Noch ist die Zeit der blauen Bäume, Sie schauen mit kahlem Geäst Weit in die funkelnde Ewigkeit Und halten sich kahl am Himmelsblau fest. Und nur die Wolken, weiß und breit, Bauen im blauen Baum ihr Nest. Die Winde fegten fort verjährten Blätterrest, Und dein Auge im Baum weiten Raum hat Für der verliebten Gedanken luftige Lagerstatt.
(Max Dauthendey, Noch ist die Zeit der blauen Bäume, aus: Lusamgärtlein, in: Gesammelte Gedichte und kleinere Versdichtungen, Albert Langen, München 1930, S. 232–233)
Vorfrühling
Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung an der Wiesen aufgedecktes Grau. Kleine Wasser ändern die Betonung. Zärtlichkeiten, ungenau,
greifen nach der Erde aus dem Raum. Wege gehen weit ins Land und zeigens. Unvermutet siehst du seines Steigens Ausdruck in dem leeren Baum.
(Rainer Maria Rilke, Vorfrühling, In: Die Gedichte 1922 bis 1926 (Muzot, etwa 20. Februar 1924), Online-Quelle)
Vorfrühling
Leise tritt auf …
Nicht mehr in tiefem Schlaf, in leichtem Schlummer nur Liegt das Land: Und der Amsel Frühruf Spielt schon liebliche Morgenbilder ihm in den Traum.
Leise tritt auf …
(Ferdinand Avenarius, Vorfrühling, aus: Stimmen und Bilder. Neue Gedichte, 1898, Online-Quelle)
Aus silbergrauen Gründen tritt ein schlankes Reh im winterlichen Wald und prüft vorsichtig, Schritt für Schritt, den reinen, kühlen, frischgefallnen Schnee.
Und Deiner denk’ ich, zierlichste Gestalt.
(Christian Morgenstern, Erster Schnee, aus: Und aber ründet sich ein Kranz, 1902, Online-Quelle)
Winter
Geduldig ist der Wald, Behutsamer der Schnee, Am einsamsten das Reh. Ich rufe. Was erschallt? Der Widerhall macht Schritte. Er kehrt zurück zu seinem Weh: Das kommt heran wie leise Tritte. Er findet mich in meiner Mitte. Warum hab ich den Wald gestört? Vom Schnee ward nichts gehört. Hat sich das Reh gescheut? Wie mich das Rufen reut.
(Theodor Däubler, Winter, in: Menschheitsdämmerung, 1920, S. 119, Online-Quelle)
STILLE WINTERSTRASSE
Es heben sich vernebelt braun Die Berge aus dem klaren Weiß, Und aus dem Weiß ragt braun ein Zaun, Steht eine Stange wie ein Steiß.
Ein Rabe fliegt, so schwarz und scharf, Wie ihn kein Maler malen darf, Wenn er’s nicht etwa kann. Ich stapse einsam durch den Schnee. Vielleicht steht links im Busch ein Reh Und denkt: Dort geht ein Mann.
(Joachim Ringelnatz, Stille Winterstraße, aus: Flugzeuggedanken, Berlin 1929, Online-Quelle)
Und weil ich nicht weiß, wie lange die weiße Pracht hierzulande anhält – die einen sagen so, die anderen so – ein paar Fotos von Samstag, entstanden auf dem Weg um meinen Lieblingsteich … 😉
Die Felder rauchen Den weißen Flor Und goldbraun tauchen Die Bäume empor. Und alles so eigen, Feld, Wiesen, Wald – Warten und Schweigen – Und jetzt: Beben und Neigen – Die Sonne kommt bald.
Und endlich stirbt die Sehnsucht doch – – – wie Blüthen sterben im Kellerloch, die ewig auf ein bischen Sonne warten. Wie Thiere sterben, die man lieblos hält, und alles Unbetreute in der Welt! Man denkt nicht mehr; »Wo wird sie sein –?!?« Ruhig erwacht man, ruhig schläft man ein. Wie in verwehte Jugendtage blickst Du zurück, und irgendeiner sagt Dir weise: »S‘ ist Dein Glück!« Da denkt man, dass es vielleicht wirklich so ist, wundert sich still, dass man doch nicht froh ist!
