Adventüden 2021 13-12 | 365tageasatzaday

13.12. – Ein unerwartetes Treffen im Park | Adventüden

Schneeregen seit Tagen. Feuchtkalt. Unangenehm. Graue Stadtschluchten. Beton und Glas. Zeugen des Mehrs.
Sie läuft. Pflügt Schneisen zwischen die Entgegenkommenden. Läuft davon. Allem. Allen. Flieht – auch vor sich selbst.
Das Außen verändert sich. Gibt den Blick nach oben frei. Sturmwolkenblau türmt sich über ihr. Die Häuser werden kleiner. Tannenkränze an Haustüren. Lichterketten. Kerzenflackern, Weihnachtsschmuck und Glitzer hinter Fenstern. Klebrige Geborgenheit. Die Partitur des Advents. Fehlt nur noch Bratapfelduft.
Es schüttelt sie. Weiter, weiter! Gleich kommt ihr Park. Schwarz-grünes Locken. Abrupt bleibt sie stehen. Ihre Bank ist besetzt.

»Ich habe auf dich gewartet«, sagt die Frau.
Sie zuckt zusammen. »Wer bist du? Eine Nebelkrähe?«
Die Frau lächelt. »Ich bin Sophia. Komm, setz dich.«

Sie will die Bank für sich allein. Will nicht hinsitzen. Sitzt plötzlich doch.

»Was willst du?« Sie sieht die Frau an. Entdeckt tiefe Falten, blaue Augen, Stupsnase, Erdbeermund und lange weiße Haare unter einer Rotkäppchen-Mütze.
Die Frau lächelt sie an. »Ich hab deine Sehnsucht gehört. Deshalb bin ich hier.«
Sie guckt. »Meine Sehnsucht?« Hohn tropft aus jedem Buchstaben.
Die Alte bleibt ganz ruhig. »Ja, deine Sehnsucht.«

Schweigen. Mit einem Mal hält die Alte etwas in der Hand.
»Da, mein Geschenk für dich. Halte es. Hege es. So, als wäre es dein wertvollster Besitz. Nimm und versteh.«

Sie hält das Geschenk in der Hand. Sieht nichts als Zeitungspapier. Als sie den Kopf hebt, ist die Alte verschwunden.
Jetzt wird sie neugierig. Sie steht auf. Lässt Schneeregen und Sturmwolkenblau hinter sich. Geht nach Hause. Stellt das Geschenk auf den Tisch.
»Soll ich oder nicht?« Sie gibt sich einen Ruck. Löst das Papier.

Grüne Blätter. Fünf Knospen. Eine weiße Blüte. Mitten ins Ich-mag-nicht-mehr-Grau der Einbruch des Lebens. Da löst sich etwas in ihr. Sie beginnt zu weinen.

Viel später entdeckt sie das Kärtchen im Blumentopf.
»Lass die Hoffnung knospen!«

Sie lächelt.


Autor*in: Judith                              Blog: Mutigerleben.de

 

Adventüden 2021 13-12 | 365tageasatzaday
Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Zum Thema Inhaltshinweise/CN/Triggerwarnungen in den Adventüden bitte hier lesen.

Nachdem viele Teilnehmer*innen und Leser*innen das Fetten der vorgegebenen Wörter als störend empfunden haben, wurde darauf verzichtet. In einem Text, der maximal 300 Wörter umfassen durfte, waren (mindestens) drei der folgenden fünfzehn Begriffe zu verwenden:

Aktentasche, Bratapfel, Doppelgänger, Eistee, Geborgenheit, Glitzer, Kartoffelsalat, Kekse, Kopfzerbrechen, Marzipan, Partitur, Schneeregen, Sehnsucht, Sturmwolkenblau, Weihnachtsschmuck

Dieser Text erschien zuerst im Rahmen der Adventüden 2021, einem Projekt von »Irgendwas ist immer«.

