Von Winter und Alleinsein

Die Überholten

Und Menschen triffst du, und dich stört ihr Reden,
Weil es nichts Neues dir enthüllt.
Du kennst all ihre Zellen, hast längst jeden
Gedanken überholt, der sie erfüllt.

Du willst durchaus nicht, daß sie näher kommen;
Du fürchtest, daß du überlegen siegst.
Doch schweigend dann besinnst du dich beklommen,
Wie du den Anfang so wie sie genommen,
Und daß du dankbar sein mußt, weil du stiegst.

Doch wenn du dich bescheiden an sie wendest
Und einfach sprichst, erfährst du, daß du störst.
Und einsam klingt der Satz, den du vollendest.
Weil du doch nimmer ihnen angehörst.

(Joachim Ringelnatz, Die Überholten, aus: Gedichte dreier Jahre, 1932, Online-Quelle)

Lebhafte Winterstraße

Es gehen Menschen vor mir hin
Und gehen mir vorbei, und keiner
Davon ist so, wie ich es bin.
Es blickt ein jedes so nach seiner
Gegebenen Art in seine Welt.

Wer hat die Menschen so entstellt??

Ich sehe sie getrieben treiben.
Warum sie wohl nie stehenbleiben,
Zu sehen, was nach ihnen sieht?
Warum der Mensch vorm Menschen flieht?

Und eine weiße Weite Schnee
Verdreckt sich unter ihren Füßen.
So viele Menschen. Mir ist weh:
Keinen von ihnen darf ich grüßen.

(Joachim Ringelnatz, Lebhafte Winterstraße, aus: Flugzeuggedanken, 1929, Online-Quelle)

Stille Winterstraße

Es heben sich vernebelt braun
Die Berge aus dem klaren Weiß,
Und aus dem Weiß ragt braun ein Zaun,
Steht eine Stange wie ein Steiß.

Ein Rabe fliegt, so schwarz und scharf,
Wie ihn kein Maler malen darf,
Wenn er’s nicht etwa kann.
Ich stapse einsam durch den Schnee.
Vielleicht steht links im Busch ein Reh
Und denkt: Dort geht ein Mann.

(Joachim Ringelnatz, Stille Winterstraße, aus: Flugzeuggedanken, 1929, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Kein Schnee in Hamburg, nirgends, aber als ich über den Winter nachdachte, fielen mir innerhalb kürzester Zeit drei mehr oder weniger melancholische Ringelnatze ins Auge, dann muss das wohl so sein.

Kommt wie immer gesund und heiter in und durch die neue Woche!


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60 Kommentare zu “Von Winter und Alleinsein

  1. Die ersten zwei Gedichte beschreiben die Distanz, die Ringelnatz fühlt.
    „Und einsam klingt der Satz, den du vollendest“:
    Man spürt oft selbst, daß nicht zugehört wird, daß es bisweilen müßig ist, zu reden.
    Man erreicht den anderen nicht – oder dieser hört etwas anderes.

    Gefällt 5 Personen

    • Ich finde es unglaublich treffend, aber auch das schwierigste von den Dreien, denn sich das einzugestehen, ist nicht lustig.
      Es war zwei Jahre vor seinem Tod, die Nazis zogen herauf …
      Vormittagskaffeegrüße ☁️☕🍪

      Gefällt 5 Personen

    • Ein Gedicht aus späten Jahren, wie die anderen beiden auch. Einerseits Einsamkeit andererseits „Und daß du dankbar sein mußt, weil du stiegst.“. Es wird nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, andere Menschen zu finden, die ähnlich gestrickt sind, ähnliche Erfahrungen gemacht haben, mit denen ein Austausch zu gegenseitiger Freude und Gewinn möglich wäre.
      Die erste Strophe mit ihrer großartigen Definition von hohlem Smalltalk ! Dennoch hat auch small talk eine wichtige Funktion in der Gesellschaft. Ach, es gefällt mir einfach !

