Von Gelüsten und Karneval

 

Karneval

Väter, hört mich, Mütter, hört die Mahnung,
Jetzt kommt wieder jene Zeit – versteht! –
Wo so manche Tugend ohne Ahnung
Der Besitzerin abhanden geht.

Beute suchend schleicht umher das Laster;
Wer ist sicher, daß ihm nichts geschieht,
Wenn man jetzt der Busen Alabaster
Und beim Hofball auch die Nabel sieht?

Von den Blicken kommt es zur Berührung,
Irgendwo zu einem Druck der Hand,
Und so manches Mittel der Verführung
Sei aus Scham hier lieber nicht genannt!

Wenn an hochgewölbte Männerbrüste
Sich das zarte Fleisch der Mädchen drängt,
Regen sich von selbst die bösen Lüste
Und was sonst damit zusammenhängt.

Darum Eltern, wenn die Geigen klingen
Und die Klarinette schrillend pfeift,
Hütet eure Tochter vor den Dingen,
Die sie hoffentlich noch nicht begreift!

(Peter Schlemihl (Ludwig Thoma), Karneval, 27.01.1903, Zeitschrift „Simplicissimus“, Online-Quelle)

 

LEBEN WIE KARNEVAL

Jeder summt sein Sümmchen
Oder brummt sein Brümmchen
Wie ein Bär oder wie ein Bienchen,
Wenn er ganz in sich
Hindöst. – Aber öffentlich
Zieht dann jeder, jede,
Jedes sein Mienchen. – – –

(Fällt mir plötzlich ein Gerede
Ein, eines Arztes mit schizophrenen Fraun.
Hielt der Arzt sie heimlich lieb am Zügel.
Sagte eine: „Hängen Sie meinen
Linken Lungenflügel
An den Gartenzaun!“)

Jedes flucht sein Flüchlein,
Wenn’s nicht ging, wie’s ihmnach gehen soll.
Manches weint ein Tüchlein
Oder scheißt ein Höslein voll.

Das störend niedrige Geschmeiß
Ist schwierig zu erreichen.
Es bleibt Gesetz: Die Schnake weiß
Dem Kuhschwanz auszuweichen.

(Joachim Ringelnatz, Leben wie Karneval, aus: Flugzeuggedanken, Berlin 1929, Online-Quelle)

 

Aschermittwoch

Gesten noch ging ich gepudert und süchtig
In der vielbunten tönenden Welt.
Heute ist alles schon lange ersoffen.

Hier ist ein Ding.
Dort ist ein Ding.
Etwas sieht so aus.
Etwas sieht anders aus.
Wie leicht pustet einer die ganze
Blühende Erde aus.

Der Himmel ist kalt und blau.
Oder der Mond ist gelb und platt.
Ein Wald hat viele einzelne Bäume.

Ist nichts mehr zum Weinen.
Ist nichts mehr zum Schreien.
Wo bin ich –

(Alfred Lichtenstein, Aschermittwoch, 1914, aus: Gedichte und Geschichten 1919, Online-Quelle)

 

Maskenzauber Hamburg 2020 | 365tageasatzadayQuelle: ichmeinerselbst, anklicken macht groß!

 

Nein, natürlich habe ich nicht vergessen, dass ich euch noch die Maskenzauber-Bilder zeigen wollte. Das will ich auch weiterhin, es ist nur gerade ein bisschen viel los …

Kommt gut in und durch die neue Woche, ob mit Karneval oder ohne …

 

47 Kommentare zu “Von Gelüsten und Karneval

  1. So schillernd wie Deine Masken – wobei die schwarz-weiße hinreißend ist – liest sich Deine Auswahl und der Ringelnatz ist mal wieder schonungslos, bitterbös und köstlich.
    Euer Wahlergebnis macht Freude, ist zum Glück keine Narretei!
    Einen lieben Gruß zu Dir und der Kratzbürste, Karin

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    • Da sind auch dieses Jahr wieder so einige hinreißende Masken dabei, auch die rechte mit dem Vogel hatte es in sich. Ringelnatz ist speziell, und ich fand dieses Gedicht so überaus passend.
      Die Wahl: Schön, es hätte auf dem Stand der ersten Prognosen bleiben dürfen, aber ich will nicht meckern. Möge es gelingen.
      Die Kratzbürste ist der liebste Fellträger von Welt. Natürlich! Zurzeit spricht er wieder viel.
      Herzliche Grüße auf dein Dach, ist Hanau nach Karneval und/oder Umzügen?
      Christiane 😁😼☕🥐👍

