23.12. – Erinnerungen sind wie Sterne | Adventüden

Agatha schlägt die Augen auf. Ihr Kopf dröhnt, das rechte Bein fühlt sich betonschwer an, im linken Handrücken steckt eine Nadel. Agatha dreht den Kopf. Stöhnt vor Schmerz. Legt ihn zurück. Sie lässt die Augen wandern. Über ihr ein Haltegriff. Neben dem Bett ein Infusionsständer mit einer durchsichtigen Flasche. Tropf, tropf, tropf. Die Wände sind weiß. Ein kleiner Tisch und zwei Stühle stehen an der Wand, darüber hängt ein Kunstdruck. Van Goghs Sonnenblumen. Das Licht brennt. Draußen dunkelt es. Agatha hört ihren Atem, vom Flur schnelle Schritte. Und Klingeln. Immer wieder.

»Wie bin ich hier gelandet?«, fragt sie.

»Du bist von der Leiter gefallen, Gänseblümchen. Beim Aufhängen der Sternenlichterkette.«

Agatha erschrickt. »Gänseblümchen« hat sie nur ihr Papa genannt. Niemand sonst durfte das. Aber Papa ist schon lange tot. Agatha versucht, sich hochzuziehen.

»Bleib liegen, Gänseblümchen, hab keine Angst. Alles ist gut. Du bist bald gesund.«

Agatha lauscht. Schließt die Augen. Bilder tauchen auf. Ein Kaleidoskop bunter Erinnerungsfetzen. Sie sieht sich und ihren Vater beim Aufhängen der Sternenlichterkette. Seit sie in der 1. Klasse war, hat er diese mit ihr am 23. Dezember aufgehängt. Nur mit ihr. Nie mit jemandem anderen. Es war seine Vater-Tochter-Zeit. Nicht einmal in 68 Jahren hat er das ausfallen lassen. So wenig. So wertvoll. Eine Liebeserklärung an sie.

Agatha lässt die Erinnerungen kommen. Sie spürt seine Hand auf ihrem Rücken. Hört sein: »Ich halte die Leiter, einen Sturz wollen wir nicht.« Sie erinnert sich an jeden einzelnen Vorweihnachtsabend. Sieht sie sich an. Lässt sie vorbeiziehen.

Agatha spürt das Lächeln, das sich auf ihrem Gesicht breitmacht. Ihr wird ganz leicht. »Papa«, flüstert sie.

»Ich bin bei dir, Gänseblümchen. Immer.«

Agatha lauscht. Macht das Licht aus. Ihr Blick wandert zum Fenster. Sternenglanz fällt ins Zimmer.

»Danke, Papa, deine Lichterkette ist besonders in diesem Jahr.«


Autor*in: Judith                    Blog: Mutigerleben.de


Adventüden 2022 23-12 | 365tageasatzaday

Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

Zum Thema Inhaltshinweise/CN/Triggerwarnungen in den Adventüden bitte hier lesen.

Nachdem viele Teilnehmer*innen und Leser*innen das Fetten der vorgegebenen Wörter als störend empfunden haben, wurde darauf verzichtet. In einem Text, der maximal 300 Wörter umfassen durfte, waren (mindestens) drei der folgenden fünfzehn Begriffe zu verwenden:

Adventskalender, Dezemberdilemma, Eintopf, Gebäckdose, Hefe, Lametta, Laubsäge, Liebeserklärung, Kreuzkümmel, Kulturschock, Sternenglanz, Sturz, Taschentuch, Tunichtgut, Weihnachtsputz.

Dieser Text erschien zuerst im Rahmen der Adventüden 2022, einem Projekt von »Irgendwas ist immer«.

 

61 Kommentare zu “23.12. – Erinnerungen sind wie Sterne | Adventüden

  1. So ärgerlich, so schmerzhaft und dann so viel Liebe in sich gefunden, ein Weihnachtswunder eigener Art.
    Dass es Lichterketten gibt, die so lang halten, dass es überhaupt schon so lang Lichterketten gibt …. Egal- tut der Geschichte kein Abbruch🙂

    Gefällt 5 Personen

    • Liebe Judith, nein, du pingst nicht mehr, seit du die neue Seite hast, außerdem führte der Link nicht zu dir, sondern zu mir auf diesen Beitrag hier. Ich hab es korrigiert.
      Mir fällt auf, dass deine Links nicht alle zu dir zu deiner neuen Seite führen (z. B. auch Gravatar), darauf kann ich dich leider nur aufmerksam machen.
      Herzliche Grüße! ☁️🪔🌲☕🎶

