An die Wand gefahren | abc.etüden

Ihre Eltern bestimmten den ihr zugedachten Platz. Selbstverständlich. Sie wollten schließlich nur ihr Bestes. Urgroßeltern, Großeltern, Eltern, dann kam sie und nach ihr ihre Kinder. So war es richtig, so wurde es gemacht, so musste es sein, was zögerte sie?

Sie hatte nicht rebelliert, wohin hätte sie gehen sollen? Sie hatte geheiratet, Kinder bekommen, ein an Freuden armes Leben voller Pflichterfüllung durchgezogen. Als die auferlegten Fesseln so stark einschnitten, dass sie krank wurde und innerlich zu bluten begann, hatte ihr Mann sie entsorgt. Die Kur, wo sie am Ende landete, kam ihr vor wie ein Gnadenhof. Mit der üblichen Frage: Musste sie bald zum Abdecker oder hatte sie noch ein paar Jahre?

„Man kann den Menschen wohl nicht in den Kopf sehen“, hatte ihre Schwiegermutter spitz festgestellt und sie dabei misstrauisch beäugt.
„DU schon mal gar nicht“, dachte ihre Schwiegertochter, die tatsächlich etwas verbarg, ihr ganzes Leben lang schon. Sie hatte sich deswegen oft Vorwürfe gemacht, sich schuldig gefühlt – und die Gedanken schließlich beiseitegeschoben.

Ihr Leben: an die Wand gefahren, ach ja, wirklich? Nun ermutigten die Psychologen sie, mit sich selbst ins Reine zu kommen und sich nicht zu verurteilen. So zog sie bedächtig Gefühl nach Gefühl von der inneren Abraumhalde in das Licht der Erkenntnis, bis sie transparent wurden, begriff, verzieh und erlaubte sich langsam, das Undenkbare zuzulassen.

Da war eine Frau in der Töpfergruppe, die sie heimlich mit Blicken verschlang. Die alles war, was sie so gern gewesen wäre. Da war ein Begehren, das sie nachts unruhig schlafen ließ.
Es war egal, ob jene Frau jemals auch nur ihren Namen erfuhr, erkannte sie irgendwann. Denn die einzig wichtige Frage lautete: Würde sie dazu stehen oder nicht?

Sie entschied sich. Ihr ganzes Leben lang war sie unter falscher Flagge gesegelt. Aber jetzt wehte über ihr gelassen der Regenbogen.

 

2018 51+52 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Woche 51/52.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von dergl und lauten: Regenbogen, transparent, bluten.

Ich hatte gedacht, speziell der Regenbogen würde den Etüden viele Geschichten aus der queeren Ecke bescheren, und bin ganz erstaunt, dass dem fast nicht so war. Dies ist wieder mal keine Geschichte, die mir selbst passiert ist, aber ich kenne eine Frau, die ihre Lebenspartnerin so kennengelernt hat, wobei ich natürlich die Umstände in der Etüde an meine Wünsche angepasst habe …

 

 

Dazu passt vielleicht das folgende Video, das mir sehr ans Herz gegangen ist. Es heißt „All that we share“ („Alles, was wir teilen“ / „Alles, was uns verbindet“) und ist ursprünglich ein Spot des dänischen Fernsehens (TV2 Denmark). Es geisterte unter der Überschrift „Muss uns erst ein TV-Sender erklären, wie Gesellschaft funktioniert?“ über Weihnachten durch WhatsApp. Ich habe eine Version gesucht, die deutsche Untertitel dazugebastelt hat, da ich nicht weiß, wie gut euer Englisch ist. Die ursprüngliche Version findet sich hier.

 

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Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre | abc.etüden

Wer annahm, dass Weihnachten das Fest der Liebe war, glaubte vermutlich auch, dass Einhörner Regenbogen pupsten. Er jedenfalls hatte zu viele Weihnachtsfeste nur mit der Rotweinflasche verbracht. Hatte nachts im Fernsehen Frauen angestarrt, die mit transparenten Dessous und später nur noch mit neckischem Nikolausmützchen bekleidet waren, bis ihm die Augen zufielen.

Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre.

Natürlich war ihm bewusst, dass der Weihnachtsrummel vor allem deshalb veranstaltet wurde, um die Umsätze nach oben zu treiben. Wen kümmerten da die paar Millionen Menschen, die sich wünschten, dass Weihnachten so schnell wie möglich vorbei ginge – oder besser, gar nicht erst stattfände. Aus Gründen.

Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre.