      Gefällt 6 Personen

      • Ja, es ist sehr vielschichtig. Ist es arrogant, zu erkennen (zu glauben?), jeden Gedanken überholt zu haben, „der sie erfüllt“? Ich kenne das Gefühl durchaus, aber ist es möglich – ist es nicht vielleicht auch grausam ehrlich? 🤔
        Sagt es nicht auch sehr viel über den aus, der es sagt? 😉

        Gefällt 4 Personen

      • Jeden Gedanken überholt haben ist schon eine gewisse Überheblichkeit. ….. Vielleicht ist es aber auch Ausdruck eines Umbruchs im eigenen Leben? Die bekannten, alten Kontakte und Gespräche stimmen nicht mehr, wurden überholt und neue, die sich stimmig anfühlen wurden noch nicht gefunden? Wenn das Alter dann noch mitspielt ist es vielleicht auch ein gewisser Rückzug aus der Welt, weil es nicht mehr so leicht möglich ist, neue Kontakte aufzubauen?

        Gefällt 2 Personen

      • Alles, was du/ihr sagt, kann sein. Aber Ringelnatz und seine Frau waren sehr arm und er ist im Alter von 51 Jahren an TBC gestorben. Da er den Nazis schon negativ aufgefallen war, gehe ich davon aus, dass er die Nazizeit nicht überlebt hätte.

        Gefällt 4 Personen

      • Meiner Meinung nach ist es eine kausale Kette, die davon ausgeht, dass jemand sich – aus welchen Gründen auch immer – einsam und unverstanden fühlt. Daraus ergibt sich das Gefühl, einmalig, herausragend, besonders zu sein. Ich halte dies für einen selbsterhaltenden Gedanken, der aber von außen betrachtet doch sehr arrogant ist.
        Es ist objektiv kaum denkbar, dass jemand hoch über allen anderen steht und jeden Gedanken, der alle anderen erfüllt überholt hat. Würde jemand dies in einem anderen Zusammenhang sagen, würde es als unerträgliche und völlig unberechtigte Arroganz rüberkommen.
        Ein Gefühl des Andersseins, der Einsamkeit kann man nicht als falsch erklären, ein Gefühl ist ein Gefühl und keine überprüfbare Tatsache. Wenn man aus dem Gefühl des Andersseins aber eine Basis für absolute Überlegenheit baut, so ist dies für alle Beteiligten unerfreulich und wird – wie in dem Gedicht so gut beschrieben – dazu führen, dass die vermeintlich völlig anders seienden Menschen ihrerseits Mauern aufbauen und die Einsamkeit sogar größer wird.
        Ich finde ja, dass man – und sei man noch so „anders“ – immer wieder Anknüpfungspunkte zu anderen Menschen finden kann, die anfangs nichts als Smalltalk sind, sich mit der Zeit aber durchaus in die Tiefe bewegen können.
        Und überhaupt, Analyse hin oder her, ich mag das Gedicht einfach 🙂

        Gefällt 4 Personen

  2. Starke Gedichte, sagen mir sehr zu, alle. Das letzte ist mein Liebling wegen der Präzision: Das verbindende Thema „sehen – gesehen werden“, in den beiden anderen Gedichten als „nicht gesehen“ behandelt, wird hier zum „vielleicht gesehen“, denn die Tiere sind freundlicher, zugewandter als die Menschen. Das macht das Gefühl der Vereinsamung noch schmerzhafter.

    Gefällt 5 Personen

  3. Für uns ist das kein Widerspruch. Erkenntnisse haben meist den Schmerz als Transportmittel zum Bewusstsein. Es ist aber auch eine Entscheidung, ob eine:r im Schmerz stecken bleibt und verbittert wird, oder den Schmerz annehmen kann, als Teil der persönlichen Entwicklung, den Hintergrund reflektieren kann und dadurch diese Erkenntnis transformieren kann in eine relative Leichtigkeit, die sowohl Tiefe als auch eben diese Leichtigkeit ausdrückt. Für uns ist das ein Anzeichen von Weisheit.