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      • Der Umzug in Hanau wurde abgesetzt, wie auch in vielen anderen Gemeinden:
        https://www.hessenschau.de/panorama/fastnacht-im-zeichen-des-anschlags-von-hanau,fasching-umzuege-absagen-nach-anschlag-hanau-100.html
        Da ich trotz meines Geburtstdatums kein Faschingsnarr bin, mich aber auch nicht an diesen ganzen Mahnwachen, Demonstrationen usw. beteilige, weil mich die Scheinheiligkeit Vieler ärgert, ziehe ich mich eher in meine Wohnung zurück.
        Fasching Frust und Freude: wie tröstet man gestern am Spätabend nach dem Jedermann in der U-Bahn einen kleinen Jungen, der ganz viele Süßigkeiten gesammelt hatte, sie mir stolz präsentierte und dem von der Mutter befohlen wurde, sie jetzt mit seinen Freunden teilen zu müssen, da sonst seine Zähne noch schlechter würden? Er beteuerte immer wieder: er hätte sie doch gesammelt und die Tränen kullerten. So etwas hätte ich meiner Tochter, wenn überhaupt, vorher gesagt – ich empfand das als grausam.
        Besonders liebe Grüße bzw. einen Streichler an den liebsten, erzählfreudigen wieder Sanften von mir -:)))

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        • Soll er sie halt bunkern, der Junge, und jeden Tag was davon essen, nicht alles auf einmal. Teilen würde ich auch nicht wollen, nicht, wenn ich mich dafür in den Dreck geschmissen und mich wie wild gefreut habe …
          Danke für den Link.
          Ich kann dieses mediale Ausschlachten auch noch der letzten Träne ebenfalls gar nicht gut ab. Nur kann ich in diesem Fall natürlich leichter wegsehen als du.

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          • Ich hatte schon bei Xenanina geschrieben, dass ich bei meinen türkischen Händler dem Sohn, der wie versteinert hinter der Theke stand, weil er all die dort Getöteten und Verletzen kannte, meine Hand reichte und ihm über den Arm streichelt habe und er mir ein ganz zaghaftes Lächeln schenkte. Sonst necken wir uns immer. Dieses Miteinander wird wahrscheinlich hier weiter funktionieren, vielleicht auch manche deutsche Maulhelden mit ihrem Urteil über „die Türken“ verstummen lassen.
            Denn es gibt hier genug Deutsche mit anderem Migrationshintergrund, die anders denken. Dieser Händler ist in der dritten Generation hier tätig und sein Sohn wird der erste sein, der nach dem Abitur studiert, auch sie alle längst Deutsche. Wichtig ist für mich, immer mit ihnen , den anderen Kunden dort zu reden .

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          • Wir scheren gerne und leicht alle „anders“ Aussehenden über einen Kamm, vor allem medial. Vielleicht hilft es ja, dass jetzt ein paar mehr auf beiden Seiten die Augen aufmachen und handeln.

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  2. Der Karneval ist ja schon eingetrübt, nicht nur in Hanau, auch in Venedig oder auch ganz simpel im Rheinland und in Hessen, bedingt durch den Wettergott.

    Dafür stimmen mich die Nachrichten aus Hamburg ganz froh – mit leichten Einschränkungen natürlich. Doch in der jetzigen Zeit ist man über jede Form von stabilen demokratischen Mehrheiten froh.

    Schön, deine Gedichtauswahl, mal wieder vielseitig und von jedem etwas …

    Liebe Grüße,
    Anna-Lena

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    • Hier ist es noch trocken, aber es soll zuziehen. Orientiere ich mich an dem Fellträger, ist ein Drin-Tag angesagt. Ich wünsche allen, die in Sachen Karneval unterwegs sind, dass sie heil und trocken wieder heimkommen!
      Die Wahl ist auf jeden Fall (fast) okay, allerdings, zu auch meiner Erleichterung.
      Liebe Grüße
      Christiane 😁😼☕🍪👍

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  3. Mein erster Gedanke war wie Annette, erstaunlich, dass sich nicht viel geändert hat.
    Hier im Rheinland sind ja viele Umzüge gestern den Wetter zum Opfer gefallen, tut mir immer etwas leid für die Kleinen, die sich oft so sehr darauf freuen.
    Kommt gut in die neue Woche!