(Peter Altenberg, Und endlich stirbt die Sehnsucht doch, aus: Cyclus: Gedichte an Ljuba, in: Was der Tag mir zuträgt, 1921, Online-Quelle)
Das ist mein Streit
Das ist mein Streit: Sehnsuchtgeweiht durch alle Tage schweifen. Dann, stark und breit, mit tausend Wurzelstreifen tief in das Leben greifen – und durch das Leid weit aus dem Leben reifen, weit aus der Zeit!
(Rainer Maria Rilke, Das ist mein Streit, aus: Erste Gedichte/Gaben an verschiedene Freunde, Insel 1913, Online-Quelle)
»Warum sollen denn nun diese Arbeiten, wenn sie nicht vortrefflich sind, gar vernichtet werden?« »Weil ein Gedicht entweder vortrefflich sein oder gar nicht existieren soll; weil jeder, der keine Anlage hat, das Beste zu leisten, sich der Kunst enthalten und sich vor jeder Verführung dazu ernstlich in acht nehmen sollte.«
(Johann Wolfgang von Goethe, aus: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 2. Buch, 2. Kap., Online-Quelle)
Ein Gedicht, dessen Lektüre nicht mit einem stillen, tiefen Einatmen endet, ist kein solches ersten Ranges.
(Carl Ludwig Schleich, aus: Erlebtes Erdachtes Erstrebtes, 1928, Online-Beleg)
Die Leute die den Reim für das Wichtigste in der Poesie halten, betrachten die Verse wie Ochsen-Käufer von hinten.
(Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), aus: Sudelbücher KS, KA141, Online-Quelle)
Man gibt über lyrischen Gedichten oft die Versart an |— ◡◡ | — — — — | — ◡◡◡ | pp. Wenn man die Gedanken darin mit Eins und den Nonsense mit Null anzeigte, so würde es zuweilen so aussehn: 000 | 000 | 000 oder so.
(Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), aus: Sudelbücher J, J294, Online-Quelle)
* * *
Avant-propos
Ich kann mein Buch doch nennen, wie ich will Und orthographisch nach Belieben schreiben! Wer mich nicht lesen mag, der laß es bleiben. Ich darf den Sau, das Klops, das Krokodil Und jeden andern Gegenstand bedichten,
Darf ich doch ungestört daheim Auch mein Bedürfnis, wie mir’s paßt, verrichten. Was könnte mich zu Geist und reinem Reim, Was zu Geschmack und zu Humor verpflichten? – Bescheidenheit? – captatio – oho!
Und wer mich haßt, – – sie mögen mich nur hassen! Ich darf mich gründlich an den Hintern fassen Sowie an den avant-propos.
Ich selbst schreibe keine Gedichte, und ich mag Reimereien selten. Aber ich habe großen Respekt vor allen, die sich daran versuchen und ihr ganzes Herz darein legen, dass es „gut“ wird, was auch immer sie unter „gut“ verstehen.
Schon mit ihren schlimmsten Schatten Schleicht die böse Nacht heran; Unsre Seelen sie ermatten, Gähnend schauen wir uns an.
Du wirst alt und ich noch älter, Unser Frühling ist verblüht. Du wirst kalt und ich noch kälter, Wie der Winter näher zieht.
Ach, das Ende ist so trübe! Nach der holden Liebesnoth, Kommen Nöthen ohne Liebe, Nach dem Leben kommt der Tod.
(Heinrich Heine, Schon mit ihren schlimmsten Schatten, aus: Emma, VI., in: Neue Gedichte, 1844, Online-Quelle)
Mißmut
Ein Rauch verweht. Ein Wasser verrinnt. Eine Zeit vergeht. Eine neue beginnt. Warum? Wozu? Denk’ ich dein Fleisch hinweg, so bist Du ein dünntrauriges Knochengerüst, Allerschönstes Mädchen du.
Wer hat das Fragen aufgebracht? Unsere Not. Wer niemals fragte, wäre tot. Doch kommt’s drauf an, wie jemand lacht.
Bist du aus schlimmem Traum erwacht, Ist eine Postanweisung da, Ein Telegramm, ein guter Brief, – Du atmest tief Wie eine Ziehharmonika.
Wohin ich schaue, Wunder über Wunder,
Wohin ich lausche, alles wunderbar.
Ihr sprecht von Sinn, Gesetz und von gesunder
Vernunft: Ihr schaukelt zwischen falsch und wahr!
Mich hat als Kind das Wunder tief getroffen!
Ich schlug es tot, weil’s mir die Ruh’ vergällt.
