Vom Sturm und dem Leben

 

Ich will den Sturm!

Ich will den Sturm, der mit den Riesenfäusten
Vom Boden der Alltäglichkeit mich reißt
Und mich hinauf in jene Höhen schleudert,
Wo erst das Leben wahrhaft Leben heißt!

Ich will den Sturm, der mit gewaltgem Athem
Zur lichten Gluth die stillen Funken schürt
Und, alle Kräfte dieser Brust entfesselnd,
Zum Siege oder zur Vernichtung führt!

Laß mich nicht sterben, Gott, eh meine Seele
Ein einzig Mal in Siegeslust gebebt –
Ich kann nicht ruhig in der Erde schlafen,
Eh ich nicht einmal, einmal ganz gelebt!

(Anna Ritter, Ich will den Sturm!, aus: Befreiung. Neue Gedichte, 1900, Online-Quelle)

 

Vorgefühl

Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben.
Ich ahne die Winde, die kommen, und muß sie leben,
während die Dinge unten sich noch nicht rühren:
Die Thüren schließen noch sanft und in den Kaminen ist Stille;
die Fenster zittern noch nicht, und der Staub ist noch schwer.

Da weiß ich die Stürme schon und bin erregt wie das Meer.
Und breite mich aus und falle in mich hinein
und werfe mich ab und bin ganz allein
in dem großen Sturm.

(Rainer Maria Rilke, Vorgefühl, aus: Buch der Bilder, Erstes Buch, 1906, Quelle)

 

Der Sturm

Steht ein Rosenstrauch in deinem Garten
und er ist noch gar nicht grün.
Und du kannst es kaum erwarten,
daß die erste Knospe komme, zart und dünn,
und daß sie verkünde neues Leben.
Wartest, wartest voller Angst und Beben,
bis ein Morgen kommt – und sie ist da.

Und sie ist so fein und schlank und hell,
ganz geschlossen noch und kaum gesehn
und du möchtest, daß sie aufbricht, ganz, ganz schnell,
da du weißt, wie rasch die Zarten untergehn.
Doch es enteilt ein Tag und es enteilt ein zweiter
und die Himmel werden blauer, werden weiter
und die Knospe bricht nicht auf.

Und du weißt: wenn jetzt ein Frost kommt, stirbt sie,
stirbt und hat das Leben nicht gelebt.
Möchtest gerne helfen und weißt doch nicht wie,
fürchtest sehr, daß nicht ein Wind sich hebt,
der sie dir vom Stamme bricht –
in der Nacht, du schläfst und siehst es nicht,
und sie ist bei Tag schon tot.

Kommt dann eine Nacht, und Stürme brausen um dein Haus,
um dein Haus, mit den verschloßnen Toren.
Und du bäumst dich auf und willst und willst hinaus
und dir klingt’s wie Wimmern in den Ohren.
Endlich bist du draußen – und du siehst den Rosenstrauch dir an –
Sieh – es ist die Knospe aufgebrochen.
Was die Sonne nicht vermocht’ in langen Wochen,
hat ein einz’ger Sturm getan.

(Selma Meerbaum-Eisinger, Der Sturm, März 1941, aus: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt, Online-Quelle, mehr zu Selma hier)

 

Gewitter hinter Baumsilhouetten in der Nacht | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay

 

Klar, dass es heute Sturmgedichte sein müssen, oder? Kommt gut durch den Sturm und in die neue Woche!

Update: Musik zum Tag. Enjoy!

 

 

 

54 Kommentare zu “Vom Sturm und dem Leben

  1. Gegen Lebensstürme habe ich ja nichts , auch wenn ein Mensch mich im Sturm erobert -:)) aber wenn so ein stürmisches Frauenzimmer mir hier oben alles durcheinander wirbeln will, dann würde ich ihr gern den Eintritt verweigern, was auch für die männlichen Vertreter gilt. Es ist aber nichts passiert, der Sichtschutz hat gehalten, lediglich die Tannenzweige, die ich zum Schutz der Rosen für eventuelle Spätfröste aufgehoben habe, liegen verstreut herum. Um 01.30 Uhr war ich nochmal draußen, um nach dem Rechten zu sehen, da bin ich aber schnelll wieder in die Wohnung.
    Mein Vierbeiner hat keinen Versuch unternommen, die Lage draußen zu peilen, erst heute Morgen war er wieder mutig. Es bläst immer noch kräftig und schauert, aber das Schlimmste scheint vorbei zu sein.
    Lieber Gruß vom Dach, Karin , die Deine Auswahl sehr mag.

