fortsetzung dazu geben wird, am Sonntag kommen die neuen Wörter, die sind anders … hmmmm, mal sehen.
      Guten Morgen, liebe Grüße
      Christiane

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  2. Jetzt musste ich tatsächlich erstmal den Begriff ‚Divination‘ nachschlagen; bin ich mal wieder der einzige der das nicht wusste? Aus dem Zusammenhang wars mir klar, aber Divination geht da noch weiter, was ich vermutete, du gehst mit den Religionswissenschaften ja auch in die Richtung. Ansonsten sehe ich im Text dann doch mein gesamtes Umfeld, und zum Abgleich habe ich noch deinen ersten Text samt Kommentaren gelesen. Hm. Diese Midlifecrisis-Hormon-Automatismen finde ich schwierig. So betrachtet bin ich schon 30 Jahre in meiner MC und sie hört nicht auf? Ist nicht ein Aspekt der, dass man irgendwann beginnt, alte und unerfüllte Wünsche von Zeit zu Zeit wieder mit Leben füllt und das funktioniert eben nur, wenn man wieder mehr Zeit hat? Also eine ganz normale Entwicklung? Es ist wie mit der Tafel Schokolade, eine Ecke ist lecker, und dann vernichtet man alles am Stück. Aber deshalb hat man keine Zuckerkrise… mir scheint die Geschlechtertrennung (Esoterik, Motorrad) auch real bzw. kann ich ‚meinen‘ Teil nachvollziehen. Das führt dann wohl auch zu gewissen Unzufriedenheiten, wenn einer der Partner sich die Freiheiten nimmt, der andere nicht. Vielleicht kann das aber auch der Benefit einer Partnerschaft sein, dass man den/die andere/n mal in die richtige Richtung zieht oder schiebt, wenn der eigene Mut oder der letzte Gedanke fehlt.
    Zum Schluss der Gedankensammlung noch ein Punkt: insbesondere Frauen scheinen (aus meiner Sicht) diesen Weg häufig nicht zu gehen, zum Einen, weil viele (meiner Generation) nicht diese ausgeprägten Hobbies aus der Jugend mitbringen, zum anderen weil sie sich nicht zu viel Gutes antun wollen, das macht ein schlechtes Gewissen. Vielleicht auch eine Form von Pietismus…. so, habe das am Kleingerät geschrieben und kann den Text nicht überblicken, egal… nice day!

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    • Ich glaube, dass diese innere Suche etwas ist, was viele (nimm Kreative als Beispiel) ganz ausgeprägt haben: Da geht dann zum Beispiel kein Leben ohne Musik oder Malerei, oder Schreiben. Ich kann sagen, dass ich das „immer schon“ hatte, in der einen oder anderen Form, aber ich bin ja auch nicht „normal“. Nur der Klassiker ist halt diese berühmte Midlifecrisis. Ansonsten ist es üblich, sich den Anforderungen des Lebens zu ergeben und seine eigenen wilden Träume (wenn man sie je hatte) hintenan zu stellen. Ja, Frauen eher als Männer, ja, interessanter Punkt mit dem Pietismus, könnte sein, dass man das „einfach nicht tut“, das erhöht den Druck dann noch zusätzlich.
      Aber das ist ja auch nicht nur schlecht, Gesellschaften funktionieren so, dass eben nicht jede*r das tut, was er möchte (wobei das eh nicht passiert; heutzutage gaukelt man es uns nur vor, Stichwort Pseudoindividualismus, die Folgen sind noch nicht absehbar).
      Ich komme auch dabei vom Hundertsten ins Tausende … du hast heute Feiertag, ich gestern, also genieß ihn und hab ein gutes Wochenende!
      Liebe Grüße
      Christiane