Nun halt ich wieder Kinderaugen offen
Und weiß, das Wunder ist der Grund der Welt.
(Jakob Bosshart, Wohin ich schaue, in: Träume der Wüste. Gedichte., Bd. VI der Werkausgabe v. 1951, Beleg, Online-Quelle)
Weihnachten ist der stillste Tag im Jahr. Da hörst du alle Herzen gehn und schlagen wie Uhren, welche Abendstunden sagen. Weihnachten ist der stillste Tag im Jahr.
Da werden alle Kinderaugen groß, als ob die Dinge wüchsen, die sie schauen und mütterlicher werden alle Frauen und alle Kinderaugen werden groß.
Da mußt du draußen gehn im weiten Land willst du die Weihnacht sehn, die unversehrte, als ob dein Sinn der Städte nie begehrte, so mußt du draußen gehn im weiten Land.
Dort dämmern große Himmel über dir, die auf entfernten, weissen Wäldern ruhn, die Wege wachsen unter deinen Schuhn, und große Himmel dämmern übern dir.
Und in den großen Himmeln steht ein Stern, ganz aufgeblüht zu selten großer Helle, die Fernen nähern sich wie eine Welle, und in den großen Himmeln steht ein Stern.
(Rainer Maria Rilke, Weihnachten ist der stillste Tag im Jahr, 1901, aus einem Brief an seine Frau Clara, Online-Quelle)
Quelle: ichmeinerselbst
Ich kenne viele Menschen, für die Weihnachten nicht gerade der stillste Tag im Jahr ist, und vielleicht gehört ihr auch dazu. Ich begreife es so, dass damit eine innere Stille gemeint ist, eine Offenheit … Was ich an diesem Gedicht so mag, ist Rilkes Haltung, die sich hier ausdrückt, die Bereitschaft, einem Wunder zu begegnen. Rilke war Mitte Dezember 1901 zum ersten Mal Vater (einer Tochter, Ruth) geworden. Wenn es also in Rilkes Vorstellung ein „ideales Weihnachten“ (wir würden das heute vermutlich kitschig nennen) gab, dann war es vermutlich dieses. Außerdem war er erst Mitte 20.
Ich wünsche euch dieses Innehalten, diese tiefen Momente wortlosen Glücks, die überquellende Sehnsucht, das Ergriffensein vom Schönen – was, nicht falsch verstehen, absolut null mit „Religion“ zu tun haben muss und ganz sicher nicht an Weihnachten gekoppelt ist.
Dieser Blog geht so langsam ebenfalls in den Feiertagsmodus: Er schließt nicht, aber ich lasse ihn liegen, bis ich Lust habe, mich darum zu kümmern … Kommt gut und heil und „entschleunigt“ durch diese Tage, die dieses Jahr vielleicht auch bei euch ein bisschen anders ausfallen als üblich, und passt auf euch auf.
Und vielleicht hat ja jemand Sinn hierfür … Hört einfach mal rein.
Lichtgebet · Elbcanto & Helge Burggrabe · Text aus der Sufi-Tradition
Die erste alte Tante sprach: Wir müssen nun auch dran denken, Was wir zu ihrem Namenstag Dem guten Sophiechen schenken.
Drauf sprach die zweite Tante kühn: Ich schlage vor, wir entscheiden Uns für ein Kleid in Erbsengrün, Das mag Sophiechen nicht leiden.
Der dritten Tante war das recht: Ja, sprach sie, mit gelben Ranken! Ich weiß, sie ärgert sich nicht schlecht Und muß sich auch noch bedanken.
(Wilhelm Busch, Die erste alte Tante sprach, aus: Kritik des Herzens, 1874, Online-Quelle)
Bürgerliches Weihnachtsidyll
Was bringt der Weihnachtsmann Emilien? Ein Strauß von Rosmarin und Lilien. Sie geht so fleißig auf den Strich. O Tochter Zions, freue dich!
Doch sieh, was wird sie bleich wie Flieder? Vom Himmel hoch, da komm ich nieder. Die Mutter wandelt wie im Traum. O Tannebaum! O Tannebaum!
O Kind, was hast du da gemacht? Stille Nacht, heilige Nacht. Leis hat sie ihr ins Ohr gesungen: Mama, es ist ein Reis entsprungen! Papa haut ihr die Fresse breit. O du selige Weihnachtszeit!
