Von Verlust und Liebe

*Triggerwarnung: Verlust, Tod, Trauer*

 

NOVEMBER

Das Licht erlischt.
Die Nacht wird lang, es wachsen die Schatten,
Der Wald wird kahl, leer werden die Matten.
Wir essen Asche, ins tägliche Brot gemischt. –
Das Licht erlischt.

Das Licht ist tot.
Still sind die einst so fröhlichen Gassen,
Wieviel haben uns auf immer verlassen,
Die am Tisch mit uns saßen, mit uns brachen das Brot!
Das Licht ist tot.

Das Herz ist schwer.
Wo sind, die vor uns dahingegangen?
Das Licht am Himmel wird neu erprangen,
Die toten Menschen kommen nie mehr, – nie mehr. –
Das Herz ist schwer.

(Ricarda Huch, NOVEMBER, aus: Herbstfeuer. Gedichte, Insel Verlag zu Leipzig 1944, Online-Quelle)

Verlust

Dich noch verlieren,
Der ich dich schon verlor in mancher Mitternacht!
Dich noch verlieren,
Der ich dich scheiden sah so oft im frühen Fünf-Uhr-Licht!
Ich liebte dich,
Also starbst du mir stündlich.
Ich bin vertraut mit dem Schreck meines Erschreckens,
Vertraut mit meinem Wanken im Traum.
Noch glänzest du über den Weg dahin,
Ich aber sah dich sinken schon zur Seite.
Noch dämmst du wandelnd den Sommer mit deinem Sommer,
Ich aber saß schon an deiner Stätte.
Noch lachst du über die Treppe,
Ich aber füllte schon die öde Lampe auf.
Noch bist du da, noch schiedest du nicht ab, noch atmest du das liebe Zugeteilte,
Ich aber verlor dich oft in strengen Frühen, ich kenne mein Witwertum.
So überaus ertönst du mir noch,
Ich aber schüttete schon die Schale über dein Gras.

(Franz Werfel, Verlust, in: Gesänge, Erstes Buch, aus: Der Gerichtstag, 1919, Online-Quelle)

[Lied]

Du, der ichs nicht sage, dass ich bei Nacht
weinend liege,
deren Wesen mich müde macht
wie eine Wiege.
Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht
meinetwillen:
wie, wenn wir diese Pracht
ohne zu stillen
in uns ertrügen?

***

Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen.

***

Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen.
Eine Weile bist dus, dann wieder ist es das Rauschen,
oder es ist ein Duft ohne Rest.
Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren,
du nur, du wirst immer wieder geboren:
weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest.

Rainer Maria Rilke, [Lied], aus: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Paris, Dezember 1909, in: Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens, Gedichte aus den Jahren 1906 bis 1926, insel tb 98, 1953, S. 35; Online-Quelle (Malte))



Quelle: Pixabay

Nein, nicht ich, aber es ist November und eine gute Zeit, der Toten zu gedenken, wenn es draußen ruhiger wird. Und ich finde es auch nicht unziemlich, daran zu erinnern, dass wir alle den Weg in die große Stille gehen werden, früher oder später.

Nur das Zurückbleiben ist schwer.

Kommt alle gut und heiter in und durch die neue Woche!

 

38 Kommentare zu “Von Verlust und Liebe

  1. Ja, der November ist so ein Monat… Mascha Kalékos Memento fällt mir spontan dazu ein. Und den Goethe mag ich auch:

    „Mancherlei hast du versäumet:
    Statt zu handeln, hast geträumet,
    statt zu danken, hast geschwiegen,
    solltest wandern, bliebest liegen.“

    Nein, ich habe nichts versäumet!
    Wisst ihr denn was ich geträumet?
    Nun will ich zum Danke fliegen,
    Nur mein Bündel bleibe liegen.

    J.W. v. Goethe

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    • Dann lass es, liebe Gerda, die Gedichte können schwer im. Magen liegen, und nichts weniger als das möchte ich …
      Danke dir für deinen Kommentar! 🌻
      Morgenkaffeegrüße 🌦️🍁☕🍪🍂👍

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  2. Dieser Monat ist tatsächlich besonders, denn wir beerdigen nächste Woche eine Freundin, danach einen Nachbarn und falls meine Mutter es noch erlebt, wird sie am Monatsende 88.
    Und doch empfinde ich die Stille und die Atmosphäre auch als hoffenungsvoll und tröstlich.