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  3. Gut geschrieben, auf den Punkt gebracht. Diese Unzufriedenheit mit dem, was aus dem Leben wurde, haben viele. Sie suchen dann meist die Lösung zunächst im Außen – der Kick, der die alten Leidenschaften wieder zum Erglühen bringen soll. Auch Frauen tun das. Und wenn das nicht so klappt (man wird ja auch älter), tröstet man/frau sich mit sogenannten Hobbys oder wird fromm und trainiert sich an, mit dem zufrieden zu sein, was das Leben eben gebracht hat und weiterhin bringt. Die wilden Träume von Weltreisen und Abenteuern brodeln noch ein Weilchen weiter, vielleicht reicht es auch noch für eine Urlaubs-Liebschaft. Doch das Hauptproblem, das der Unzufriedenheit zugrundeliegt, ist die Leere im ICH: Wer bin ich, was will ich, was trage ich durch mein Tun bei zum Weltgeschehen.

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  4. Da hast du ein immer wieder aktuelles Thema aufgenommen, liebe Christiane, das viele Paare beschäftigt. Oft sind es leider die Frauen, die sich erst einmal auf ihre alten Spuren wiederfinden müssen, um herauszubekommen was davon noch aktuell ist und was einfach in die Erinnerungsschachtel gehört.
    Herzliche Grüße
    Ulli und auch dir einen schönen und gemütlichen Feiertag, hier ist es grau, aber trocken …

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  5. Diese „Selbstverwirklichung“ von Frauen, war in meinem Bekanntenkreis vor 35 Jahren plötzlich „in“ und die Frauen stürzten sich in Abenteuer, meist mit neuem Mann und ließen rücksichtslos alles hinter sich …und keine davon war im nachhinein glücklich damit. In einer gelingenden Partnerschaft kann jeder zu seinem Recht kommen, wenn die Partner darüber sprechen und es sind nicht immer die Frauen, die zurückstecken. Wie viele Männer können aufgrund der Karriere kaum Hobbies entwickeln, weil die Zeit fehlt , die ihren Ehefrauen aber oft zur Verfügung steht.Bei mir war es in immerhin 53 Ehejahren so, dass mein Mann nach dem Auszug der Tochter mit 18 Jahren , bis dahin machten wir fast alles gemeinsam, vorwiegend Vereins-und Reisehobbies hatte (Bridge, Radeln, Wandern, Winzer),ich jeglichem Vereinstreiben abhold war, wir Konzerte/Museen immer gemeinsam besuchten und ich mich mit meinen Hobbies: Bücher, Lesungen, Schauspielabos und bei der Einrichtung der Wohnung ausgetobt habe. Wir respektierten die unterschiedlichen Interessen – natürlich ich auch ab und an murrend, weil ich viel allein war -:))
    Das gemeinsame Reisen, das wir viele Jahre auch gemeinsam betrieben, blieb leider auf der Strecke, aber das wußte ich beim Umzug ins neue Domizil schon.
    Ich habe nie von etwas anderem „geträumt“ , ich habe versucht, das, was machbar war, für mich zu erfüllen und meinem Mann ging es ähnlich, da gab es immer genug. Natürlich waren Kompromisse notwendig, aber das hat Werner oben schon vermerkt.
    Deine Protagonistin wacht jetzt plötzlich auf und ich wünsche ihr genug Energie, um etwas neu in ihrem zukünftigen Leben zu gestalten, wird nicht einfach für sie sein, es gehört auch Mut dazu…möge sie den haben. Das Loch, in das manche zu fallen drohen, ist ja nicht plötzlich entstanden, das war schon immer da, nur wird es plötzlich bewußt.
    Für ältere Menschen ist plötzlich die Hürde des Alleinseins nach dem Tod des Partners zu meistern und auch das fällt den Betroffenen oft sehr schwer, weil sie nie gelernt haben, etwas allein zu machen.
    Ein komplexes Thema…….