(Klabund, Bürgerliches Weihnachtsidyll, aus: Die Harfenjule, 1927, Online-Quelle)
Weihnachten
Nun ist das Fest der Weihenacht, das Fest, das alle glücklich macht, wo sich mit reichen Festgeschenken Mann, Weib und Greis und Kind bedenken, wo aller Hader wird vergessen beim Christbaum und beim Karpfenessen; — und Groß und Klein und Arm und Reich, — an diesem Tag ist alles gleich. So steht’s in vielerlei Varianten in deutschen Blättern. Alten Tanten und Wickelkindern rollt die Zähre ins Taschentuch ob dieser Mähre. Papa liest’s der Familie vor, und alle lauschen und sind Ohr… Ich sah, wie so ein Zeitungsblatt ein armer Kerl gelesen hat. Er hob es auf aus einer Pfütze, dass es ihm hinterm Zaune nütze.
Auch zu Adventüden-Zeiten gibt es die Montagsgedichte! Heute mal eher die despektierlichere Variante zur Erinnerung daran, dass man sich (auch) zu Weihnachten eben oft nur aushält. Ich hoffe wie üblich, dass besonders die Autorin der heutigen Adventüde mit meiner Auswahl leben mag, und auch, dass ihr es gelungen findet …
Kommt gesund und sowieso heiter in und durch die Woche und habt gelungene, schöne und entspannte Tage, falls wir uns vorher nicht mehr lesen!
Wenn jedes Menschen geheimes Weh Ihm an der Stirn geschrieben man säh‘, Wir wären oft zu Thränen bewegt Für den, der heute Neid erregt. Es finden so Viele, in deren Brust Das Herz voll Leid will weinen, All ihren Trost, all ihre Lust Darin – uns glücklich zu scheinen.
(Autor: Unbekannt, Falscher Schein, aus: Fliegende Blätter, Nr. 1835, in: Bd. LXXIII, Nr. 1823–1848, Online-Quelle)
Trost
Erlosch einer Hoffnung Schimmer, Laß nur der Zeit ihren Lauf; Begrabene Hoffnung steht immer, Als Weisheit wieder auf. Die führt dich auf schweren Wege treulich ein gutes Stück, Jenseits vom Trauerstege Wartet ein neues Glück.
Auch zu Adventüden-Zeiten gibt es die Montagsgedichte. Es mag eine etwas freie Interpretation sein, aber ich WOLLTE mich thematisch an die heutige Etüde annähern und hoffe, ihr findet es gelungen …
Tief in den Himmel verklingt Traurig der letzte Stern, Noch eine Nachtigall singt Fern, – fern. Geh schlafen, mein Herz, es ist Zeit. Kühl weht die Ewigkeit.
Matt im Schoß liegt die Hand, Einst so tapfer am Schwert. War, wofür du entbrannt, Kampfes wert? Geh schlafen, mein Herz, es ist Zeit. Kühl weht die Ewigkeit.
(Ricarda Huch, Tief in den Himmel verklingt, aus: Herbstfeuer, 1944, Online-Quelle)
Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden, in welchen meine Sinne sich vertiefen; in ihnen hab ich, wie in alten Briefen, mein täglich Leben schon gelebt gefunden und wie Legende weit und überwunden.
Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe. Und manchmal bin ich wie der Baum, der, reif und rauschend, über einem Grabe den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe (um den sich seine warmen Wurzeln drängen) verlor in Traurigkeiten und Gesängen.
(Rainer Maria Rilke, Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden, 1899, in: Das Buch vom mönchischen Leben, aus: Das Stundenbuch, Online-Quelle)
Noch eine Woche, dann ist der 1. Advent, dann starten die Adventüden, dann ist das Jahr gefühlt fast herum. Kommt gut und heiter in und durch diese neue Woche!
Wind aus dem Mond, plötzlich ergriffene Bäume und ein tastend fallendes Blatt. Durch die Zwischenräume der schwachen Laternen drängt die schwarze Landschaft der Fernen in die unentschlossene Stadt.
(Rainer Maria Rilke, Herbst-Abend, aus: (Paris, Ende September 1907) aus: Rainer Maria Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren bis späteren Jahren, Insel-Verlag 1953, S. 467)
Novembertag
Nebel hängt wie Rauch ums Haus, Drängt die Welt nach innen; Ohne Not geht niemand aus; Alles fällt in Sinnen.
Leiser wird die Hand, der Mund, Stiller die Geberde. Heimlich, wie auf Meeresgrund, Träumen Mensch und Erde.
