Von Pfingsten (unkirchlich)

Berliner Pfingsten

Heute sah ich ein Gesicht,
Wonnevoll zu deuten:
In dem frühen Pfingstenlicht
Und beim Glockenläuten
Schritten Weiber drei einher,
Feierlich im Gange,
Wäscherinnen, fest und schwer!
Jede trug ’ne Stange.

Mädchensommerkleider drei
Flaggten von den Stangen;
Schönre Fahnen, stolz und frei,
Als je Krieger schwangen,
Blau und weiß und rot gestreift,
Wunderbar beflügelt,
Frisch gewaschen und gesteift,
Tadellos gebügelt.

Lustig blies der Wind, der Schuft,
Lenden auf und Büste,
Und von frischer Morgenluft
Blähten sich die Brüste!
Und ich sang, als ich gesehn
Ferne sie entschweben:
Auf und laßt die Fahnen wehn,
Schön ist doch das Leben!

(Gottfried Keller, Berliner Pfingsten, aus: Neuere Gedichte, 1851/54, Online-Quelle)

Pfingstbestellung

Ein Pfingstgedichtchen will heraus
Ins Freie, ins Kühne.
So treibt es mich aus meinem Haus
Ins Neue, ins Grüne.

Wenn sich der Himmel grau bezieht,
Mich stört’s nicht im geringsten.
Wer meine weiße Hose sieht,
Der merkt doch: Es ist Pfingsten.

Nun hab ich ein Gedicht gedrückt,
Wie Hühner Eier legen,
Und gehe festlich und geschmückt
Pfingstochse meinetwegen
Dem Honorar entgegen.

(Joachim Ringelnatz, Pfingstbestellung, aus: Gedichte dreier Jahre, 1932, Online-Quelle)

Kleinstadtpfingsten

Um eine schöne Pfingststimmung zu bewirken,
Stellt man in den kleinen Städten Birken
Vor die Tür. Und am Vorabend singen
Die Mädchen süßsonderbare Lieder, die den Sommer herbeizwingen
Sollen. Die Buben zwitschern auf ihren Kalmusstauden wie Nachtigallen.
Aber vor allen
Dingen vergeßt
Nicht: wir feiern Pfingsten das Schützenfest.
In grasgrüner Uniform wie die Förster, mit Fahnen, Flöten, Pauken, und unter Applaus
Des Publikums, marschiert die Schützengilde (63 Mann) zum Schützenhaus.
Mein Vater ist Schützenmajor – er trägt einen Ehrendegen
Und muß an solchem Fest- und Ehrentage auch seinen Kronenorden vierter Klasse anlegen,
Sowie die hohenzollern-sigmaringsche Verdienstmedaille. –
Die Mädchen gehen alle schon in weißer Taille,
Und am Abend tanzt man im Schützenhaussaal bis zum Verrücktwerden …
Dann draußen unter den Bäumen … im Grase … von deinem Munde beglückt werden.
… Küsse … Musik von ferne … am Abendhimmel die Venus gleißt …
Und wir reden jauchzend irr mit fremden Zungen,
Unsere Herzen sind wie Blüten aufgesprungen,
Nieder fuhr durchs Dunkel wie ein Blitz singend der heilige Geist …

(Klabund, Kleinstadtpfingsten, aus: Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern!, 1913, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Ja, das ist eigentlich ein Maibaum. Aber ich zum Beispiel kenne diesen Brauch eher von Pfingsten, wo in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, zugleich auch immer Kirmes war. Wen es interessiert, den verweise ich auf den sehr informativen Wikipedia-Artikel.

Euch allen einen schönen Feiertag und eine gute neue Woche!

 

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Von Liebesliedern und der Nacht

[Das Glück ist dieses]

Das Glück ist dieses: Beieinander ruhen,
schweigsam als wie gebettet in den Abend,
und Horchen ist es auf den Ton,
den meine Seele nächtlich deiner singt.