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    • Die Wetterkarte im Moma zeigte die Sturmfront aktuell im Süden, so Höhe Schwarzwald. Soll heißen, momentan dürfte vermutlich Ulli gerade ihr Dach festhalten.
      Hier liegen kleine abgerissene Äste herum, weiter habe ich mich noch nicht rausbewegt. Heute Nacht war es heftig. Aber der Fellträger pennt, damit ist die Welt erst mal in Ordnung. 😼😁👍
      Liebe Grüße nach dem Sturm
      Christiane 😀☕🥐👍

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  2. Obwohl der geschätzte Rilke dabei ist, ist diesmal das erste mein absoluter Favorit. Das muss ich mir unbedingt merken!

    Und nun versuche ich vermutlich für den Rest des Tages, Tokio Hotel und Helene Fischer aus meinem Hirn zu verbannen, herzlichen Dank … 😉

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    • He, wir haben auch noch Billy Joel und die Doors im Angebot!!! 🤣
      Und wenn du ein von dir geschätztes Sturmlied hast, dann gerne her damit! 😉👍
      (Sturm gut überstanden, hoffe ich?)
      Liebe Grüße
      Christiane 😁☕🥐👍

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      • Ja, aber die kamen nach den Kaulitz-Brüdern und Helene, da war der (Sturm-)Schaden schon angerichtet. 😉 Außerdem mag ich die Doors nicht …

        Ich hätte „Calm after the storm“ von The Common Linnets im Angebot, oder auch „Stormwind“ von Europe. Nur für Ersteres dürfte es teilweise noch zu früh sein und Letzeres kennt kein Schwein. 🙂

        Ich selbst hab den Sturm gut überstanden, lediglich eine Dachziegel kam runter, was hoffentlich im Laufe des Tages gerichtet wird. Dass sämtliche Bäume im Garten noch stehen, wundert mich allerdings sehr, das war seinerzeit bei Kyrill anders, da ging gefühlt der halbe Baumbestand drauf.

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        • Okay, wenn du die Doors nicht magst … 😩
          Die Common Linnets finde ich auch (noch) zu sanft. Europe dagegen habe ich völlig unterschätzt, wenn die so was wie „Stormwind“ häufiger gemacht haben, was ich tatsächlich nicht weiß, weil ich von denen immer nur „Final Countdown“ im Ohr habe, was ich inzwischen rechtschaffen hasse. Coole Mucke! Vielen Dank! 😁👍
          Ich werde später mal zu einem Erkundungsgang aufbrechen, ob der Sturm an meinem Lieblingsteich Bäume ins Wasser gerissen hat. Aber dazu muss es erst mal aufhören zu regnen, was ebenfalls gegen Abend der Fall sein soll. 🌬️🌧️🌦️
          Nix wirklich Schlimmes also, gemessen an der Hysterie, die ausdauernd verbreitet wurde.

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          • Was Europe angeht, so klangen die frühen Alben – also alles vor „The Final Countdown“ – im Grunde durchgehend so. Später wurde es dann eeeetwas ruhiger. Vom Folgealbum nach „The Final Countdown“ fallen mir als Anspielstipps „Ready or Not“ und „Never say die“ ein. Vom danach folgenden Album „Prisoners in Paradise“ fällt allenfalls „All or Nothing“ in diese Kategorie, klingt dafür aber eher simpel. Dafür enthält das Album mit „Homeland“ meine Lieblungsballade der Band.

            Nach der Reunion 2004 sind in erster Linie die Alben „Start from the dark“ und „Bag of bones“ empfehlenswert, da geht es auch wieder ein bisschen mehr zur Sache. 😉 Im Detail kann ich dazu aber nicht mehr viel sagen, weil ich seit 2004 weitgehend raus bin – und mich gerade frage, warum eigentlich …?! 😉

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          • Ich frage mich gerade, ob du nicht vielleicht mal ein Musikeckchen auf deinem Blog aufmachen solltest?!
            Danke jedenfalls für die ausführliche Antwort nebst Anspieltipps, ich werde es zu würdigen wissen! 😁👍

