Von Angsthaben und Hoffnung

Angst

Wald und Flur liegt tot in Schutt und Scherben.
Himmel klebt an Städten wie ein Gas.
Alle Menschen müssen sterben.
Glück und Glas, wie bald bricht das.

Stunden rinnen matt wie trübe Flüsse
Durch der Stuben parfümierten Sumpf.
Spürst du die Pistolenschüsse –
Ist der Kopf noch auf dem Rumpf.

(Alfred Lichtenstein, Angst, Erstdruck in: Die Aktion (Berlin), Nr. 27, 1913, Online-Quelle)

Angst packt mich an

Angst packt mich an.
Denn ich ahne, es nahen Tage
Voll großer Klage.
Komm du, komm her zu mir! –
Wenn die Blätter im Herbst ersterben,
Und sich die Flüsse trüber färben,
Und sich die Wolken ineinander schieben
Dann komm, du, komm!
Schütze mich –
Stütze mich –
Faß meine Hand an.
Hilf mir lieben!

(Erich Mühsam, Angst packt mich an, aus: Die Wüste. 1898–1903, Online-Quelle)

Der Wächter der Lampe

Wachsein ist alles. Es kommt die Nacht
und keiner wird keinen erkennen.
Haltet Wacht
und laßt die Lampen brennen.
Alles Werden ist wankend und ungewiß,
aber alles Ziel ist Reife.
Und das Licht leuchtet in der Finsternis,
auf daß sie es einst begreife.

(Manfred Kyber, Der Wächter der Lampe, aus: Genius Astri, 1918, Online-Quelle)

Lied vor Tag

Was bewegt dich, stiller Himmel?
Was beschwingt die schweren Wolken?
Herz, wie kommt die helle Höhe
übers tiefgraue Meer?

Durch die Wolken schwebt ein Vogel,
schwebt vorbei mit hellen Flügeln,
trägt die goldne Morgenröte
übers tiefgraue Meer.

Komm zurück, du goldner Vogel!
Nimm mich hoch in deine Höhe!
Trag mein Herz, du helle Hoffnung,
übers tiefgraue Meer!

(Richard Dehmel, Lied vor Tag, aus: Weib und Welt, Ein Buch Gedichte, Vierte Ausgabe, 1913, Online-Quelle)


Quelle: Bild von dokumol auf Pixabay


Wie jede Woche: Passt auf euch auf und kommt gut und heil in und durch die neue Woche!


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57 Kommentare zu “Von Angsthaben und Hoffnung

  1. Mir fällt auf, dass zwei der Gedichte unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkriegs entstanden: Lichtensteins „Angst“ und Dehmels „Lied vom Tag“, in dem er das Licht der Hoffnung beschwört. Kybers „Wächter der Lampe“ ist am Ende dieses schrecklichen ersten Weltkrieges entstanden, als sich schon so etwas wie ein Licht am Ende des Tunnels zeigte, ein Licht, das eine Aufforderung enthielt: aus dem Geschehen zu lernen, zu reifen, das Licht zu begreifen.
    Erschütternd und für mich das stärkste ist das Gedicht von Mühsam mit seinem Schlusssatz:
    „Faß meine Hand an.
    Hilf mir lieben!“
    Wenn wir Menschen nur die Kraft hätten zu lieben und die Hand des anderen zu halten, egal wer es ist – dann bräuchten wir keine Angst zu haben. Denn warum haben wir Angst? Weil wir unsere eigene Lieblosigkeit oder Liebesunfähigkeit auf den anderen, unsere eigene Finsternis ins Außen projizieren und vom Draußen keine Handreichung, sondern einen Angriff erwarten.
    Ich denke an die Berichte von deutschen Soldaten, die von russischen Menschen gepflegt und am Leben erhalten wurden. Sie schlugen den eindringenden Feind nicht tot, sondern reichten ihm, da er ein Mensch war, eine helfende Hand und sagten: Hab keine Angst.
    Wenn die ukrainischen Menschen auf die russischen Mitbürger zugegangen wären, gäbe es keinen Krieg. Und wenn nun Russen und Ukrainer auf einander zugehen, hört der Krieg auf.

    Gefällt 4 Personen

    • Dehmel war kriegsbegeistert, zumindest anfangs, das wusstest du, ja?
      Ich finde den Mühsam am berührendsten und mag auch den Kyber sehr gern.
      Eigentlich ist nur der Lichtenstein im engeren Sinne ein Kriegsgedicht, den Rest interpretiert man aus dem Kontext 😉
      Du hast so recht! Ich möchte wieder an Brecht erinnern, „dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“. Es wäre so einfach. Aber wir haben die Mitmenschlichkeit als Volk noch nicht mal während Corona besonders gut hinbekommen; ich bin da nicht optimistisch, alles in allem, vor allem, wenn man uns medial aufzuhetzen versucht und so vielen es nicht mal auffällt.
      Danke dir sehr.
      Herzliche Nachmittagskaffeegrüße 😏🌤️☕🍪🌼👍