(Walter Calé, Das Glück ist dieses, aus: Mauthner (Hg.), Nachgelassene Schriften von Walter Calé, 1910, Online-Quelle)

Ein Liebeslied

Komm zu mir in der Nacht – wir schlafen engverschlungen.
Müde bin ich sehr, vom Wachen einsam.
Ein fremder Vogel hat in dunkler Frühe schon gesungen,
Als noch mein Traum mit sich und mir gerungen.

Es öffnen Blumen sich vor allen Quellen
Und färben sich mit deiner Augen Immortellen …..

Komm zu mir in der Nacht auf Siebensternenschuhen
Und Liebe eingehüllt spät in mein Zelt.
Es steigen Monde aus verstaubten Himmelstruhen.

Wir wollen wie zwei seltene Tiere liebesruhen
Im hohen Rohre hinter dieser Welt.

(Else Lasker-Schüler, Ein Liebeslied, aus: Mein blaues Klavier, 1943, Online-Quelle)

Liebes-Lied

Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen

an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.

Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

(Rainer Maria Rilke, Liebes-Lied, aus: Neue Gedichte, 1907, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Wer Zeit hat, dem empfehle ich zwei Videos:

Die Vertonung des obigen Rilke-Gedichtes, gesungen von Frida Gold und Cassandra Steen für das Rilke-Projekt. Die beiden geben dem Gedicht eine ganz einzigartige Klangfarbe und bezaubern mich jedes Mal, wenn ich sie höre –> hier klicken (YouTube).

„Bilder von dir“, Laith al-Deen, eines meiner Lieblingsliebeslieder. Ich kenne es seit inzwischen vielen Jahren, es macht mich immer noch lächeln, wenn ich es höre, und ich mag den Sänger nach wie vor. Dies ist eine ungewöhnliche Live-Aufnahme mit der Bigband des Hessischen Rundfunks, eindeutig eine Version für die Fans 😉 –> hier klicken (YouTube).

Wer sich jetzt fragt, ob es einen aktuellen Anlass für meine gute Laune gibt: Nein. Es ist einfach nur Mai und die Sonne scheint.

Kommt gut und heiter in und durch die neue Woche. Ach, und den Feiertag am Donnerstag haben wir ja auch noch.

 

Von Blumen im Frühling

Ein Aufathmen (I.)

Grüne Tannen, bunte Blumen,
Blauer Himmel, Luft und Duft,
Silberhelle Wasser rieseln
Aus der grauen Felsenkluft.

Helle Sonnenlichter zittern
Spielend auf dem feuchten Grund,
Und der Vögel heimlich Zwitschern
Gleicht dem Wort aus liebem Mund.

Grüne Tannen – kleine Vögel,
Ach, – ihr kennt ein Zauberwort – –
Euer Rauschen, euer Zwitschern
Scheucht die alten Schmerzen fort!

(Ada Christen, Ein Aufathmen, aus: Aus der Asche (Neue Gedichte), 1870, Online-Quelle)

Kleine Blume

Kleine Blume an meinem Pfad
Die mein achtloser Fuß zertrat,
Was ich fehlte, ich mach’ es gut:
Sollst mir schmücken den Wanderhut.

Sollst mich mahnen, wie flücht’ge Hast
Oft schon sinnige Lust verpasst,
Achtlos sonniges Glück zertrat, −
Kleine Blume an meinem Pfad.

(Anna Dix, Kleine Blume, aus: Aus jungem Herzen, 1898, Online-Quelle)

Es kommt der Regen des Frühlings

Es kommt der Regen des Frühlings,
Und bringt den Segen des Frühlings.
Die Blumen stehen und warten
An allen Stegen des Frühlings,
Und Düfte streuen die Lüfte
Auf allen Wegen des Frühlings.
Doch mein Gemüth ist beklommen
In Kummer wegen des Frühlings;
Wie ich soll feiern die Feier,
Ich bin verlegen, des Frühlings?
Mir ist im Froste des Winters
Die Lust erlegen des Frühlings.
Bis euch, ihr Blumen, die blühtet
In Lustgehegen des Frühlings,
Mir neu anreget zu blühen
Ein Hauch allregendes Frühlings;
Hab’ ich, ein trauriger Gärtner,
Das Grab zu pflegen des Frühlings.

