Von Vögeln und Hoffnung

Die Amseln haben Sonne getrunken

Die Amseln haben Sonne getrunken,
aus allen Gärten strahlen die Lieder,
in allen Herzen nisten die Amseln,
und alle Herzen werden zu Gärten
und blühen wieder.

Nun wachsen der Erde die großen Flügel
und allen Träumen neues Gefieder;
alle Menschen werden wie Vögel
und bauen Nester im Blauen.

Nun sprechen die Bäume in grünem Gedränge
und rauschen Gesänge zur hohen Sonne,
in allen Seelen badet die Sonne,
alle Wasser stehen in Flammen,
Frühling bringt Wasser und Feuer
liebend zusammen.

(Max Dauthendey, Die Amseln haben Sonne getrunken, aus: Reliquien, in: Gesammelte Gedichte und kleinere Versdichtungen, Albert Langen, München 1930, S. 122)

Nach einer Zeit

Der du unsrer so gedachtest,
Als uns alles sonst vergaß,
Soviel Glück, wie du uns brachtest,
Keine Wiese hat’s an Gras.

Wenn zwei Augen im Erblinden,
Wenn zwei Herzen ganz verzagt
Plötzlich Licht und Hoffnung finden,
Dann hat Gott etwas gesagt.

Lächelt jetzt ein Regenwürmchen,
Weil die Amsel vor mir flieht?

Hohe Türme sind nur Türmchen,
Wenn ein Adlerauge sieht.

(Joachim Ringelnatz, Nach einer Zeit, aus: 103 Gedichte, 1933, Online-Quelle)

Ich sah einen Adler …

Ich sah einen Adler sich wiegen
Hoch oben im leuchtenden Blau,
Er schaute aus ewigen Fernen
Herab auf mich einsame Frau.

Es standen so träumend die Felder,
So lockend die Berge umher,
Da flog meine Sehnsucht zum Adler,
Zog weitere Kreise als er.

(Anna Ritter, Ich sah einen Adler, aus: Gedichte, 1898, Online-Quelle)

Wo aber fliegen die Abendvögel hin?

Die Tauben schlummern im Hause:
Wo aber fliegen die Abendvögel hin?
Der Wasserfall dämpft sein Gebrause:
Wo aber rinnen die Bäche hin?
Friedlich wurzelt der Rauch auf den Dächern:
Wo aber strömt das Nachtgewölk hin?
Lichter stehen in tausend Gemächern:
Wo aber sinken die Sterne hin?
Immer indem wir liegen und schlafen
Lösen sich Schiffe dunkel vom Hafen.

(Albin Zollinger, Wo aber fliegen die Abendvögel hin?, aus: Gedichte, 1933. Beleg, Online-Quelle)


Quelle: Pixabay


Der übliche Wunsch: Lasst uns alle sicher und friedlich in und durch die neue Woche kommen.

Ja, es ist dringend Zeit für meinen alljährlichen Lieblings-Dauthendey, falls sich jemand schon gefragt haben sollte. Ja, unbedingt. 😉


30 Kommentare zu “Von Vögeln und Hoffnung

  1. Fein, die Poeme von heute, liebe Christiane,
    herzlichen Dank für die Präsentation.
    Dauthendey hatte ich auch gestern zur Hand,
    die acht Ansichten des Biwa-Sees, immer wieder
    sehr schön — hab einen feinen Maientag ⭐ ⭐ ⭐
    Herzliche Grüße vom Lu, Amselfan 🙂

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  2. „ich sah einen Adler“ — ein wirklich tolles Gedicht, was für ein Fundstück und Glück 🙂 Vielen Dank!

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    • Ich mache das ja nun nicht erst seit gestern. Ja, es ist immer wieder Glück, auf der anderen Seite kenne ich auch irgendwie meine Pappenheimer inzwischen. Und es macht mir Spaß, neue Autor*innen zu entdecken.
      Ich freue mich, dass du dich freust 😉👍
      Späte Abendgrüße ✨🍷🍪👍

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  3. Die Amseln habren Sonne getrunken von Max Dauthendey Es ist so wunderschön
    Ringelnatz, ganz klar, wundervoll, wie immer. Ich glaube, er hatte oft ein verschmitztes Lächeln im Gesicht, wenn ihm eine besonders feine / pfiffige Wortspielerei gelungen war.
    Ach, und dann Anna Ritter mit ihrer Sehnsucht, grenzenlos.

    Wie toll kann doch Lyrik sein und Du verwöhnst uns immer mit echten Leckerbissen.

    Ganz herzlich, Bruni

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