Das Kleid – Sie | abc.etüden

Hast du etwas getan, was sonst keiner tut? Hast du hohe Schuhe oder gar einen Hut, oder hast du etwa ein zu kurzes Kleid getragen …«
Ja, in der Tat, das hatte sie vorgehabt. Eigentlich war nichts an ihrem Outfit besonders ungewöhnlich. Fand sie. Das Kleid war knallrot. Sie würde leuchten, und das war dem Anlass angemessen, schließlich war es eine Abendveranstaltung, die erste seit – ach, keine Ahnung. Jahren. Nein, fröhliches Schwarz war nicht vorgeschrieben, und so alt war sie noch nicht, sich freiwillig selbst zu kasteien.

Okay, Affekthandlung, okay, aber es hatte SO GUT getan, die Tür beim Rausstürzen hinter sich zuzuschlagen. Okay, es war eine Glastür. Gewesen. Sie waren versichert.

Sie hatte sich spontan in das Kleid verliebt und war sich beim Kauf verwegen vorgekommen. Endlich mal wieder der Seele etwas gönnen, das Leben feiern, draußen, ein schickes Charity-Dinner auf der Seeterrasse mit Lokalprominenz und Presse. Wenn er ihr vorgeworfen hätte, mit dem Kleid ein wenig overdressed zu sein, hätte sie das noch verstanden, aber sie hatte in der Klatschpresse recherchieren können, dass da durchaus mit noch Ausgefallenerem zu rechnen war.

»Schatz, meinst du nicht …« Nein! Herrgott, sie wog nun mal keine siebzig Kilo! Seit sie ihn kannte, hatte sie noch nie siebzig Kilo gewogen! Und er hatte häufig beteuert, jedes Pfund an ihr zu lieben, auch als es jetzt einige mehr geworden waren. War das also wirklich derselbe Mann, der vorhin etwas von »Fett…« gemurmelt hatte, als er ihrer ansichtig geworden war?

Sie hatte ihn nicht genau verstanden, aber das musste sie auch nicht. Warum saß sie jetzt seit Stunden im Garten in der Hollywoodschaukel und heulte, eingehüllt in ihre liebste Picknickdecke, obwohl sie so enttäuscht von ihm war, dass sie ihn am liebsten umgebracht hätte? Die Tränen liefen.
Wo war er?
Sie wusste nicht weiter.

 

abc.etüden 2021 23+24 | 365tageasatzaday
Quelle: Photo by Jennie Clavel on Unsplash, Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Wochen 23/24.2021: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Wortspende stammt dieses Mal von Ellen mit ihrem Blog »nellindreams«. Die Wörter lauten: Picknickdecke, verwegen, recherchieren.

 

Wer wissen möchte, woraus ich zitiere: Es sind (natürlich) DIE ÄRZTE mit ihrem Klassiker: Lasse redn

 

Ich hatte mir eigentlich etwas Heitereres gewünscht, aber plötzlich saß da diese unglückliche Frau weinend in ihrer Hollywoodschaukel im Garten … 😉

Update: Fortsetzung hier – Das Kleid – Er

 

70 Kommentare zu “Das Kleid – Sie | abc.etüden

  1. So ausgedachte Figuren neigen dazu, ein Eigenleben führen zu wollen, überraschen uns immer wieder…
    Schöne, nein, eigentlich herzzereissende Geschichte!
    Gruß von Sonja

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    • Eben. Unter allem „Ach, back dir doch ein Ei drauf“ ist da ziemlich viel Verunsicherung und Trauer bei ihr.
      Vormittagskaffeegrüße 😁🌞☕🍩👍

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  2. Oh, dann finde ich ihre Reaktion verblüffend. Wenn sie so sensibel ist, dass jedes Wort sie umhaut, hätte sie sich da ein extrem auffallendes Kleid gekauft oder war das gar nicht so auffallend., Und wenn sie ihm nicht gefällt, hat er das zum alleretsten Malzim Ausdruck gebracht. Irgendwie passt mir da was nicht zusammen.
    Einen schönen Dienstag wünsche ich.

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    • Wird sie. Sie ist in den letzten Jahren auf dünner werdendem Eis gelaufen und hat es bisher nicht bemerkt bzw. bemerken wollen. Jetzt hockt sie da und wundert sich. Hat sie das verdient? Nein … 😉
      Vormittagskaffeegrüße 😁🌞🌼🐦☕🍩👍

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  3. Also für mich passt es zusammen. Sie hat sich aus einem Impuls heraus getraut, wurde aber sofort wieder zur Raison gebracht. Ich glaube schon, dass es solche Beziehungen gibt.
    Für mich hat es die Hauptaussage, dass gewisse Machtstrukturen mit einer Kleinigkeit alles zunichte machen können.
    Liebe Grüße und ähm einen solchen Mann braucht man wie ein Loch im Kopf.🤪
    Liebe Grüße 🎈☕️🦦🌺

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  4. Man kann halt nicht immer selbst bewusst reagieren, auch wenn man sowas in Geschichten gerne liest. Ich mag dass deine Protagonistin genau das macht, was wahrscheinlich viele in so eine Situation machen. Manchmal sind es halt die Picknickdecke und ein paar Tränen.

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  5. Liebe Christiane,
    danke dir Ich bin schon sehr gespannt auf die Fortsetzung.
    Und ja – manchmal ist ein rotes Kleid mutig und verwegen – und manchmal bekommt frau dann auch Angst vor dem eigenen Mut. Unter diesem Aspekt fällt jedes Wort ins Gewicht, auch solche, die man nur gemeint hat zu verstehen.
    Grüße, Judith

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    • Ja, manches Mal geht man durch Prozesse, die einem selbst erst im Nachhinein klar werden. Danke dir 😉
      Ja, die Fortsetzung kommt morgen, und vermutlich übermorgen die Fortsetzung der Fortsetzung, ich glaube, ich komme nicht drum herum 😁
      Nachmittagskaffeegrüße 😁🌞⛲🌼☕🍩👍

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  6. Ja, in gewissem Alter wandelt sich vieles, aiuh wenn sich alte Gewohnheiten und Selbstbilder dem widersetzen. Eine Frau die spontan Rot trägt, eine Glasstür zerdeppert und deren Selbstbewusstsein dann wieder in sich zusammenfällt, das passt zu den Lebensjahren über 50 /60, in denen manche Frauen ihr altes Dasein und Rollenspiel infrage stellen, aber sich ein neues auch nicht so ohne Weiteres erfinden lässt, solange man in einer konstanten Partnerschaft lebt, deren Teile sich beide dennoch verändern.

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  8. Sie hat die Glastür zerschmettert und nach und nach verließ sie ihre Wut und auch ihr Widerspruchsgeist. Er löste sich auf wie Schnee in der Sonne und nun sitzt sie und heult sich die Augen aus, die Arme.
    Da bin ich jetzt aber gespannt, wie die Seite des Mannes klingt, liebe Christiane.
    (Sagte er statt fett so etwas wie *doch ganz nett*?)
    Ganz herzlich, Bruni 🙂

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  10. Ja, Rot tut manchmal not.
    Daß man etwas zugenommen hat und das gleich mit fett kommentiert, das finde ich nicht gut.
    Alles doch gut akzeptabel, solange nicht ne Schürze über allem hängt…

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