10.12. – Der Umweg | Adventüden

So ein Mistwetter, dachte Kiki grimmig und schaltete den Scheibenwischer auf die schnellste Stufe. Seit Tagen goss es ununterbrochen, wie sollte da Adventsstimmung aufkommen. Hier konnte eigentlich nur gewohnt üppiger Weihnachtsschmuck im Haus ihrer großen Schwester helfen.

Als ihre Mutter noch lebte, wurde jedes Jahr um die kitschigsten Dekorationsstücke gewetteifert. Meistens gewinnt Veronika, dachte Kiki und kicherte.

Hab ich jetzt die blöde Abfahrt verpasst? Bei dem Regen sieht man überhaupt nichts. Kiki schaltete sicherheitshalber das Navi ein.

»In drei Kilometern nimmst du die Ausfahrt«, erklang die dunkle Stimme ihrer Mutter. Kiki lächelte. Ihr Bruder hatte das Navi so programmiert, sie fand es einfach wunderbar.

»Hallo, Mama, wie geht’s? Ich stör nicht lange, bring mich nur bis zur Rosenbrücke, dann weiß ich den Weg. Ich fahr zu Vroni, die hat sich bestimmt wieder selbst übertroffen mit Sternenglanz und Lametta, du kennst sie ja. Schade, dass du nicht dabei sein kannst. Übrigens schenke ich Ina deine alte Keksdose. Da ist sie schon lange scharf drauf, sie sagt, sie braucht sie als Puppenbett.
Du, Mama, muss ich hier nicht abbiegen? Okay, ich gehorche. Ausnahmsweise.«

Veronikas Gesicht war tränenüberströmt, als sie die Tür öffnete. »O Gott«, schluchzte sie. »Wir dachten, du bist tot!«

»Spinnst du? Nur weil ich ein bisschen spät bin? Das blöde Navi hat mich total in die Irre gelotst, ein Wunder, dass ich überhaupt angekommen bin!«

Ihr Schwager, der zu ihnen getreten war, gab Kiki wortlos sein Smartphone. Sie las: »Rosenbrücke eingestürzt. Zahlreiche Opfer.«

Minutenlang waren alle wie erstarrt, die kleine Ina blickte verängstigt zwischen den Erwachsenen hin und her.

»Komm, Süße«, sagte Kiki schließlich und holte die Gebäckdose aus ihrem Rucksack. »Wir bringen erst mal deine Puppe ins Bett.«

Ina nickte, ergriff die Hand ihrer Tante und zog sie mit sich ins Kinderzimmer.

Alles ist gut, dachte Kiki.

Danke, Mama.


Autor*in: Bettina                    Blog: Wortgerinnsel


Adventüden 2022 10-12 | 365tageasatzaday

Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

Zum Thema Inhaltshinweise/CN/Triggerwarnungen in den Adventüden bitte hier lesen.

Nachdem viele Teilnehmer*innen und Leser*innen das Fetten der vorgegebenen Wörter als störend empfunden haben, wurde darauf verzichtet. In einem Text, der maximal 300 Wörter umfassen durfte, waren (mindestens) drei der folgenden fünfzehn Begriffe zu verwenden:

Adventskalender, Dezemberdilemma, Eintopf, Gebäckdose, Hefe, Lametta, Laubsäge, Liebeserklärung, Kreuzkümmel, Kulturschock, Sternenglanz, Sturz, Taschentuch, Tunichtgut, Weihnachtsputz.

Dieser Text erschien zuerst im Rahmen der Adventüden 2022, einem Projekt von »Irgendwas ist immer«.

 

83 Kommentare zu “10.12. – Der Umweg | Adventüden

  1. Am besten gefällt mir „die dunkle Stimme ihrer Mutter“. Da denkt man an Samt und Wärme und geschützt sein. Und so ist es dann ja auch. Sehr schöne Geschichte für diesen Tag – fühl dich gedrückt! 😊😘 Samstagsgrüße mit Tee!

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  2. Gänsehaut schauerte mich – Fügungen und Eingebungen – es gibt Dinge, die gibt es einfach. Wie gut! Besondere Stimmungen ob im Auto oder im Haus. Ich erlebe mit und sehe zu. Berührt! Ich habe fast so einen Pilcher-Moment. Und das meine ich durchweg positiv. Dankeschön! LG Doro

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  3. Die Idee mit der Stimme der Mutter aus dem Navi gefällt mir sehr. Zwar glaube ich nicht, dass das machbar ist, aber darauf kommt es ja hier nicht an 😉 Die Geschichte gefällt mir sehr gut, ein einziger Kritikpunkt, falls ein solcher in einem Adventkalender überhaupt angebracht ist: mir fehlt ein etwas klarerer Hinweis darauf, dass sie dort, wo sie in Richtung Rosenbrücke abbiegen sollte, nicht abbiegt.

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  4. Hat dies auf Wortgerinnsel rebloggt und kommentierte:
    Auch in diesem Jahr war es mir ein Bedürfnis, ein Türchen zum Etüden-Adventskalender beizutragen.

    Der Kalender – innerhalb der Etüdencommunity liebevoll Adventüden genannt – wurde wie immer mit grosser Sorgfalt und viel Liebe von unser aller Etüden-Hüterin Christiane organisiert, grossen Dank dafür.

    Wer es noch nicht getan hat, möge die anderen Türchen auch flugs öffnen und sich ansonsten der Vorfreude auf die kommenden Beiträge ergeben. Denn Vorfreude ist doch der Sinn eines Adventskalenders 🙂

    Ich wünsche allen eine gemütliche und friedliche Weihnachtszeit

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    • Damit bist du nicht der Erste und hoffentlich auch nicht der Letzte, lieber Kain. Freut mich sehr, dass auch du der Magie dieser Geschichte erlegen bist! 🧡
      Abendgrüße 🕯️🕯️🍷🍪👍

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  5. Hat dies auf TarzanUnterwegs rebloggt und kommentierte:
    Wie schon vor annähernd zwei Jahren erlaube ich mir, etwas zu „rebloggen“. Auch diese Miniatur kommt vom blog „wortgerinnsel“. Und ist genau wie „Wenn die Zeit kommt“ mystisch-meisterlich. Dank an Bettina

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  6. Pingback: Weihnachtspause | Irgendwas ist immer

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