(Friedrich Rückert, Es kommt der Regen des Frühlings, aus: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a. M. 1872, S. 213–214, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay


Vom April (2)

April

Das ist die Drossel, die da schlägt,
Der Frühling, der mein Herz bewegt;
Ich fühle, die sich hold bezeigen,
Die Geister aus der Erde steigen.
Das Leben fließet wie ein Traum –
Mir ist wie Blume, Blatt und Baum.

(Theodor Storm, April, aus: Gedichte (Ausgabe 1885), Erstes Buch, Online-Quelle)

[Alle tausend Jahre]

Alle tausend Jahre
wachsen mir Flügel.

Alle tausend Jahre
saust mein purpurner Drachenleib
durch die Finsterniss.

In entseelte Himmel
spei ich
Myriaden Sterne!

Am Bach,
unter Weiden,
sitz ich dann, flechte mein langes Goldhaar, singe
und freue mich, wie sie Oben glitzern.

(Arno Holz, Alle tausend Jahre, aus: Phantasus, 2. Heft 1899, Online-Quelle)

Ein Frühlingswind

Mit diesem Wind kommt Schicksal; laß, o laß
es kommen, all das Drängende und Blinde,
vor dem wir glühen werden –: alles das.
(Sei still und rühr dich nicht, daß es uns finde.)
O unser Schicksal kommt mit diesem Winde.

Von irgendwo bringt dieser neue Wind,
schwankend vom Tragen namenloser Dinge,
über das Meer her was wir sind.

…. Wären wirs doch. So wären wir zuhaus.
(Die Himmel stiegen in uns auf und nieder.)
Aber mit diesem Wind geht immer wieder
das Schicksal riesig über uns hinaus

(Rainer Maria Rilke, Ein Frühlingswind, aus: Rilke, Die Gedichte. Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1986. 1906 bis 1926. Vollendetes. Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Wie jede Woche: Kommt fröhlich und heil an Körper, Geist und Seele durch die neue Woche!

 

Vom Vorfrühling (3)

Vorfrühling

Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,

greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.

(Rainer Maria Rilke, Vorfrühling, In: Die Gedichte 1922 bis 1926 (Muzot, etwa 20. Februar 1924), Online-Quelle)

Frühling.

Frühling.
Ein erstes Blühen
In zarten Frühen,
Vom Himmelssaum
Ein Stern noch schaut.
Ein Lercheschlag
Im stillen Raum,
Weit vor Tag
Und sonst kein Laut.
O Liebe.

(Georg Heym, Frühling, aus: Frühwerk, in: Georg Heym, Dichtungen und Schriften, Gesamtausgabe, Band 1: Lyrik, Verlag Heinrich Ellermann 1964, Online-Quelle)

Vorfrühling

Leise tritt auf …

Nicht mehr in tiefem Schlaf,
in leichtem Schlummer nur
Liegt das Land:
Und der Amsel Frühruf
Spielt schon liebliche
Morgenbilder ihm in den Traum.

Leise tritt auf …

(Ferdinand Avenarius, Vorfrühling, aus: Stimmen und Bilder. Neue Gedichte, 1898, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Und ansonsten gilt das Gleiche wie jede Woche: Kommt gut, heil und gesund in und durch die neue Woche!

 

Vom Lob der Kartoffel

Kartoffellied

Pasteten hin, Pasteten her,
Was kümmern uns Pasteten?
Die Kumme hier ist auch nicht leer,
Und schmeckt so gut, als bonne chère
Von Fröschen und von Kröten.

Und viel Pastet und Leckerbrot
Verdirbt nur Blut und Magen.
Die Köche kochen lauter Not,
Sie kochen uns viel eher tot;
Ihr Herren laßt euch sagen!