 

110 Kommentare zu “13.12. – Ein unerwartetes Treffen im Park | Adventüden

  1. Pingback: Von Weisheit und Leben | Irgendwas ist immer

  2. Sophia trifft Sophia.
    Ach Sophia
    wenn du nur wüßtest
    und es behieltest
    in deinem Herzen
    wo auch immer
    wie
    reich du bist
    eigentlich.
    Wenn du es
    nicht immer
    einfach auf der Parkbank
    liegen ließest
    so vergeßlich
    bist du nicht
    beim nächsten Mal
    einfach
    stehen bleiben
    augen zu
    durchatmen
    schwubs bist du
    im Park
    auf deiner Bank
    mitten
    im kalten Winter,
    wohl
    auch zu der halben Nacht.
    Ja
    du kannst
    zaubern
    traurig wirst du
    von ganz alleine
    warum nicht auch
    gut aufgehoben

    Gefällt 4 Personen

  3. Für mich sind Christrosen auch Sehnsuchtsblüten, die seit Jahrzehnten meine Adventszeit begleiten.
    Deine Geschichte hat mich sehr berührt, wir sollten die Augen offenhalten und nach Menschen suchen, die dieser Hoffnungsblüte bedürfen.

    Gefällt 6 Personen

    • Sie sind wunderschön, aber giftig für Katzen, das weiß ich. 🤔 Aber mein Fellträger hat auch noch nie an Amaryllis genagt 😉
      Speziell dieses Jahr ist es für viele noch schlimmer als sonst, liebe Karin, was immer du tust, es dürfte nötig sein. 👍
      Herzliche Morgenkaffeegrüße auch hier 😁🌧️☕🍪👍

      Gefällt 3 Personen

    • Liebe Karin,
      ich danke dir – so sehe ich Christrosenblüten auch.
      Eine schöne Idee dein mit offenen Augen nach Menschen zu suchen, die dieser Hoffnungsblüte begegnen. Das mache ich doch glatt – es ist mir auf Anhieb jemand eingefallen.
      Liebe Grüße
      Judith

      Gefällt 2 Personen

  4. Klebrige Adventsidylle, daran bin ich hängen geblieben. Wenn der Advent aus welchen Gründen auch immer nicht in einem ist, kann der Dezember sehr klebrig sein, glaube ich. Tragt in die Welt nun ein Licht ist aktueller denn je.

    Gefällt 4 Personen

  5. eine glaubwürdig geschriebene Geschichte, sogar die „magische Wende“ wirkt nicht aufgesetzt. So bricht Hoffnung ins Leben ein. Aber man muss sie pflegen, damit sie gedeiht. Von Herzen, Gerda

    Gefällt 5 Personen

  6. Hoffnung – die stirbt bekanntlich zuletzt. Ich bin froh, dass die Parkgeschichte diese Wendung macht. Und Wunder – die gibt es auch immer wieder.
    Ich liebe solche Entwicklungen sehr!!! Das stimmt mich froh. Ein leises Glück, ein Sproß quasi….
    Herrlich, diese Bilder.
    LG Doro

    Gefällt 1 Person

  7. Ach so die Weisheit in Person sitzt auf Parkbänken rum.
    Ich hatte zwar gedacht, dass der Name die Person als weise charakterisieren soll, aber immer noch gerätselt wer sie ist. Sehr fantasieanregend deine Etüde.

    Gefällt 2 Personen

      • Liebe Christiane,
        ich danke dir für deine Betreuung der Etüden und das unermüdliche Kommentieren, deine Zugewandtheit und deine Begeisterung. Das ist für mich spürbar, auch wenn ich ja von dir weiß, dass es manchmal doch viel ist.
        Herzensgrüße nach Hamburg, ohne Tee, dafür aber mit Hochnebel, der die Welt ein wenig verschleiert
        Judith

        Gefällt 1 Person

        • Liebe Judith, ja, es ist viel, aber zu sehen, dass z. B. du dich ebenso für deine Adventüde ins Zeug legst, was die Kommentare angeht, macht es leichter, es teilt die Last. Ich finde es manchmal schwer, allen Kommentaren gerecht zu werden, da ist das sehr angenehm.
          Außerdem hilft es, die Adventüde zu mögen, und auch das ist nicht bei jedem Text gleich … 😉
          Vormittagskaffeegrüße, trüb ist es auch hier 😁☁️🕯️☕🍪👍

          Gefällt 1 Person

          • Liebe Christiane,
            danke dir.
            Ja, das glaube ich, dass das manchmal schwer ist, allen Kommentaren gerecht zu werden.
            Und, dass es leichter ist, wenn die Etüde dich mitnimmt und anspricht, verstehe ich gut.
            Ich schick dir Abendgrüße
            Judith

            Gefällt 1 Person

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