Er hatte sie gekannt, die fröhlichen Weihnachten, hatte gefühlte Unsummen für Frau und Kind ausgegeben, und das gern. Hatte klaglos die ganzen unsäglichen Besuchsarien bei Omas, Opas, Eltern, Tanten und Onkeln und Cousins mitgemacht, hatte sich in den Weihnachtsgottesdienst schleifen lassen, weil man das so tat, und nicht einmal darüber gemeckert, dass es jedes verdammte Jahr immer wieder nur Gans gab. Es hatte sich richtig angefühlt.

Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre.

Auf der Seepromenade lauschte er gerade den hervorragenden lettischen Blechbläsern in Nikolausmänteln, als jemand ihm auf die Schulter tippte. Er sah in ein fragendes Gesicht.
„Entschuldigung – Max? Max! Gut siehst du aus!“
„Sanne? Mein Gott. Was machst du denn hier?“
„Urlaub. Bis Dreikönig. Lebst du noch hier?“
Er nickte.
„Wollen wir uns mal treffen? Irgendwo? Nur reden?“
„Gib mir mal deine Nummer.“
„Ist die alte. Hast du die noch?“
Er nickte. „Ich melde mich.“

Wenn nur die Sehnsucht nicht wäre.

Zwei Stunden später spielten die Letten: „Still, still, still, weil’s Kindlein schlafen will.“ Das war zu viel. Etwas zerbrach. Der Kummer hatte sein Herz die ganzen Jahre bluten lassen, er konnte genauso gut etwas wagen. Entschlossen griff er zum Handy.

 

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Für die abc.etüden, Woche 51/52.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von dergl und lauten: Regenbogen, transparent, bluten.

 

Falls sich wer fragt, wer da spricht, es ist mein „Wassermaler“ (hier und hier lesen), er lebt an der Ostsee, Sanne ist seine geschiedene Frau, sie hatten eine Tochter, die tragisch gestorben ist … (Update: Hier geht die Geschichte weiter.)
Oh, und besagte Letten (aus Riga, hab leider kein Foto) stehen zurzeit auf dem Hamburger Weihnachtsmarkt am Rathaus. Ein Genuss.

 

 

Sollten wir uns nicht mehr lesen, wünsche ich euch besinnliche und frohe Feiertage! Dieser Blog macht keine Weihnachtsferien, befindet sich jedoch ab Heiligabend (und den Montagsgedichten) häufiger im Außer-Haus-Modus.

 

Wahrheit | abc.etüden

Lumi ist abgehauen in Richtung Wald (hier lesen), weil ihre Tante so nervt. Sie will zur Familienblockhütte und begegnet dort dem geheimnisvollen Keijo (hier lesen), der ihr das Raureifproblem damit erklärt, dass ihr Vater ein Elf wäre (hier lesen) …

***

„Was?“ Sie entriss ihm die Hände, sprang auf und wich ein paar Schritte zurück. „Mein Vater war was? Du spinnst! Es gibt keine Elfen!“
„Lumi!“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den Boden um ihre Füße böse, auf dem sich bereits nasskalt-frostig ein Raureifkreis abzeichnete. „Ich habe ja wohl jedes Recht, mich aufzuregen!“
„Hast du. Es war für mich auch ein Schock. Ich wusste bis dahin nicht mal, dass ich adoptiert war.“
Plötzlich tat er ihr leid. „Wusste ich immer. Okay. Erzähl von meinem Vater.“
„Elfen leben in einer anderen Art Welt, es ist so, als ob sie zusätzlich zu unserer noch eine Dimension mehr hätten. Frag mich nicht, wie das geht, sie antworten darauf nicht. Obwohl sie besondere Fähigkeiten haben, sehen sie eigentlich so aus wie wir auch. Das Problem ist bloß, wenn Menschen und Elfen aufeinandertreffen, verlieben sie sich oft fürchterlich ineinander.“
„Ja, und?“
Er verzog das Gesicht. „Die Kinder, Lumi. Wenn dabei Kinder rauskommen, überleben entweder die Mütter oder die Kinder die Geburt nicht. Es gibt da irgendetwas, was nicht passt. Genetisch, was weiß ich. Hat noch keiner herausgefunden. Du und ich, wir sind beide bei Menschenfamilien gelandet, weil unsere elfischen Verwandten ihren verlorenen Familienmitgliedern nachgetrauert haben und sich nicht zutrauten, uns artgerecht aufzuziehen.“
Sein Lächeln saß schief.
„Liebe ist ihnen kostbar, Lumi. Sie leben länger als wir, bleiben immer im Verborgenen. Aber trotz all dieser Liebe erinnern wir Kinder sie natürlich ständig an ihren Verlust.“

„Ich muss darüber nachdenken, Keijo“, sagte sie leise. „Und jetzt will ich heim. Bringst du mich ein Stück?“
„Klar.“ Er hatte genauso wenig eine Jacke an wie sie und beide lächelten unwillkürlich.

