Von Singen und Gesang

 

Ein kleines Lied

Ein kleines Lied! Wie geht’s nur an,
Daß man so lieb es haben kann,
Was liegt darin? erzähle!

Es liegt darin ein wenig Klang,
Ein wenig Wohllaut und Gesang
Und eine ganze Seele.

(Marie von Ebner-Eschenbach, Ein kleines Lied, aus: Gesammelte Schriften von Marie von Ebner-Eschenbach Band 1, Aphorismen. Parabeln, Märchen und Gedichte, S. 185, 1893. Online-Quelle)

 

Der Leiermann

Warum sie sich wohl ans Fenster stellen,
Wenn unten der Alte die Leier dreht?
Warum sie verstummen und mancher ergriffen
Mit glänzenden Augen vorübergeht?

Sie wissen es selbst nicht warum sie lauschen.
Die Brust wird ihnen plötzlich so weit.
Sie lassen sich durch die Seele rauschen
Das alte Lied ihrer Jugendzeit.

(Joachim Ringelnatz, Der Leiermann, aus: Gedichte, 1910, Online-Quelle)

 

O Grille, sing

O Grille, sing,
Die Nacht ist lang.
Ich weiß nicht, ob ich leben darf,
Bis an das End’ von Deinem Sang.

Die Fenster stehen aufgemacht.
Ich weiß nicht, ob ich schauen darf,
Bis an das End’ von dieser Nacht.

O Grille, sing, sing unbedacht,
Die Lust geht hin,
Und Leid erwacht.
Und Lust im Leid –
Mehr bringt sie nicht, die lange Nacht.

(Max Dauthendey, O Grille, sing, aus: Weltspuk, in: Gesammelte Gedichte und kleinere Versdichtungen, Albert Langen, München 1930, S. 363)

 

Das Meer singt

Singe das Leben
Trunken und weit.
Rausche euch allen
Unendlichkeit.

Singe die Liebe
Grausam und groß.
Breit über alles
Mein Namenlos.

Gott tönt aus mir.
Dunkel und Glut.
Alles ist tödlich
Und alles ist gut.

(Francisca Stoecklin, Das Meer singt, aus: Die singende Muschel, 1925, Online-Quelle)

 

Quelle: Pixabay

 

Ihr habt wahrscheinlich auch die Berichte oder Videos über die Italiener gesehen, die abends auf den Balkonen singen.
Singen gegen die Corona-Angst. Kommt auf eure virtuellen Balkone und singt mit, macht euch sichtbar!

Möge der Schatten bald weitergezogen sein. Kommt gut und gesund in und durch die neue Woche!

 

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46 Kommentare zu “Von Singen und Gesang

  1. Galgenhumor gehört für mich zu den ganz großen Stärken. Galgenhumor und Trotzdem-Lebensfreude (falls es da einen Begriff dafür gibt, so kenne ich ihn nicht) In Wien hat man gestern auch begonnen mit „Musizieren um 18h aus dem Fenster, täglich“. In meiner Gasse hat sich leider noch niemand gefunden, der/die mitmacht, aber das kann ja noch kommen 🙂 Mach`s gut und bleib gesund !

    Gefällt 4 Personen

    • Du darfst dich gern wiederholen, lieber Joachim, ich freue mich zuverlässig jedes Mal aufs Neue über dein Lob – und dass die Gedichte dir gefallen! 😁
      Liebe Grüße
      Christiane 😁🌞👍

      Gefällt 2 Personen

  2. Liebe Christiane, ich habe schon bei deiner heutigen Überschrift sofort an die ItalienerInnen gedacht. Ich finde dies so wunderbar, genau wie alle vier Gedichte, die passender nicht sein könnten. Ich singe gerne und viel, noch haben wir keine Quarantäne, aber es wird wohl nicht mehr lange dauern, aber ich bezweifel, dass wir das hier so hinbekommen wie die Italiener*innen oder die Spanier*innen, die für einen Applaus für alle Krankenpfleger*innen, alle Ärzte und Ärztinnen auf die Balkone gingen … ich hoffe, dass ich mich irre!
    Herzliche Grüße
    Ulli

    Gefällt 2 Personen

    • Ich fürchte, dass du recht hast, liebe Ulli … wobei – ach, abwarten. Uns stehen die berühmten „interessanten“ Zeiten ins Haus, und keine*r kann wissen, ob er oder sie heil wieder herauskommt. Meine Gedanken gehen ein bisschen in Richtung „Krise und Chance“. Viel ist möglich, wenn Leute unter Druck geraten und sich entscheiden müssen.
      Wir werden bestimmt noch öfter darüber sprechen. Vorerst freue ich mich, dass dir die Gedichte gefallen.
      Liebe Grüße
      Christiane 😁🌟👍

      Gefällt 1 Person

    • Übertreib mal nicht, ja? 2 Meter ist genug 😉
      Ja, das ist eines von meiner All-time-favorite-Liste, das von der Marie. Freut mich, dass es was für dich ist.
      Liebe Grüße
      Christiane 😁🌞👍

      Gefällt 1 Person

  3. Zuerst dachte ich, Marie von Ebner-Eschenbach ist es heute und ich wollte sie schon zu meinem heutigen Favoriten erklären, aber sie sind alle so wundervoll und in jedem finde ich Zeilen, die sehr berühren und die über die Maßen schön sind.
    Eine Auswahl vom Feinsten, kann ich da nur sagen, liebe Christiane, und ich lese mit Wonne. Am Ende noch dreimal das kleine Lied und ich bereue, daß ich mich so gar nicht entscheiden kann… *lächel*

    Herzliche Grüße von Bruni an Dich

    Gefällt 1 Person

  4. Marie von Ebner-Eschenbachs Gedicht gefällt mir.
    Dieser Tage musste ich wieder an den Refrain denken:
    „Wenn Du so bist wie Dein Lachen…“.

    Oder das schlichte: „Ich mag…“ von Volker lechtenbrinck.

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