Schön rötlich die Kartoffeln sind
Und weiß wie Alabaster!
Sie däun sich lieblich und geschwind
Und sind für Mann und Frau und Kind
Ein rechtes Magenpflaster.

(Matthias Claudius, Kartoffellied, in: Paul Erdmanns Fest, aus: ASMUS omnia sua SECUM portans oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen, Vierter Theil, 1774, Online-Quelle (Text), Online-Quelle (im Kontext))

Die Kartoffel

Es ist für uns Materielle
Nur eine Kartoffel die Welt,
Von der der Weise die Pelle
Fürsorglich herunter schält.

Denn eine von unsern Devisen
Ist die: Kartoffel und Welt,
Sind beide nicht zu genießen,
Wenn man sie nicht richtig quellt.

Der idealistische Stoffel,
Der alles für herrlich hält,
Verzehrt die ganze Kartoffel
Natürlich unabgepellt.

Doch liegt sie ihm dann im Magen,
So jammert er und erzählt,
Wie schwer für ihn zu ertragen
Oft diese so „rohe“ Welt!

Wir aber genießen behaglich
Die Süße, die sie enthält –
Die beste Kartoffel, unfraglich,
Ist – richtig genossen – die Welt.

(A. de Nora (Anton Alfred Noder), Die Kartoffel, aus: Ruhloses Herz, 1908, Online-Quelle)

Abschiedsworte an Pellka

Jetzt schlägt deine schlimmste Stunde,
Du Ungleichrunde,
Du Ausgekochte, du Zeitgeschälte,
Du Vielgequälte,
Du Gipfel meines Entzückens.
Jetzt kommt der Moment des Zerdrückens
Mit der Gabel! – – Sei stark!
Ich will auch Butter und Salz und Quark
Oder Kümmel, auch Leberwurst in dich stampfen.
Mußt nicht so ängstlich dampfen.
Ich möchte dich doch noch einmal erfreun.
Soll ich Schnittlauch über dich streun?
Oder ist dir nach Hering zumut?

Du bist ein so rührend junges Blut. –
Deshalb schmeckst du besonders gut.
Wenn das auch egoistisch klingt,
So tröste dich damit, du wundervolle
Pellka, daß du eine Edelknolle
Warst, und daß dich ein Kenner verschlingt.

(Joachim Ringelnatz, Abschiedsworte an Pellka, aus: Gedichte, Gedichte von Einstmals und Heute, 1934, Online-Quelle)

Altes Lied

Es war einmal ein Bäcker,
Der prunkte mit einem Wanst,
Wie du ihn kühner und kecker
Dir schwerlich träumen kannst.

Er hat zum Weibe genommen
Ein würdiges Gegenstück;
Sie konnten zusammen nicht kommen,
Sie waren viel zu dick.

(Frank Wedekind, Altes Lied, aus: Die vier Jahreszeiten, 1905, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Fastenzeit, ja? Ich weiß ja nicht, wie das bei euch ist, aber den einen oder die andere von euch wird man doch bestimmt damit hinter dem Ofen vorlocken können, oder? Tatsächlich ist Claudius’ bekanntes Kartoffellied offen politisch, daher habe ich euch einmal den puren Text und einmal im Kontext verlinkt. Nora und Ringelnatz sprechen mit einem Augenzwinkern für sich, und den Wedekind konnte ich mir nicht verkneifen, nachdem ich ihn gefunden hatte …

Kommt gut und heiter und gesund in und durch eure neue Woche! 😉

 

Von Freude und so

Erinnerung.

Willst du immer weiter schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah.
Lerne nur das Glück ergreifen,
Denn das Glück ist immer da.

(Johann Wolfgang von Goethe, Erinnerung, aus: Gedichte (Ausgabe letzter Hand, 1827), Online-Quelle)

Zuspruch.