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          • Nein, das sollte ich bestimmt nicht. 😉 Neben Europe kenne ich mich allenfalls noch sehr gut mit dem Werk von Matchbox Twenty aus, aber das war es dann auch schon. Ich hab schon ewig keine Alben mehr gekauft … 😦

            Oh, und: Keine Ursache! 😉

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  3. Das erste Gedicht ist auch einprägsam, ja, wobei ein zu starker Sturm in mir mehr Zerstörung als Genuss bereitet und ihn dämpfen muss; das dritte Gedicht hat mich dieses mal aber ganz besonders berührt, die Dichterin kannte ich noch nicht und habe gleich mal geschaut, was es in der Bibliothek von ihr zu lesen gibt.

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    • Selmas Geschichte ist so eine Anne-Frank-Geschichte. Ich habe unter dem Gedicht einen weiterführenden Link angegeben, dort findest du viel von ihr und über ihr Leben zum Einlesen.
      Freut mich sehr, dass es dich anspricht, ich finde sie sehr besonders und empfehle sie sehr gern weiter.
      Liebe Grüße
      Christiane 😁☕🥐🌬️🌦️👍

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  4. Liebe Christiane,
    heute habe ich Rilke nicht erkannt. Ja, er war vielseitig.
    Von einem Sturm der Begeisterung getragen zu werden, ja, das kann man sich schon wünschen, nur bitte nicht von einem Sturm, namens Sabine. Und die Rose? Ist eine Rose, ist eine Rose in Sonne und im Sturm …
    Herzensgrüße an dich
    Ulli ❤

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    • Manchmal ist der „Rilke-Sound“ tatsächlich bisschen schwächer, nicht wahr? Ich kannte das Gedicht, ich stolpere also über typische Formulierungen, gerade dieser letzte Satz …
      Aber Selma kann man gar nicht genug promoten, viele ihrer Gedichte sind so schön und so zeitlos …
      Dir alles Liebe für deine Pläne und überhaupt und bis bald
      Christiane ❤️😁🌬️🌧️👍

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  5. Anna Ritter kannte ich bisher noch nicht, aber der Lebenshunger in ihrem Gedicht hat mir schwer beeindruckt.
    Hier hat es ordentlich gestürmt, aber es war bei weitem nicht so schlimm wie damals bei Kyrill. Gut, dass ihr auch unbeschadet davon gekommen seid.
    Kommt gut in diese Woche!

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    • Dann war es bei dir so wie bei den meisten anderen. Gut zu wissen.
      Ja, Anna Richter … heute würde man „authentisch“ sagen, nicht?
      Liebe Grüße in deinen Abend
      Christiane 😁😼🍷👍

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  6. ooh, Rilke
    mit einem seiner berühmtesten. Wir käme ich an ihm vorbei
    *Und breite mich aus und falle in mich hinein
    und werfe mich ab und bin ganz allein*
    Die schönsten Zeilen für mich hieraus, liebe Christiane, aber dann finde ich die Selma und ich lese, lese
    *Und du weißt: wenn jetzt ein Frost kommt, stirbt sie,
    stirbt und hat das Leben nicht gelebt.*
    und es kam der *Frost* und sie lebte nicht mehr, die blutjunge Selma und das nur, weil sie Jüdin war…

    Traurige Grüße von Bruni an Dich

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  7. Gedicht Nr. 1 ist auch mein Favorit…was immer sie auch gemeint hat in der dritten Strophe: „Laß mich nicht sterben, Gott, eh meine Seele
    Ein einzig Mal in Siegeslust gebebt –“
    ich kann mir vorstellen, dass eine Frau 1900 kein so lustiges freies Leben hatte. Mit der Dichterin würde ich gerne mal sprechen – aber das geht ja leider nicht. Ich stelle mir grade vor, wie interessant es wäre, die Situation der Frauen damals und heute zu vergleichen. Ich befürchte, es gäbe noch einige Parallelen…

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    • Wir sind voll in den 50ern, maximal 60ern, ich habe schon mehr als eine Frau gehört, die da Vergleiche gezogen hat und beunruhigende Parallelen fand. Ich weiß auch entschieden zu wenig von/über der/die Dichterin.
      Freut mich, dass gerade dies Gedicht in seiner Unbedingtheit so viele anspricht – mich ja auch.
      Liebe Grüße
      Christiane 😀☕😼👍

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