      Gefällt 2 Personen

        • Ja. WordPress.com (die kostenlosen Blogs und ihre Updates) und WordPress.org (wo man die freien Seiten hostet) sind nicht dasselbe, auch wenn man die gleiche Software nutzt. Soll heißen, speziell für die Kommunikation zwischen beiden Systemen ergeben sich Unterschiede, sogar wenn man als Anwender keine Fehler macht.
          Sei noch mal ganz herzlich gegrüßt 🌧️🌲☕🍩🎶

          Gefällt 1 Person

        • Ja, und so kommen dann Entscheidungen zustande, die Fallstricke beinhalten. Ich meine, es gehört nicht hierher, aber ich habe mich schon gefragt, ob das nicht bedacht oder angesprochen wurde, als du den Umstieg geplant hast. 😏

          Gefällt 1 Person

  2. Wieder eine Etüde, die bei mir Erinnerungstsunamis auslöst…mein Vater war der typische last-minute-shopper. Ich war ebenso viel beschäftigt wie er, also hat es sich ergeben, dass wir am 24. Dezember morgens zusammen los sind und jeder seine Sachen erledigt hat, die noch zu erledigen waren. Dann haben wir uns wieder getroffen, ein Glas Sekt getrunken und sind nach Hause gefahren. Diese Tradition fand erst ein Ende, als ich selber Mutter wurde und genug anderes zu tun hatte am 24…doch die Erinnerung daran ist jedes Jahr an Weihnachten wieder da. Das sind die Schätze, die man immer mit sich trägt und die einem keiner nehmen kann. Fröhliche Weihnachten!

    Gefällt 3 Personen

    • Wir hatten ein Heiligabendritual, dem jedes Jahr peinlich gefolgt wurde, dazu gehörte der Weihnachtsbaum wie die Kocherei wie die Vorbereitungen für den Abend 😉, bis Wohnzimmer und Küche vorbereitet waren, der gemeinsame Kirchgang und danach endlich die BESCHERUNG und das vorbereitete Abendessen mit selbst gemachten Glühwein etc. etc.
      Hach ja. 😉
      Nachmittagskaffeegrüße ☁️🪔🌲☕🎶

      Gefällt 2 Personen

        • Unsers war eng. Ja. Jein. Der Baum wird erst an Heiligabend geschmückt und dabei wird eine bestimmte Musik gehört. Und irgendwann werde ich mich vergewissern, dass Aschenbrödel ihren Prinzen bekommt 😎🧡

          Gefällt 1 Person

      • Danke dir, Christiane.
        Ich finde es immer wieder spannend, was wir übernehmen und was nicht.
        Aschenbrödel und ihr Prinz – auch fein…
        Liebe Grüße (inzwischen hat das Teewasser schon gekocht…)
        Judith

        Gefällt 1 Person

    • Da hast du völlig recht, liebe Ulrike, das ist eine besondere und anheimelnde Adventüde, die das Herz berührt. Ich habe mich sehr darüber gefreut, als Judith sie eingereicht hat.
      Nachtgrüße mit Regen 🌧️🪔🍷🍪🎶

      Gefällt 2 Personen

    • Liebe Ulrike,
      danke für deine Kommentar.
      Das hast du wunderbar beschrieben. Mir ist sie beim Schreiben – sie hat sich von selbst geschrieben – auch unter die Haut gegangen.
      Und das „Gänseblümchen“ ist einfach dagewesen. Jetzt, beim Lesen deines Kommentars, erschließt sich mir durchaus ein Zusammenhang: Gänseblümchen sind für mich ein Symbol für Widerstandskraft und Lebenskraft – und gute Erinnerungen stärken beides.
      Gesegnete Weihnachten und ganz herzliche Grüße
      Judith

      Gefällt 2 Personen

      • Liebe Judith,
        vielen Dank für Deine Rückmeldung und die guten Festtagswünsche.
        Es freut mich, daß Dir die Beschreibung meines Leseeindruck so sehr zusagt.
        Bei dem Namen Gänseblümchen hatte ich ebenfalls unwillkürlich die Assoziation zu den ebenso unermüdlichen wie heiter lichtzugewandten botanischen Gänseblümchen.
        Da die Weihnachtstage nun schon fast vorbei sind, kann ich Dir nur noch einen schönen Jahreswechsel und ein herzerfülltes und belichtendes neues Jahr 2023 wünschen.
        Herzensgruß von mir zu Dir ✨

        Gefällt 1 Person

  3. Sooooo schön, eine würdige 23.DezemberGeschichte. Soooo schön. Ich mag die leisen Töne, die Erinnerung, die Beruhigung, das Glück, die ich hier in dieser wunderschönen Geschichte finde. Dankeschön. LG Doro

    Gefällt 2 Personen

  4. Pingback: Weihnachtspause | Irgendwas ist immer

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.