Such’ nicht immer, was Dir fehle,
Demuth fülle Deine Seele,
Dank erfülle Dein Gemüth.
Alle Blumen, alle Blümchen,
Und darunter selbst ein Rühmchen,
Haben auch für Dich geblüht!

(Theodor Fontane, Zuspruch, aus: Gedichte, 1905, Online-Quelle)

Freude

Freude soll nimmer schweigen.
Freude soll offen sich zeigen.
Freude soll lachen, glänzen und singen.
Freude soll danken ein Leben lang.
Freude soll dir die Seele durchschauern.
Freude soll weiterschwingen.
Freude soll dauern
Ein Leben lang.

(Joachim Ringelnatz, Freude, aus: Gedichte, 1910, Online-Quelle)

Wie sich das Galgenkind die Monatsnamen merkt

Jaguar
Zebra
Nerz
Mandrill
Maikäfer
Ponny
Muli
Auerochs
Wespenbär
Locktauber
Robbenbär
Zehenbär.

(Christian Morgenstern, Wie sich das Galgenkind die Monatsnamen merkt, aus: Galgenlieder (erw. Ausgabe 1932), Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Aus Gründen 😉

Ach, Aufruf! Balladentag, nächste Woche Montag? Wer macht mit? Wie ist es mit euch, seid ihr dabei? Was ich damit meine, könnt ihr hier genauer nachlesen.

Kommt gut und heil und fröhlich in und durch die neue Woche!


Von Winter und Alleinsein

Die Überholten

Und Menschen triffst du, und dich stört ihr Reden,
Weil es nichts Neues dir enthüllt.
Du kennst all ihre Zellen, hast längst jeden
Gedanken überholt, der sie erfüllt.

Du willst durchaus nicht, daß sie näher kommen;
Du fürchtest, daß du überlegen siegst.
Doch schweigend dann besinnst du dich beklommen,
Wie du den Anfang so wie sie genommen,
Und daß du dankbar sein mußt, weil du stiegst.

Doch wenn du dich bescheiden an sie wendest
Und einfach sprichst, erfährst du, daß du störst.
Und einsam klingt der Satz, den du vollendest.
Weil du doch nimmer ihnen angehörst.

(Joachim Ringelnatz, Die Überholten, aus: Gedichte dreier Jahre, 1932, Online-Quelle)

Lebhafte Winterstraße

Es gehen Menschen vor mir hin
Und gehen mir vorbei, und keiner
Davon ist so, wie ich es bin.
Es blickt ein jedes so nach seiner
Gegebenen Art in seine Welt.

Wer hat die Menschen so entstellt??

Ich sehe sie getrieben treiben.
Warum sie wohl nie stehenbleiben,
Zu sehen, was nach ihnen sieht?
Warum der Mensch vorm Menschen flieht?

Und eine weiße Weite Schnee
Verdreckt sich unter ihren Füßen.
So viele Menschen. Mir ist weh:
Keinen von ihnen darf ich grüßen.

(Joachim Ringelnatz, Lebhafte Winterstraße, aus: Flugzeuggedanken, 1929, Online-Quelle)

Stille Winterstraße

Es heben sich vernebelt braun
Die Berge aus dem klaren Weiß,
Und aus dem Weiß ragt braun ein Zaun,
Steht eine Stange wie ein Steiß.

Ein Rabe fliegt, so schwarz und scharf,
Wie ihn kein Maler malen darf,
Wenn er’s nicht etwa kann.
Ich stapse einsam durch den Schnee.
Vielleicht steht links im Busch ein Reh
Und denkt: Dort geht ein Mann.

(Joachim Ringelnatz, Stille Winterstraße, aus: Flugzeuggedanken, 1929, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Kein Schnee in Hamburg, nirgends, aber als ich über den Winter nachdachte, fielen mir innerhalb kürzester Zeit drei mehr oder weniger melancholische Ringelnatze ins Auge, dann muss das wohl so sein.