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    • Wenn ich mich auf etwas freue/gefreut habe, dann sind Absagen immer eine Katastrophe. Wetter ist allerdings als Grund noch mit am leichtesten zu akzeptieren, finde ich.
      Liebe Grüße, auch dir eine gute Woche!
      Christiane 😁😼☕🍪👍

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  4. @ Karin,

    ich gebe dir bedingt recht und verstehe dich sehr gut, wenn dir mehr daran liegt, persönlich mit direkt oder indirekt Betroffenen im Gespräch zu sein.
    Doch wir müssen Zeichen setzen und uns positionieren und wenn Demonstrationen und Mahnwachen Zeichen dafür sind, so ist das gut und richtig. Scheinheilige hast du leider genau so viele wie Mitläufer und andere Mitschreier.

    Einen lieben Gruß zu dir aufs Dach,
    Anna-Lena (in der karnevalistischen Diaspora 🙂 )

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    • Wir haben ehemalige Türken, inzwischen schon lange Deutsche, in der unmittelbaren Verwandtschaft. Sie gehören zu uns. Alles Familie *g* und die Probleme mit ihnen sind weder größer noch kleiner als die mit den deutschen Verwandten. Das Reden miteinander führt zusammen und das Zusammensein zum Verstehen. Manches verstehen wir nicht, akzeptieren es aber und kommen gut miteinander klar. Nun schon viele Jahre..

      Deine Fotos sind spitzenklasse, liebe Christiane. Ich hoffe sehr auf Deine Maskenzauberbilder!

      Deine Gedichteauswahl hat es wieder in sich. Ich erkannte mit Freude Ludwig Thoma, von dem man ja heute kaum noch hört. Früher habe ich ihn sehr gerne gelesen, z.B. seine Lausbubengeschichten und fast hätte meine zweite Tochter einen Namen aus diesem Buch bekommen. Dann wurde er doch ein wenig anders und ich bedauere es heute noch.
      Ringelnatz erkannte ich nach der ersten Zeile und grinste fröhlich, während ich seine spitzfindigen Worte las.
      Der dritte der Dichter war mir unbekannt, aber auch seine Zeilen sind es wert, genau gelesen zu werden und das habe ich dann auch gemacht 🙂

      Liebe Grüße am Faschingsdienstag von Bruni nach Hamburg

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      • Lichtenstein war ein ganz Junger, einer von den vielen Expressionisten, die im Ersten Weltkrieg geblieben sind. Ich hatte letztes Jahr schon ein Gedicht von ihm auf dem Blog.
        Danke, dass du eine Lanze für Thoma brichst, dessen freundlichen Spott ich sehr wohltuend fand. Und Ringelnatz ist eben Ringelnatz …
        Reden hilft (immer), liebe Bruni, solange beide Seiten reden und zuhören(!) wollen. Man muss nicht alles verstehen, aber gerade wenn man zusammenlebt, sollte/muss man zu einer Form des Einander-Respektierens finden. Jeder hat schließlich Pickel irgendwo. 😉
        Ja, die Maskenzauber-Bilder … die dauern vermutlich noch ein bisschen, aber hoffentlich nicht mehr allzulange. 😔
        Liebe Dienstagsgrüße (ohne Fasching) in den bewegten Süden
        Christiane 😁☕🌧️🌬️👍

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        • Vermutlich bin ich Lichtenstein auch schon mal begegnet, aber hängengeblieben scheint er bei mir nicht zu sein 🙂
          Die anderen beiden: ein Traum von besonderer Güte *lächel*.
          Im 1. Weltkrieg sind so viele Künster geblieben, Maler, Dichter… Für was? Nur, um ihr Leben für etwas zu lassen, was kein einziges Menschenleben wert war.
          Und wieviele kamen verstümmeltt heim… Einfach schrecklich