    Deine Gedichte sind schwere Kost, aber sie sind schön und man kann sich darauf einlassen, wenn die Stimmung es zulässt.

    Abendgrüße mit heißem Tee,
    Anna-Lena

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  3. Dieses Mal tatsächlich nicht der Rilke, sondern Ricarda Huch trifft mich am meisten. Ja, die Gedichte sind schwere Kost, aber notwendig und schön sind sie auch. Wer da drin steckt, braucht Worte von anderen, die zeigen, man ist nicht allein. Die Welt kann sehr dunkel sein, vor allem im November.
    Liebe Abendgrüße! 🍷🍪

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    • Die Welt kann sehr dunkel sein, nicht nur im November, da sagst du was. Bei dem Rest stimme ich dir gern zu …
      Ja, auch Ricarda Huch entwickelt oft so einen speziellen „Sound“, so eine Klarheit, dass es einem im Hals stecken bleibt, das geht mir ähnlich. Danke dir!
      Liebe Morgenkaffeegrüße ⛅🍁☕🍪🍂👍

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  4. Ich gedenke ja, die Ausnahme vom erwähnten „alle“ zu sein und in etwa 2.000 Jahren das Universum zu regieren – wir werden sehen … 🙂

    Ich bin ja jemand, der gerne am ersten Tag des Novembers die Hände auf die Ohren legen und laut: „LALALAAAA!“ brüllen und erst am letzten Tag des Novembers damit aufhören möchte – aber zumindest angesichts des Ricarda-Huch-Textes muss ich gestehen, dass wohl auch dieser Monat seine guten Seiten haben kann. Nur halt wenige. 🙂

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    • Okay, ich komm in 2000 Jahren auf einen Kaffee vorbei … 😉
      Ich freue mich, dass dich Frau Huch so anspricht, trotz aller Grimmigkeit. Ich finde, sie hat so was Klares, Geradliniges, und ich mag das sehr.
      Vormittagskaffeegrüße 🌤️🍁☕🍪👍

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      • Es mag Grimmigkeit enthalten sein, aber gerade vor dem Hintergrund des Entstehungszeitpunkts gestehe ich ihr jede Form der Grimmigkeit zu. 🙂

        Und du bist herzlich zum Kaffee eingeladen. Das ist die richtige Einstellung! 🙂 Wir machen uns ’nen schönen Nachmittag in meinem Palast, dem Zentrum meines Galaktischen Imperiums in Gründung. 😉

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        • Da hast du recht, was den Zeitpunkt angeht, der ist nicht lustig. Schön, dass es damals überhaupt erschienen ist.
          Der Nachmittag geht doch vermutlich schon für die Palastführung drauf, glaubst du nicht? 😎😉

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  5. Ihrer zu gedenken ist gut, aber es sollte nicht ganz so traurig sein *seufz*, liebe Christiane. Meine Eltern sind lange tot, da kann ich in Ruhe und Frieden gedenken und Ricarda Huchs Worte lese ich und nicke, denn die Nächte sind wahrhaftig lang und es wachsen die Schatten…
    Ihr Herbstfeuer-Inselbüchlein liegt vor mir. Ich fand ihre Gedichte gar zu schön und suchte es mir. Daß ich es fand, war wohl ein Glücksfall.

    Rilkes Malte Laurids Brigge hab ich vor einigen Jahren mal gelesen, aber an das Lied erinnerte ich mich nicht mehr
    *Du machst mich allein* ist eine so treffende Zeile, daß es mich ziemlich ergreift.

    Ganz herzlich, Bruni am Dienstagmittag

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    • Ich hätte das bewusste Inselbüchlein auch gerne, liebe Bruni, aber ich habe beschlossen, dass ich es vor Ort entdecken will, nicht online …
      Den Malte hingegen habe ich wohl nie ganz gelesen, denn ich erinnerte mich nicht mehr an die Herkunft des Liedes, wohl aber daran, dass ich es kannte, und hätte ich es im Malte gelesen, wüsste ich das noch.
      Ach ja, November. Ich bereite unterdessen die Adventüden vor, auf dass unsere Morgen heller werden mögen.
      Nachmittagskaffeegrüße ☁️🍁☕🍪🍂👍

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