    Gefällt 5 Personen

  4. Wir haben jetzt unsere Wissenslücke um das Leben von Ringelnatz aufgefüllt und können Myriade nur Recht geben. ….. Wir merken, es ist sehr unterschiedlich, das Gedicht ohne biografisches Hintergrund Wissen zu lesen und eine Abriss der Biografie im Kopf zu haben. Beides hat seinen Reiz. Ohne Hintergrund ist es mehr Spiegel als mit Hintergrund.

    Gefällt 3 Personen

  5. Mir gefällt der andere Ringelnatz. Wo fallen dir denn solch Gedichte in die Hände? Gehst du zum Regal und schlägst irgendwo eine Seite auf, oder hast du einen Zettelkasten mit Stichworten wie. „Wintertag“? Oder kennst du sie alle gar auswendig? 😉

    Gefällt 1 Person

    • O je. Ich habe im Netz nach „Winter“-Gedichten gesucht (ich suche immer nach einem Thema/Stichwort). Da hatte ich dann ziemlich schnell die beiden Winterstraßen, und stand vor der Entscheidung, ob ich eins davon nehme oder beide. Wenn beide, die auch im Buch hintereinander stehen, dann gerne noch einen dritten Ringelnatz. Der Fund wiederum war Zufall, ich kannte das Gedicht vorher nicht, aber es gibt viel Ringelnatz im Netz. Dann stellte ich fest, dass es hervorragend in die Reihe passt, suchte nach einer verlässlichen Quelle (in diesem Fall offline, „Sämtliche Gedichte“, Diogenes, dann wieder online) und voilà. 😀
      Oft ist es schwieriger, die Quelle zu finden, als ein passendes Gedicht. Anfangs habe ich das nur wegen des Urheberrechts gemacht, aber inzwischen macht es mir Spaß. Speziell bei Zitaten wird unglaublich viel falsch zugeschrieben, aber auch bei Gedichten liegt einiges im Argen.
      Reicht dir das? 😉
      Morgenkaffeegrüße 🌥️☕🍪

      Gefällt 1 Person

      • Ja, danke! 😉 Ein Genie bei der Arbeit. Ich hatte tatsächlich geglaubt, dass du die Gedichte aus Büchern abtippst. Aber mache ich auch nicht. Wenn ich was zitiere, schaue ich, dass ich es irgendwo mit Copy und Paste übernehmen kann. Schön, dass du am Ende wieder beim Buch landest.
        Einen Bürokaffee schick ich dir rüber.

        Gefällt 2 Personen

      • Na ja, Genie, nicht wirklich … Tatsächlich habe ich einige Gedichtbände hier herumstehen, sowohl Anthologien als auch von einzelnen Dichter*innen, und ich bin (vor dem Internet) gedichtaffin aufgewachsen …
        Kaffee geht eigentlich immer, daher
        Spätnachmittagskaffeegrüße! 🌅⛅☕🍪

        Gefällt 1 Person

  6. Ringelnatz, wer kennt diesen Namen nicht…
    Als Hans Bötticher wurde er geboren und warum er sich umbenannte, weiß ich nicht so recht.
    Vielleicht erkannte er da schon, daß er irgendwie anders war als die anderen.
    Intensive Gedichte von ihm hast Du ausgesucht, liebe Christiane. Keine leichten, aber so echte und so ehrliche. Ich glaube nicht, daß er arrogant war, aber eingekapselt in sein eigenes Wesen und daß er deshalb oft aneckte, trotz all seiner wundervoll humorvollen Gedichte, die wir alle sehr mögen, weil sie uns zum Lächeln und Schmunzeln bringen.

    Das Winterbild könnte aus einem Märchenbuch sein, so schön verwunschen schaut es aus.

    Liebe Grüße zum Abend von Bruni

    Gefällt 1 Person

    • Ringelnatz verdient, dass man sich intensiv mit ihm beschäftigt, genau.
      Danke für den „Bildungsblog“ 😉 Ich sage ja immer, dass Etüden bilden, aber die Montagsgedichte fallen nicht darunter. 😉
      Morgenkaffeegrüße zurück ☁️☕🍩

      Gefällt 1 Person

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