Von November und Vöglein

 

Vöglein mein Bote

Vöglein flieg fort, Vöglein komm wieder,
flieg zu der Liebsten hin und setz dich nieder,
sieh’ was sie tut, ob sie dem Fernnen gut,
ob sie an mich gedacht, Vöglein gib Acht!

Vöglein flieg fort, Vöglein komm wieder,
trag zu der Liebsten hin all meine Lieder!
Sag’ „er ist dein, kann ohne dich nicht sein,
lebt nur allein für dich!“ Vöglein so sprich!

Vöglein flieg fort, Vöglein komm wieder,
nimm ihren Liebesgruß auf dein Gefieder!
Wenn sie dich fragt und dir viel Schönes sagt
bring mir’s in raschem Flug, Vöglein sei klug!

(Johann Gabriel Seidl, Vöglein mein Bote, Online-Quelle)

 

Zwei Vöglein

Zwei Vöglein hatten sich lieb einmal,
Sie fanden kein Nest im Heimatland.

Zwei Vöglein wollten in süßeres Land,
Sie flogen und flogen unverwandt.

Zwei Vöglein wurden die Flügel schwer,
Ertranken beide im wilden Meer.

(Ernst Goll, Zwei Vöglein, aus: Im bitteren Menschenland. Nachgelassene Gedichte, 1912, S. 162, Online-Quelle)

 

Vöglein Schwermut

Ein schwarzes Vöglein fliegt über die Welt,
das singt so todestraurig …
Wer es hört, der hört nichts anderes mehr,
wer es hört, der tut sich ein Leides an,
der mag keine Sonne mehr schauen.
Allmitternacht, Allmitternacht
ruht es sich aus auf dem Finger des Tods.
Der streichelt’s leis und spricht ihm zu:
„Flieg, mein Vögelein! flieg, mein Vögelein!“
Und wieder fliegt’s flötend über die Welt.

(Christian Morgenstern, Vöglein Schwermut, aus: Auf vielen Wegen, Online-Quelle)

 

Möwe vor dunklen Wolken | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay

 

Ihr Lieben, nein, ich bin weder in Schwermut versunken noch hat der Fellträger ein Weh noch ist sonst irgendwas, danke, ich möchte besorgten Anfragen nur vorbauen. Es ist nur so, dass ich über drei Gedichte mit „Vöglein“ gestolpert bin, kurz schockiert war und dann dachte, na, es ist eben nicht immer alles nett.

Das soll euch aber nicht hindern, gut und sanft in die neue Woche zu kommen!

 

50 Kommentare zu “Von November und Vöglein

    • Danke dir sehr! Ich kenne Emily Dickinson nicht so gut, wie ich möchte, aber die Kraft in ihren Worten berührt mich immer wieder.
      Ich habe deinen Kommentar gekürzt, das hat Urheberrechtsgründe. Das ist bei Emily Dickinson zwar schon lange abgelaufen, nicht aber bei ihrem Übersetzer, der noch keine 70 Jahre tot ist (möge er sich noch lange bester Gesundheit erfreuen!). Daher darf das Gedicht ohne Erlaubnis nicht öffentlich zitiert werden, und soweit ich weiß, streiten sich die Gelehrten, wie viel von einem Gedicht man zitieren darf, wenn man es irgendwo anführt. Bei einem Text sind es in der Regel zwei, drei Sätze.
      Meine verlinkte Quelle hat diese Genehmigung auf jeden Fall, noch dazu führt sie Kottmann als Autor. Auf dessen Autorenseite findet sich der explizite Hinweis, dass alle seine Übersetzungen dem Urheberrecht unterliegen (hier, ganz unten).
      Sorry für die Predigt, ich weiß, dass du mir was Gutes tun wolltest 😉
      Liebe Grüße
      Christiane

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  1. Ja, passend zum Wetter und zum nicht hell werdenden Tag. Aber das ist halt so und kann uns zum Nachdenken anregen. Auch mit Schwermut und der dunklen Seite im Leben müssen wir leben.

    Liebe Grüße zu dir,
    Anna-Lena

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  2. Ich konnte kaum fassen, dass die „zwei Vöglein“ schon vor so langer Zeit erdichtet wurden. Scheint so, als ob die Menschheit sich nicht sehr geändert hat…
    Kommt gut in die neue Woche!

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    • Hab ich auch gedacht, wie sehr sich die Themen über die Jahrhunderte gleichen … Vermutlich gab es unglückliche Lieben schon im alten Ägypten vor 5000 Jahren …
      Liebe Grüße!
      Christiane

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  3. oh, der November, was gibt er uns für Gedanken und Gefühle ein, liebe Christiane
    Wenn mich eines der drei wirklich anspricht, dann ist es eindeutig der Morgenstern, der mir auch die Hoffung zeigt

    Ganz herzlich nach einem trüben, aber trotzdem richtig guten Tag, Bruni mit lieben Grüßen an Dich 🙂

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    • Das freut mich sehr, liebe Bruni, dass einer der drei Gnade vor deinen Augen findet 😉
      Ich fand den Seidl noch am hoffnungsvollsten.
      Liebe Grüße am grauen Morgen
      Christiane 😁🐱☕🕯️

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  4. Der Seidl hat schöne Worte gefunden, zu schöne, in meinen Augen, zu liebevollen, aber es ist toll, daß Du ihn wähltest. Jedem sollte gleich viel Aufmerksamkeit zukommen und bei diesem novembrigen Thema ist es nicht einfach, sich von schwermütigen Gedanken ganz frei zu machen und ich stürze mich immer voll hinein grummel, grummel
    Liebe Morgengrüße von Bruni

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  5. zweifellos ist der Goll auch gut und ziemlich geschickt, wie er es tut!
    Wenn man immer noch einmal liest, weiß am am Ende gar nicht mehr, wem man den Vorzug geben sollte *g*

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  6. Ich gleite mit den Gedichten nun ins Wochenende… novembermäßig… ich muss mich gerade ständig davon abhalten, schon adventlich zu schmücken. Gestern habe ich dabei einmal versagt, aber wirklich nur einmal… 🙂

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