          Liebe Grüße zu Dir von Bruni

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  5. Helau!
    Und wie schon anderswo erwähnt: In der Schweiz gibt es solch einen Ruf während der Umzüge nicht.
    Also dann noch mal Helau und Alaaf und Allez hopp.
    Herzlich. Petra

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    • Hier ist nichts. Ein Tag wie jeder andere. Kein Helau, Alaaf, Narri Narro – was auch immer. Völlig entspannt.
      Karneval ist mir so egal. Aber dir, dir wünsche ich viel Spaß.
      Herzlich zurück
      Christiane 😁🌨️🌧️☔🍷👍

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  6. Eine bunte Mischung, deine Gedichte, wie auch die Bilder, auch bunt, trotz s/w.
    Gefühlt habe ich im Jahr 363 Tage narri narro, und 2 Tage ist Ruhe. Heute und morgen.
    Grüße nach Nord!

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    • Ja, bunt. Wenigstens das wollte ich dann doch, Karneval vorschiebend. Es gibt so viele Facetten.
      Was du beschreibst, klingt mehr nach „363 Tage Irrenhaus“ 🤣
      Grüße gen Süd! Hab Spaß! 🎭🙃🍷

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  7. Wie immer interessant, und noch ein bisschen bunter und toller gehts heute bei dir zu. Mir ist nur grad gar nicht nach Fasching. Ist hier auch noch nicht so angesagt. Also enthalte ich mich des weiteren Kommentierens.

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    • Mir ist auch nicht nach Karneval. Eh nicht. Dafür sind die Gedichte aber auch nicht wirklich heiter, von dem Thoma mal abgesehen.
      Dir Gutes!
      Liebe Grüße
      Christiane 😉😼🌧️☔🍷

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      • danke! manchmal sehe ich mir das Karneval-Getriebe gern an. Die jungen Menschen bereiten sich so lange drauf vor, es macht ihnen Spaß, ist eine Gelegenheit, sich anders zu zeigen, als man sie kennt. Manche Verkleidungen sind auch sehr amüsant und originell. Aber nun, im Moment ist es halt nicht meins.
        Übrigens: Meine Glückwunsch zu euren Wahlen!

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        • Ja, danke, Hamburg ist da ziemlich standhaft, ich hoffe, dass es so bleibt. Ich weiß nicht, ob du die neuesten Entwicklungen mitbekommen hast: Die FDP ist doch knapp draußen; aber die Blauen sind drin. Nun, Letzteres ist nicht neu, wir werden sehen, was passiert. (Entschuldigst du dich gerade, dass du dich nicht nach Karneval fühlst? Musst du nicht. Habe ich bei dir etwas übersehen?)

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        • Nein, danke, nix übersehen, liebe Christiane. Ja, ich habs mitgekriegt: Gelb ist draußen, Blau ist drin. Dazu Rot, Schwarz und Rosa. da hat die olle SPD nicht nur ihre Farbe, sondern auch ihre erste Position verteidigt. Gut so. Möge sie zum Nutzen ihrer Bürger handeln.

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  8. Das von Lichtenstein ist toll, mehr Katerstimmung geht nicht, glaube ich. Ich kannte ihn nicht, wie schade, dass er im 1. Weltkrieg geblieben ist. Danke für die kostenlose Bildung (ist halt doch ein Bildungsblog hier 🙂 ).
    Und dann hätte ich noch eine Frage: Wie bitteschön geht das?: „Und beim Hofball auch die Nabel sieht“ .
    Was waren denn das für Kleider?? All meine schönen, romantischen Vorstellungen vom Hofball – dahin, ach, dahin!
    🙂

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    • Ich bin gern ein Bildungsblog – wenn das nicht jede*r so nach Gusto auslegen würde … 😉
      Die Sache mit dem Nabel: So was Ähnliches hat meine Großmutter auch immer gesagt (die bei Erscheinen des Gedichtes immerhin schon lebte), wenn sie ihr Missfallen darüber kundtun wollte, WIE tief ein Kleid ausgeschnitten war. Also sozusagen der Superlativ von „Der Einblick ist viel zu tief“, wenn die betreffende Frau sich bückte …
      Möglicherweise war das ja auch eine Redensart, die Thoma aufgegriffen hat. Aber wissen im Sinne von belegen kann ich das nicht. 🙂
      Liebe Grüße zum Abend
      Christiane 😁🍷😼👍

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