Das Geheimnis | abc.etüden

Julias Stimme schwoll bedrohlich an. Ruhig, dachte sie, ruhig. Reiß dich zusammen. Es ist nur deine verdammte Schwester. Du schaffst das.

»Was soll das heißen, du kannst heute Abend nicht kommen?«

Wochenlang hatte sie Alexander bekniet, doch auch Dr. Mohr zu ihrer Gartenparty einzuladen. Dr. Mohr, der neue Arzt in der Kleinstadt, der so hervorragend in die Runde ihrer gesellschaftlich nicht uninteressanten Feierlichkeit passen würde, und der, viel interessanter noch, unverheiratet und demnach auch hoffentlich ungebunden war. Was tat man nicht alles für die einzige Schwester, das Mauerblümchen. Natürlich scheute die davor, verkuppelt zu werden, deshalb hatte man ihr ja auch nichts gesagt, und war so eine Gelegenheit etwa nicht unverbindlich genug?

»Es tut mir leid. Du weißt doch, eure Gartenpartys sind nichts für mich, und du hast ja die Mädchen, die dir helfen können.«

»Wo willst du denn so plötzlich hin?«

»Literatursalon. Die Lesung. Sehr bekannter Autor. Lyrik.«

Das war doch ein Widerspruch in sich! Flippte ihre sonst so genügsame Schwester jetzt völlig aus und machte in Kunst? Sie musste es wenigstens probieren.

»Die ist doch abgesagt.«

Hörte sie ein Stocken in der Stimme ihrer Schwester?

»Ist sie nicht. Ich hatte vorhin Kontakt zu dem Veranstalter.«

Okay, es war den Versuch wert gewesen. Literatur interessierte sie eh nicht.

»Wenn du es dir anders überlegst, komm jederzeit her.«

»Gern, Julchen, danke. Ich wünsch dir einen gelungenen Abend.«

»Dir auch.«

Daniela legte auf. Puh, gerade noch mal gut gegangen. Sie war überzeugt, dass wieder ein, zwei unbeweibte Herren den Rasen schmücken würden und dass sie sich wie immer furchtbar gelangweilt und zu viel getrunken hätte. Eigentlich traurig. Hoffentlich war die Discokugel immer noch kaputt.

Aber jetzt war es langsam Zeit, sich für den Abend zurechtzumachen. Julia hatte irgendwie schon recht gehabt: Es gab keine Dichterlesung. Der Dichter las für sie. Privat.



Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

Für die abc.etüden, Wochen 10*11*12*13**2023: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Wortspende stammt dieses Mal von Werner Kastens und seinem Blog Mit Worten Gedanken horten. Sie lautet: Dichterlesung, genügsam, verkuppeln.

Myriade, ist dir das Discokugel-Mosaikstück nah genug dran für die Impulswerkstatt? Falls ja, würde ich zu dir verlinken.

 

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45 Kommentare zu “Das Geheimnis | abc.etüden

  1. Guten Morgen! Über die unbeweibten Herrren als Rasenschmuck habe ich gelacht, um so mehr, weil sich Daniela hinsichtlich männlicher Gesellschaft als keineswegs hilflos erweist. Man möche ihr gleich lächelnd über die Zeilen hinweg zuwinken.

    Gefällt 5 Personen

    • Ich habe mir eine Party vorgestellt, bei der es mich schüttelt 😉
      Für mich ist das auch eine Geschichte zweier Schwestern, die sich auseinander entwickelt haben, die aber zumindest den Schein aufrechterhalten. 🤔😉
      Morgenkaffeegrüße ☁️☕🍪

      Gefällt 2 Personen

  2. Sehr schön: „… unbeweibte Herren den Rasen schmücken …“
    Was mir auch gut gefällt, ist die Struktur: Erst Julia, dann das Gespräch, dann Daniela. Klare Form, die dem Inhalt mit der schönen Pointe dient.
    Schmunzelnd gelesen und froh, keine so manipulative Schwester zu haben…

    Gefällt 6 Personen

  3. Sehr gelungen diese Abfolge von drei Blickwinkeln! Das ist eine Struktur, die ich auch sehr verlockend finde. Es stoßen zwei Welten zusammen, die sicher für weitere Geschichten einiges hergeben.
    Aber klar ist die Discokugel willkommen. So ist es gemeint: das Mosaikstück kann sich in jedem möglichen Text befinden

    Gefällt 3 Personen

  4. Warum der Aufwand mit einer Gartenparty? Doch wohl nur, um sich am Schwesterlein rächen zu können und ihr einen „Dorfarzt“ zuzuschanzen?
    In Julias Gedankenwelt möchte ich tiefer einblicken können.
    Ansonsten: klug aufgebaut und in schönen Bildern geschrieben!

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  5. Ein bisschen Entgegenkommen bitte!
    Da müht sich die Schwester ab – und diese hat schon längst jemanden.
    Aber ich verstehe: Das will man ihr nicht stecken. Könnte ja sein, daß sie ihn ablehnt.
    Solcherlei Infusion braucht man nicht. 😉

    Gefällt 1 Person

    • Bisschen anders. Für mich ist es ein großer Unterschied, ob ich meiner Schwester zwanglos einen Mann vorstelle, weil ich finde, dass er gut zu ihr passen könnte, oder ob ich will, dass sie endlich auch einen Mann hat, und wenn er zu meinen gesellschaftlichen Ambitionen passt, dann noch besser.
      In dieser Etüde ist Letzteres der Fall und das wissen beide, denn sonst hätte die zweite Schwester anders reagiert.
      Ansonsten können bei dem ganzen Szenario alle nur verlieren, denke ich.
      Morgenkaffeegrüße mit Schneedecke 🌨️🌨️☕🍪

      Gefällt 1 Person

  6. Mir hats gefallen! Ich war auch schon öfter Verkupplungsopfer und bedanke mich herzlich für die Bemühungen, aber nein, danke. Ist ja gut gemeint, aber ganz, ganz schrecklich, wenn auch noch alle sehr aufmerksam zugucken und sich abklatschen, wenn es ein Gespräch gibt… daher fünf von fünf Sternen von mir für diese Etüde! Natürlich auch, weil sie sehr gut geschrieben ist. Und für die letzten zwei Sätze vergebe ich etwa 17 Sterne. Mit Extraglanz! 😄
    Abendgrüße von Tanja

    Gefällt 2 Personen

  7. Bei solchen Verkuppelungsaktionen habe ich stets das dumpfe Gefühl, dass sich bei Erfolg die Verkuppler permanent selbst beweihräuchern und Dankbarkeit von den Verkuppelten erwarten.

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  8. Schwestern! Ja ja, die wollen einander gern helfen, aber kennen tun sie sich nicht. In deiner Geschichte ist das Dilemma mit Händen zu greifen. Ich würde keine beschuldigen, denn diese Art Missverständnisse (und Übergriffigkeiten) sind unter Geschwistern fast unausweichlich.

    Gefällt 1 Person

    • Ich fürchte auch. Ich finde meine Geschichte eigentlich sehr alltäglich, denn wenn man sich erst einmal in so etwas verrannt hat, gerät man leicht ins Aufrechnen: Hättest du damals doch … aber du wolltest ja nicht … ich hab dir immer gesagt …
      Ach ja.
      Abendgrüße 🍵🍪

      Gefällt 1 Person

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