Das Letzte, was sie von ihm sah, nachdem sie sich getrennt hatten, war, wie er an einen Winterbaum, eine Birke, gelehnt dastand und ihr Winken erwiderte.

 

2018 49+50 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Woche 49/50.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Elke H. Speidel und lauten: Winterbaum, nasskalt, nachtrauern.

 

Eröffnung | abc.etüden

Jaaa, hat ein bisschen gedauert mit der Auflösung des Cliffhangers, sorry. Erinnert ihr euch noch?

Also, Lumi (hier lesen) ist abgehauen in Richtung Wald. Sie will zur Familienblockhütte und begegnet dort Keijo (hier lesen), der angesichts ihres Raureifproblems sagt, da habe er sie ja gerade noch rechtzeitig gefunden …

 

***

 

Erst mal hatte Lumi seinen Ton satt.

Rechtzeitig heißt?“, pampte sie zurück. „Bevor ich das ganze Haus in eine Eiswüste verwandele?“
Keijo nickte, aber sie sah den Schalk in seinen Augen tanzen. „Genau, wie im Kino. Alles, was du anfasst, ERSTARRT“, raunte er, „du machst aus Badeseen Eisbahnen, indem du die Hände reinhältst, und du musst im Hochsommer nur irgendeinen Baum berühren, damit er alle Blätter abwirft und aussieht wie ein schockgefrosteter Winterbaum!“
„Hör auf, das ist nicht witzig!“, brüllte sie ihn an und hätte am liebsten geheult.
Er lachte und hielt ihr beide Hände hin. „Fass an, du Eisklotz. Na los, mach schon!“

Sie waren warm. Richtig warm. Sie sah ihn verwirrt an.

„Und das heißt? Oder ist das wieder nur so ein Trick?“
Er schüttelte den Kopf. „Das mit dem Raureif passiert, wenn du dich aufregst. Ich wette, du kannst stundenlang bei so nasskaltem Wetter wie jetzt nur mit einem Pulli draußen herumrennen, ohne dass du dich erkältest?“
„Ja.“
„Für Leute wie uns ist das normal, Lumilein. Es kommt immer irgendwann in der Pubertät. Und es geht von alleine wieder weg.“
„Nee, echt?“
„In deinem Körper balanciert sich was aus. Kälteunempfindlich bleibst du vermutlich, aber das ist hierzulande ja nicht gerade von Nachteil. Bekommst du im Sommer in der Sonne Kopfweh?“
„Schon immer. Kann man das steuern, das mit dem Raureif?“
„Wenn du unterdrücken meinst, nein. Falls es bei dir so bleibt, hatte ich es erheblich schlimmer als du.“
„Okay.“

Sie schwieg, fasste einen Entschluss. Die Blicke zweier klargrüner Augenpaare kreuzten sich.

„Komm mir nicht damit, dass ich den guten alten Zeiten nachtrauern werde, als ich noch jung und unwissend war“, sagte sie. „Du weißt, was mit mir los ist, oder jedenfalls tust du so. Was ist es?“

Er atmete tief durch.

„Lumi, dein Vater war ein Elf.“

 

2018 49+50 | 365tageasatzadayQuelle: ichmeinerselbst

 

Für die abc.etüden, Woche 49/50.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Elke H. Speidel und lauten: Winterbaum, nasskalt, nachtrauern.

 

Im Blockhaus | abc.etüden

Okay, okay, nachdem René ein gutes Wort für Tante Kristina eingelegt hatte, hatte ich die Überleitung …

Also, Lumi (hier lesen) ist abgehauen in Richtung Wald. Sie will zur Familienblockhütte …

 

***

 

Sündig, pah! Die hatten Sorgen! „Das kann so nicht weitergehen!“, äffte Lumi ihre Tante im Stillen nach. Dabei gab es da wirklich jemanden, der ihr nicht aus dem Kopf ging. Aber nicht so!

Gelegentlich hatte Lumi beim Herumstreifen im Wald einen Mann gesehen. Groß, schlank und sofort wieder verschwunden wie ein Geist. Und er hatte lange Haare, die genauso waren wie ihre.
Alle mochten sie zu Hause, aber keiner sonst war so wie sie.
Sie musste unbedingt mit ihm sprechen, bloß wie?