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      • Danke, nein, Christiane, dass Dehmel kriegsbegeistert war, wusste ich nicht. Es passt aber auch zu diesem Gedicht von 1918, er gleitet elegant in eine beruhigte Zone des Lichts hinüber, ohne seine eigene Verantwortung und eventuelle Angst und Mitschuld zu berühren.
        Deine Einschätzungen – zu Mühsam und zur Brechts Wunsch – teile ich, und mein Herz blutet wie deins. Mehr als jeden Krieg fürchte ich die allgemeine Lieblosigkeit, die Neigung zum Hetzen, zum Fertigmachen und Nichtverstehen – und über allem die „unsichtbare Hand“ nun nicht mehr des Marktes, sondern eines alles beherrschenden kalten administrativen Geistes, der unsere Ängste für sich ausnutzt. ´Ich will mich nicht mehr fürchten, drum sage ich mit Mühsam: hilf mir zu lieben. Von unserer Liebesfähigkeit hängt am Ende das Schicksal der Erde und unser eigenes ab.

        Gefällt 2 Personen

      • Prophetische Worte vielleicht, liebe Gerda. Und das, was du da fürchtest, fürchte ich auch, ich sehe aber auch bei vielen jungen Leuten den Wunsch, sich sozial und mitmenschlich zu verhalten und zu engagieren. Da ist noch lange nicht alle Hoffnung verloren.
        Nur die Politik, da schwindet mein Vertrauen kontinuierlich.
        Abendgrüße 😏✨🍵🥗🌼👍

        Gefällt 2 Personen

      • Ja, es gibt viele gute Menschen, junge und alte. Drum halte ich mich an Brechts Lied von der Moldau „und gehn sie einher auch wie blutige Hähne, es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt!“ (Mein Mann schrieb es 1967 auf ein langes Tuch, das trugen sie dann bei einer Demonstration gegen die Militärdiktatur in Griechenland durch die Strassen von Kiel. So lernte ich ihn kennen. Sieben Jahre später war es dann aus mit der Diktatur. Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.)

        Gefällt 2 Personen

  2. Mühsams Gedicht empfinde ich auch als das stärkste der vier.
    Vor allem die beiden Zeilen am Ende dringen mir ins Herz und setzen sich da fest

    Faß meine Hand an.
    Hilf mir lieben!

    Wie wichtig ist es doch, die Liebe, das Mitleiden und das Verstehen des Nächsten zu empfinden, es so deutlich zu fühlen wie in diesen beiden Zeilen

    Faß meine Hand an.
    Hilf mir lieben!

    Liebe Christiane, wir wollen an die Hoffnung glauben. Können wir das nicht mehr, haben wir viel zu viel verloren…

    Gefällt 3 Personen

    • Ich lese, was du schreibst und interpretiere es. Vieles davon ist mir so fern, dass ich es so interpretiere, dass es dir nichts sagt, sondern dass du an (für mich) Oberflächlichkeiten herumkritisierst. 🤔
      Ich kann mich irren, logisch. Ich freue mich, wenn dir die Gedichte was sagen. Aber ich bin zum Beispiel überzeugt, dass Dehmel über Liebe (und/oder Religion) schreibt, und diese metaphysische Ebene klammerst du durch deinen Kommentar völlig aus.
      Kyber entstammt ebenfalls einer spirituellen Tradition, der meint viel mehr, als da steht.
      Natürlich muss man das nicht verstehen, um ein Gedicht mögen zu könnenn, das bedeutet aber nicht, dass es diese Ebene nicht gibt.
      Was ich mit Sicherheit nicht will: Dich persönlich angreifen, echt nicht, du fasst es nur leider so auf. Auch ich habe nicht auf alles eine Antwort.

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  3. Liebe Christiane,

    danke für deine Auswahl.
    Das letzte Gedicht hat mich tief berührt und angezogen, es strahlt für mich etwas aus, das ich nicht punktgenau benennen kann. Am ehesten trifft für den Moment wohl der Gedanke „da ist eine tiefe Verwurzelung und eine große Sehnsucht“.

    Es stand mir sofort ein Bild vor Augen, das ich vor einigen Tagen gesehen habe (während der Sahara-Staub-Trübung).
    Der Himmel über dem Bodensee war grau, ein eher helles Grau und ich konnte sehen, dass die Sonne zwar da war, aber die Staubdecke noch nicht durchdringen konnte – bis auf eine Stelle. Auf dem Wasser bildete sich dann eine große helleglitzernde Fläche, während rechts und links davon das Wasser dunkelgrau blieb. Ich schaute hin und wurde ruhig, denn das war für mich „Bildgewordene Hoffnung“.
    Das Gefühl und zwar nicht nur irgendwie, war mit den Händen zu greifen.

    Sonnige Grüße zu dir
    Judith

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