Kommt wie immer gesund und heiter in und durch die neue Woche!


Von Tanten und Verwandten

Verwandte

Ihr seid beleidigt, weil ich nicht
Gerührt in Eure Arme stürze
Und das Verzeihungs-Arangement
Mit keiner Reuescene würze.
Ich flehte nicht, Ihr selber seid
Nun plötzlich gnädig mir gewogen;
Doch legt die Gnadenmienen ab,
Schaut, welche Kluft Ihr einst gezogen.
Setzt nur herüber kühnen Sprungs,
Seid einmal menschlich-unbesonnen. …
Brecht Ihr auch das Genick dabei,
Hat Welt und Hölle nur gewonnen.

(Ada Christen, Verwandte, aus: Aus der Asche (Neue Gedichte), 1870, Online-Quelle)

Die erste alte Tante sprach

Die erste alte Tante sprach:
Wir müssen nun auch dran denken,
Was wir zu ihrem Namenstag
Dem guten Sophiechen schenken.

Drauf sprach die zweite Tante kühn:
Ich schlage vor, wir entscheiden
Uns für ein Kleid in Erbsengrün,
Das mag Sophiechen nicht leiden.

Der dritten Tante war das recht:
Ja, sprach sie, mit gelben Ranken!
Ich weiß, sie ärgert sich nicht schlecht
Und muß sich auch noch bedanken.

(Wilhelm Busch, Die erste alte Tante sprach, aus: Kritik des Herzens, 1874, Online-Quelle)

Überall

Überall ist Wunderland.
Überall ist Leben.
Bei meiner Tante im Strumpfenband
Wie irgendwo daneben.
Überall ist Dunkelheit.
Kinder werden Väter.
Fünf Minuten später
Stirbt sich was für einige Zeit.
Überall ist Ewigkeit.

Wenn Du einen Schneck behauchst,
Schrumpft er ins Gehäuse,
Wenn Du ihn in Kognak tauchst,
Sieht er weiße Mäuse.

(Joachim Ringelnatz, Überall, aus: 103 Gedichte, 1933, Online-Quelle)

Irrlichter

Wir haben einen alten Verkehr
mit den Lichtern im Moor.
Sie kommen mir wie Großtanten vor …
Ich entdecke mehr und mehr

zwischen ihnen und mir den Familienzug,
den keine Gewalt unterdrückt:
diesen Schwung, diesen Sprung, diesen Ruck, diesen Bug,
der den andern nicht glückt.

Auch ich bin dort, wo die Wege nicht gehn,
im Schwaden, den mancher mied,
und ich habe mich oft verlöschen sehn
unter dem Augenlid.

(Rainer Maria Rilke, Irrlichter, Muzot, Mitte Februar 1924, in: Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens, Gedichte aus den Jahren 1906 bis 1926, insel tb 98, 1953, S. 147)



Quelle: Pixabay

Jaaaa, der Rilke passt nicht so recht in die Reihe, zugegeben. Aber ehrlich gesagt dachte ich, wenn ich den jetzt nicht festhalte, dann finde ich ihn nieeee wieder …

Sind die (Kopfbedeckungen der) Tanten nicht großartig? Die scheinen auf der Insel Mainau zu stehen, tun sie das immer noch ;-)?

Kommt wie immer gut und heiter (und gesund) in und durch die neue Woche!


Von Sterben und Leben

Ausgang.

Immer enger, leise, leise
Ziehen sich die Lebenskreise,
Schwindet hin, was prahlt und prunkt,
Schwindet Hoffen, Hassen, Lieben,
Und ist nichts in Sicht geblieben,
Als der letzte dunkle Punkt.

(Theodor Fontane, Ausgang, aus: Gedichte, 1905, Online-Quelle)

Ueber alle Gräber wächst zuletzt das Gras

Ueber alle Gräber wächst zuletzt das Gras,
Alle Wunden heilt die Zeit, ein Trost ist das,
Wohl der schlechteste, den man dir kann ertheilen;
Armes Herz, du willst nicht, daß die Wunden heilen.
Etwas hast du noch, solang es schmerzlich brennt;
Das Verschmerzte nur ist todt und abgetrennt.

