Adventüden 2020 22-12 | 365tageasatzaday

22.12. – Das Weihnachtsgeschenk | Adventüden

 

Es war dunkel. Tiefste Nacht. In den Häusern reihum blickten blinde Fenster auf die Straße, rollten sich kleine Kinder in ihre Kuscheldecken, umarmten ihre Teddybären und drückten Puppen eng an sich. Nur hinten, dort, wo die Gasse einen leichten Knick nach rechts machte, blitzte ein kleines Licht auf, als eine Tür sachte geöffnet und rasch wieder zugezogen wurde.

Eine schwer bepackte Gestalt huschte die Straße dorfauswärts. Dick eingehüllt in warme Kleidung verschwamm sie zu einem unförmigen Schemen. Niemand achtete in dieser Nacht vor Heiligabend darauf. Alle schliefen sie ihren Schlaf. Erschöpft die einen, sorgenvoll die anderen. Hoffend auf leichtere Zeiten die einen, fiebrig aufgeregt die anderen. Vergessend die einen, von einem schöneren Leben träumend die anderen.

Nebelschwaden zogen sich am Boden dahin bis zum kleinen Bach, der hurtig den Hang herunterhüpfte und vor sich hinmurmelte: »Schneller! Schneller!« So lauschte der Mann, der den Weg hinaus aus dem Ort und bergan davoneilte. Es war der alte Konrad, verschroben und nicht ganz hell im Kopf. Aus tiefstem Herzen friedfertig. Auch, wenn man nie so genau wusste, was in ihm vorging. Die Leute schüttelten meistens nur den Kopf über ihren Dorftrottel. Doch heute war er leise und heimlich davongeschlichen. Keiner nahm Notiz von ihm.

Am nächsten Morgen blickten die Dorfbewohner wie immer prüfend zum Berg, welches Wetter er bringen würde. Schnee vielleicht? Oder Regen? Eis? Lediglich die Kinder eilten hoffnungsvoll in die Wohnzimmer. Ob das Christkind vielleicht schon ein bisschen früher käme?

Da sahen sie am Nordhang des Berges den riesigen Stern glitzern. Ein wahres Lichtermeer aus Fackeln war es, das auf der oberen Alm leuchtete. Die Kinder jubelten begeistert. Nur die Erwachsenen schwiegen betroffen. Denn den alten Konrad fanden sie wenig später abseits im Schnee sitzend. Erfroren. Mit der letzten Fackel noch in der klammen Hand. Und einem Lächeln im runzligen Gesicht.

Autor*in: Veronika     Blog: vro jongliert

 

Adventüden 2020 22-12 | 365tageasatzaday
Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Zum Thema Inhaltshinweise/CN/Triggerwarnungen in den Adventüden bitte hier lesen.

Nachdem viele Teilnehmer*innen und Leser*innen das Fetten der vorgegebenen Wörter als störend empfunden haben, wurde darauf verzichtet. In einem Text, der maximal 300 Wörter umfassen durfte, waren (mindestens) drei der folgenden fünfzehn Begriffe zu verwenden:

Etikett, Gin, Käsekuchen, Kuscheldecke, Lebkuchen, Lichtermeer, Märchenbuch, Minnesang, Nebelschwaden, Schlittenfahrt, Semmelknödel, Streicheleinheiten, Wichtel, Wunschpunsch, Zugvogel

Dieser Text erschien zuerst im Rahmen der Adventüden 2020, einem Projekt von »Irgendwas ist immer«.

 

66 Kommentare zu “22.12. – Das Weihnachtsgeschenk | Adventüden

    • Das hoffe ich. Und auch, dass sie ihn geschätzt haben und dass er es gespürt hat. 😢
      Ich frage mich bei solchen Geschichten, warum jemand das macht. Hat er allen eine Freude machen wollen? Hat er den „Geist der Weihnacht“ rufen bzw. ehren wollen? 🤔
      Mich berührt das sehr, und es ist nicht der Zeitpunkt … 🪔🌟✨
      Verregneter Morgenkaffeegruß mit nassem Fellträger 😁🌧️🐈☕🍪👍

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  1. Hat dies auf vro jongliert rebloggt und kommentierte:
    Im Sommer, wenn die Etüden auf Christianes Blog in die Sommerpause gehen, ruft sie uns Schreiber zum Etüdensommerpausenintermezzo. Heimlich hinter verschlossenen Türen werden Geschichten geschrieben für einen Advent(s)kalender der etwas anderen Art. Jeden Tag eine Geschichte von einer anderen Bloggerin, einem anderen Blogger.

    Heute bin ich dran. Der Sommer ist unendlich weit weg und ich dachte die letzten Tage oft an meine Geschichte. Ich wusste nicht mehr, was ich geschrieben hatte. Auch das irgendwie eine Art Vorfreude, nicht in den unendlichen Dateien am Rechner nachzuforschen und die Neugierde zu stillen, sondern einfach warten, bis ich dran bin und mich dann selbst überraschen lassen.

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  2. Dorftrottel und Dummenschule sind so Begriffe von früher, die mir noch gut in Erinnerung sind. Gelacht hat man über sie ja nur und mit Hochmut gestraft. Und oftmals hatten die ein tragisches Ende, wie in Deiner Geschichte.
    Sehr fein in Anklang gebracht!

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    • Die Begriffe kenne ich auch noch. Sie werden nicht mehr verwendet, aber ich glaube nicht, dass sich das Denken der Leute grundlegend verändert hat … 🤔
      Danke dir, hab einen schönen Tag! 😁
      Verregneter Morgenkaffeegruß 😁🌧️🪔☕🍪👍

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      • Doch, es hat sich etwas verändert. Heute bekommen all diese Menschen Hilfen und werden gefördert. Früher hat man sie einfach fallen gelassen, weil man es oft nicht besser wusste und weil es keine Einrichtungen gab.

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        • Stimmt, das ist tatsächlich eine positive Veränderung. Ich möchte nur (erinnerst du dich an dergl, die viel darüber wusste) darauf hinweisen, dass da bei Weitem nicht alles Gold ist, was zu glänzen behauptet. Sag jetzt nicht, dass es überall so ist. Ich wollte es nur angeführt haben. 👍

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    • Dummenschule kenne ich vom Sprachgebrauch nicht, den Trottel ohne das Dorf- davor aber sehr wohl. Aber selbst wenn sie vielleicht keine normale Schule besucht haben, so denken und fühlen sie ja trotzdem. Nur ist uns „Normalen“ das so fremd und damit unheimlich.

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    • Danke dir! Dass diese Geschichte so schrecklich traurig rüberkommt, war eigentlich nicht meine Absicht. Eher, dass da jemand etwas Selbstloses, nicht wirklich Nachvollziehbares macht und dabei umkommt. Aber ich sah das Sterben des alten Konrad nicht in erster Linie als tragisches Ereignis. Ja, das auch. Aber vielleicht wurde das Leben allein in dem Haus schon beschwerlich. Vielleicht war es genau das Ende, das für ihn passte, hier und jetzt, dass er sich vor Müdigkeit hinsetzte und dann einschlief?

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