Von den Alten zu den Jungen Muß das Leben wandern. Was du gestern noch bezwungen, bezwingen morgen schon die andern. Das Lied, das du gestern gepfiffen im Weitertraben, Will schon morgen der andern Lippen haben. Und dir entschwundene Augenblicke kannst du sehen, Wie sie im Blut der Jungen auferstehen. Darüber, seit ich’s erfahre, muß ich die Hände falten, Muß leiden, daß ich mich wandle, und laß es walten. Das Leben — ach, einst da kam es umhalsend gesprungen, Jetzt grüßt es noch im Vorüberschweben und geht zu den Jungen.
(Max Dauthendey, Das Leben, aus: Weltspuk, in: Gesammelte Gedichte und kleinere Versdichtungen, Albert Langen, München 1930, S. 407)
Im Bozener Batzenhäusl Otto Erich Hartlebens gedenkend
Heute tret ich diese Schwelle, Die du gestern überschritten. Morgen wird ein Dritter kommen, Und ein Vierter folgt dem Dritten.
Jeder, der vorangegangen, Wird Vergangenheit dem andern – Und doch ist mir oft, als säh ich Immerdar – DEN SELBEN wandern …
(Christian Morgenstern, Im Bozener Batzenhäusl, aus: Epigramme und Sprüche, Ausgabe 1922, Online-Quelle)
Einmal, am Rande des Hains
Einmal, am Rande des Hains, stehn wir einsam beisammen und sind festlich, wie Flammen fühlen: Alles ist Eins.
Halten uns fest umfaßt; werden im lauschenden Lande durch die weichen Gewande wachsen wie Ast an Ast.
Wiegt ein erwachender Hauch die Dolden des Oleanders: sieh, wir sind nicht mehr anders, und wir wiegen uns auch.
Meine Seele spürt, daß wir am Tore tasten. Und sie fragt dich im Rasten: Hast Du mich hergeführt?
Und du lächelst darauf so herrlich und heiter und: bald wandern wir weiter: Tore gehn auf..
Und wir sind nichtmehr zag, unser Weg wird kein Weh sein, wird eine lange Allee sein aus dem vergangenen Tag.
(Rainer Maria Rilke, Einmal, am Rande des Hains, aus: Dir zur Feier, 1897/98, Online-Quelle)
Stell auf den Tisch die duftenden Reseden,
Die letzten roten Astern trag herbei
Und lass uns wieder von der Liebe reden
Wie einst im Mai.
Gib mir die Hand, dass ich sie heimlich drücke,
Und wenn man’s sieht, mir ist es einerlei,
Gib mir nur einen deiner süßen Blicke
Wie einst im Mai.
Es blüht und funkelt heut auf jedem Grabe,
Ein Tag im Jahre ist den Toten frei;
Komm an mein Herz, dass ich dich wieder habe,
Wie einst im Mai.
(Hermann von Gilm zu Rosenegg, Allerseelen, aus: Sophien-Lieder, 1844, Online-Quelle)
Seelen
Du weisst, wir bleiben einsam: du und ich,
Wie Stämme, tief in Gold und Blau getaucht,
Mit freien Kronen, die der Seewind streift;
So nah, doch ganz gesondert, ewig zwei.
Und zwischen beiden webt ein feines Licht
Und Silberduft, der in den Zweigen spielt,
Und dunkel rauscht die Sehnsucht her und hin.
(Paul Wertheimer, Seelen, aus: Neue Gedichte, 1904, Online-Quelle)
Nennt ihr das Seele, was so zage zirpt
Nennt ihr das Seele, was so zage zirpt
In euch? Was, wie der Klang der Narrenschellen,
Um Beifall bettelt und um Würde wirbt
Und endlich arm ein armes Sterben stirbt
Im Weihrauchabend gotischer Kapellen, –
Nennt ihr das Seele?
Schau’ ich die blaue Nacht, vom Mai verschneit,
In der die Welten weite Wege reisen,
Mir ist: Ich trage ein Stück Ewigkeit
In meiner Brust. Das rüttelt und das schreit
Und will hinauf und will mit ihnen kreisen …
Und das ist Seele.
(Rainer Maria Rilke, Nennt ihr das Seele, was so zage zirpt, aus: Erste Gedichte/Gaben an verschiedene Freunde, Insel 1913, Online-Quelle)