(Friedrich Rückert, Ueber alle Gräber wächst zuletzt das Gras, aus: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a. M. 1872, S. 153, Online-Quelle)

Tränen, Tränen, die aus mir brechen

Tränen, Tränen, die aus mir brechen.
Mein Tod, Mohr, Träger
meines Herzens, halte mich schräger,
daß sie abfließen. Ich will sprechen.

Schwarzer, riesiger Herzhalter.
Wenn ich auch spräche,
glaubst du denn, daß das Schweigen bräche?

Wiege mich, Alter.

(Rainer Maria Rilke, Tränen, Tränen, die aus mir brechen, (Paris, Spätherbst 1913) aus: Rainer Maria Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren bis späteren Jahren, Insel-Verlag 1953, S. 467)

Sieben Septillionen Jahre

Sieben Septillionen Jahre
zählte ich die Meilensteine am Rande der Milchstrasse.

Sie endeten nicht.

Myriaden Aeonen
versank ich in die Wunder eines einzigen Thautröpfchens.

Es erschlossen sich immer neue.

Mein Herz erzitterte!

Selig ins Moos
streckte ich mich und wurde Erde.

Jetzt ranken Brombeeren
über mir,
auf einem sich wiegenden Schlehdornzweig
zwitschert ein Rotkehlchen.

Aus meiner Brust
springt fröhlich ein Quell,
aus meinem Schädel
wachsen Blumen.

(Arno Holz, Sieben Septillionen Jahre, aus: Phantasus, II. Heft, Berlin, 1899, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Ansprechende Gedichte zum Thema, die nicht oder weitgehend nicht christlich eingefärbt sind, sind eher selten für die Zeit, aus der man öffentlich zitieren darf. Nachdem ich letzte Woche auf eine Zusammenstellung von Trauersprüchen (mit überprüfter Autorenangabe, SELTEN) gestoßen bin (hier klicken), dachte ich, vielleicht mag diese Gedichte noch jemand außer mir.

Wie immer, kommt gut und warm und fröhlich in und durch die neue Woche!

 

Vom Frieden

Weß ist der Erdenraum?

Weß ist der Erdenraum? Des Fleißigen.
Weß ist die Herrschaft? Des Verständigen.
Weß sei die Macht? Wir wünschen alle, nur
Des Gütigen, des Milden. Rach’ und Wuth
Verzehrt sich selber. Der Friedselige
Bleibt und errettet. Nur der Weisere
Soll unser Vormund seyn. Die Kette ziemt
Den Menschen nicht und minder noch das Schwert.

(Johann Gottfried von Herder, Weß ist der Erdenraum?, aus: Die Fremdlinge, in: Zerstreute Blätter, Sechste Sammlung, VII. Legenden, Neue Auflage 1820, Online-Quelle)

II.

Verlange nichts von irgendwem,
laß jedermann sein Wesen,
du bist von irgendwelcher Fehm
zum Richter nicht erlesen.

Tu still dein Werk und gib der Welt
allein von deinem Frieden,
und hab dein Sach auf nichts gestellt
und niemanden hienieden.

(Christian Morgenstern, Verlange nichts von irgendwem, aus: Wir fanden einen Pfad, 1914, Online-Quelle)

Es wird citiert hienieden …

Es wird citiert hienieden
Ein Bild zum Ueberdruß:
Von dem Faß der Danaiden
Und dem Stein des Sysiphus.

Schafft endlich Beiden Frieden
Durch freundlichen Beschluß:
Verstopft das Faß der Danaiden
Mit dem Stein des Sysiphus.