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    • Ein komplexes Thema, liebe Karin, das wird mir immer klarer, je länger ich darauf herumdenke. Danke dafür, dass du deine Überlegungen mit uns teilst. Ja, das Loch ist schon immer da, nur irgendwann fällt es auf (und/oder man hinein).
      Ich möchte dich auch gern auf Gerdas Kommentar verweisen, der es für mich eigentlich kurz und knapp auf den/meinen Punkt bringt – wobei man aus dem Thema ganz sicher Romane stricken könnte …
      Liebe Grüße
      Christiane in Eile, schon wieder mal, und frierend

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  6. Vllt ist Esoterik keine schlechte Idee. Manchmal findet man über die seltsamsten Umwege zu sich selbst. Wie das in Partnerschaften nach so langer Zeit aussieht, wage ich erstmal nicht zu mutmaßen. 😅
    Grüße, Katharina

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    • Esoterik ist, ernst genommen, ein Königsweg, was die innere Entwicklung angeht, denn über jeder Tür steht „Erkenne dich selbst“, wenn der Laden seriös ist. Alles andere sind entweder Geldmacherei (inklusive großer Versprechungen) oder Informationsveranstaltungen, die den Kern der Sache nicht berühren.
      Und Partnerschaften … verändern sich mit der Zeit.
      Liebe Grüße
      Christiane

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  7. außerdem hatten sie beide hart dafür gearbeitet….ja, das ist ein Argument, haha.

    Träume sind Schäume. Manche reichen nicht weit.
    Hatte ich Träume gehabt? Ist geachtet und respektiert werden ein Traum?

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  8. Eine Lücke in sich zu finden, ein Loch, erstmal, wenn die Kinder das Heim verlassen, das kennt wohl jede Frau. Ich verpasste es, weil ich mit 50 nochmal durchgestartet bin und hatte keine Zeit für Löcher, die mich herabziehen konnten. Die wollten später kommen und sie konnten nicht, weil da zu viel war, was mich ablenkte. Ich wußte nun endlich, wer ich bin. Und doch merke ich jetzt manchmal das, was Deine Protagonistin fühlte…
    Aber ich lasse es nicht zu *lächel*
    Aber was ist gegen ein wärmendes, geschätztes Feuerchen einzuwenden? (Du hast es so wundervoll geschickt formuliert)
    Daran verbrennt sich keiner und das ist gar nicht übel, denn Verbrennungen an zu großen Feuern können verdammt weh tun, liebe Christiane.
    Bezieht man das Selbstwertgefühl nicht aus sich selbst, hilft auch kein Esoterikkurs.
    Da ich immer gelesen habe, tue ich es auch heute noch und wie gerne und schreiben kann ich auch noch, auch wenn nicht jeder meiner Finger noch so gut tippt, wie noch vor einigen Jahren. Was ich nicht mehr schaffe sind Collagen und das tut mir wirklich leid, denn es machte mir große Freude, in den Nächten mit meinen Bergen von Fundstücken, u. a. Papier- und Stoffresten, meine Traumfiguren auf Papier zu bannen und mich dann am Ergebnis zu freuen. Ich verkaufe auch nicht mehr auf Flohmärkten, aber ich gehe immer noch auf Flohmärkte,
    weil ich ein unverbesserlicher Sammler bin.

    Ganz herzlich, Bruni

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    • „Bezieht man das Selbstwertgefühl nicht aus sich selbst, hilft auch kein Esoterikkurs.“
      Amen, liebe Bruni, das ist der Satz des Tages. Du hast ja so recht!
      Hab einen wunderbaren Sonntag!
      Liebe Grüße
      Christiane, überaus verspätet, aber aus Gründen 😁😺👍☕

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      • Der Satz des Tages *grins*, na sowas
        Verspätet? Liebe Christiane, alles total paletti
        Ich komme doch unentwegt zu spät *g*

        Lieber sonntäglicher Gruß von Bruni

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  9. „… hatte das Funkeln verloren und war einem wärmenden, geschätzten Feuerchen gewichen …“. Sehr schöner Ausdruck für die verloren vergangene Kreation in der Ehe. Und nun ist die Luft raus. Vor allem das sich-damit-arrangieren ist wohl das was am meisten nervt. Meine ich 🙂

    VG,
    René

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  10. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 45.46.19 | Wortspende von „Meine literarische Visitenkarte“ | Irgendwas ist immer

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