(Albert Roderich, 1846–1938, Schriftsteller und Aphoristiker, Es wird citiert hienieden, keine Quelle bekannt, möglicherweise aus den „Fliegenden Blättern“ oder „In Gedanken. Vers-Aphorismen“, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Als ich vor wenigen Tagen eher zufällig den ersten Gedichteintrag des letzten Jahres aufrief, stutzte ich, weil er „Vom Frieden“ hieß und mir das spontan doch bemerkenswert vorkam. Also, dachte ich mir, kann ich ihn auch noch einmal (verändert) wiederholen, denn ich finde den Gedanken, einem Übel ein anderes in den Rachen zu stopfen und damit beide zu erschlagen, immer noch reizvoll. Ich glaube allerdings noch weniger als letztes Jahr, dass es funktioniert.
Und ach, Herder: Der Text spielt zu der Frühzeit der deutschen Christianisierung, da mal reinzulesen lohnt sich durchaus ;-), der steht hier also richtig außerhalb jedes Kontextes als frommer (wenn auch sehr nachvollziehbarer) Wunsch …
Ja, Gerda, ich habe bei den Danaiden auch an dein Weltentheater denken müssen.

Auch in diesem Jahr: Kommt gut und gesund und heil in und durch die neue Woche!

 

Weihnachten ist der stillste Tag im Jahr

Weihnachten ist der stillste Tag im Jahr.
Da hörst du alle Herzen gehn und schlagen
wie Uhren, welche Abendstunden sagen.
Weihnachten ist der stillste Tag im Jahr.

Da werden alle Kinderaugen groß,
als ob die Dinge wüchsen, die sie schauen
und mütterlicher werden alle Frauen
und alle Kinderaugen werden groß.

Da mußt du draußen gehn im weiten Land
willst du die Weihnacht sehn, die unversehrte,
als ob dein Sinn der Städte nie begehrte,
so mußt du draußen gehn im weiten Land.

Dort dämmern große Himmel über dir,
die auf entfernten, weissen Wäldern ruhn,
die Wege wachsen unter deinen Schuhn,
und große Himmel dämmern übern dir.

                                 Für Clara Rilke. Weihnachten 1901

(Rainer Maria Rilke, Weihnachten ist der stillste Tag im Jahr, 1901, Online-Quelle)


Es passt, dazu zu erzählen, dass Rilke Mitte Dezember 1901 Vater (einer Tochter, Ruth) geworden ist, sein erstes und einziges Kind. Wenn es also in Rilkes Vorstellung ein „ideales Weihnachten“ (wir würden das heute vermutlich „kitschig“ nennen) gab, dann war es wohl dieses. Okay, er war erst Mitte 20 (die Geburt war knapp zehn Tage nach seinem 26. Geburtstag). Okay, er war aus der Stadt (Berlin) auf das Land gezogen, Westerwede, das ein Nachbardorf Worpswedes ist (ja, DAS Worpswede (Wikipedia)).
Was ich auch immer vergesse: Er ist nur 51 geworden, das ist nicht viel – wie man denkt, wenn man selbst älter ist.)
Wie hier nachzulesen ist (das ist eine Biografie von Clara Rilke-Westhoff, deren Autorin u. a. Rilkes Briefe zitiert), inszeniert er das als für ihn eine fast heilige Angelegenheit, auf jeden Fall sehr überhöht, was mich bei jemandem, der auf eine gewisse Art so weltfern, so unpraktisch war, nicht wundert …
Das Eheglück war nicht von Dauer, Rilke und seine Frau, die Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff (Fembio) trennten sich bereits im folgenden Jahr nach 16 Monaten des Zusammenlebens, auch wenn sie sich nie scheiden ließen. Der Rest ist Geschichte, wie so oft.



Quelle: Pixabay

Dieses Gedicht ist während der Adventszeit trotz des ganzen Adventüden-Rummels auf meinem Blog derartig häufig aufgerufen worden, dass ich dachte, ein Reblog würde vielen Freude machen.

Habt weiterhin eine geruhsame Zeit, so ihr möchtet, und wenn nicht, dann nicht … 😉