Es dämmerte bereits. Sie zog den Schlüssel für die Hütte aus ihrer Tasche und erstarrte fast augenblicklich. ER lehnte an der vom Wind abgewandten Seite und beobachtete sie. Sie wusste nicht, ob sie schreien oder lieber weglaufen sollte. Er sagte irgendwas, was sie nicht verstand, und sie schüttelte langsam fragend den Kopf.
„Ah, sorry.“ Er sah sie entschuldigend an. „Ich hab dich wohl verwechselt. Darf ich näher kommen?“
„Klar.“ Cool bleiben, Lumi!

Sie stieß die Tür der Familienblockhütte auf und ging hinein. Als sie sich zu ihm umdrehte, stand er im Türrahmen. Abendlicht fiel auf sein Gesicht. Ein Schock durchfuhr sie so heftig, dass sie nach der Stuhllehne griff. Klargrüne Augen, weißblonde Haare, durchscheinend helle Haut. Maximal ein paar Jahre älter als sie. Ihr kam es vor, als ob sie in einen Spiegel schauen würde. Er hätte ihr Zwilling sein können.

„Wer bist du?“, keuchte sie.
„Keijo. Und du?“
„Lumi.“
Er nickte.
„Wir sehen voll gleich aus!“, platzte es aus ihr heraus.
„Ich bin möglicherweise dein Bruder“, sagte er aufreizend gelassen.

Verdammt, was? Bei dem Versuch, sich festzuklammern, verrückte sie den Stuhl ein Stück. Die ganze Lehne überzog sich prompt mit Raureif. Ihr neuestes Problem. Aber nicht mal das schien ihn zu irritieren.
„Sieht so aus, als hätte ich dich gerade noch rechtzeitig gefunden“, stellte er fest.

 

2018 47+48 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay (hier), Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Woche 47/48.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Yvonne und lauten: Raureif, sündig, verrücken.

Ja, ja *kicher*, böser Cliffhanger, ich weiß. Nächste Woche geht es weiter!

 

Lumi | abc. etüden

„Es ist egal, wie du es entschuldigst, es ist sündig!“ Kristina sah ihre jüngere Schwester strafend an. „Ich bin sicher, dass es gottgefällig war, dass du sie aufgenommen hast, nur ist sie jetzt fast erwachsen. Das kann so nicht weitergehen!“

Hanna senkte den Blick auf den Küchentisch. Sünde war Quatsch, ihre Schwester lief zu oft in die falsche Kirche. Okay, das Mädchen, das vor Jahren plötzlich vor ihrer Tür aufgetaucht war, war tatsächlich besonders. Sehr helle Haare, ebensolche Haut, klargrüne Augen. Das einzige Wort, das sie beherrscht hatte, war „Lumi“ gewesen, worauf sie schließlich getauft worden war. Ihre ganze Familie hatte sie sofort in ihr Herz geschlossen und sich darum gerissen, ihr das Sprechen beizubringen.

Wenn da bloß nicht dieser Hang gewesen wäre, immer allein draußen sein zu wollen. Seit Neuestem bettelte sie ständig, im Familienblockhaus im Wald übernachten zu dürfen. Auch jetzt noch.
Im November.
In der ungeheizten Hütte.
Klar, dass Leute wie Kristina denken mussten, es stecke etwas anderes dahinter … oder jemand.

Vier Kinder hatten Hanna gelehrt, wie wichtig es war, die eigenen Grenzen regelmäßig zu überprüfen und gegebenenfalls zu verrücken. Sie war überzeugt davon, dass Männer das Letzte waren, was Lumi interessierte. Ihr Geheimnis umgab sie, und Hanna war sich nicht mal sicher, ob ihre Ziehtochter selbst es kannte.

„Du musst sie einsperren, wenn sie mit dem Herumstreunen nicht aufhört“, befand ihre Schwester, „man hat sie spätnachts im Wald gesehen, die Leute reden schon.“
„Pst, sprich doch leise“, zischte Hanna, die genau wusste, dass Kristinas laute Stimme bis in Lumis Zimmer durchdringen würde, „sie kann uns …“

Aber es war bereits zu spät. Die Haustür krachte ins Schloss und sie sahen dem in Richtung der Bäume davoneilenden Mädchen nach. Jeder von Lumis Schritten hinterließ sekundenlang Raureifkreise auf der Wiese. Hanna lief es kalt den Rücken hinunter.

 

2018 47+48 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay (hier), Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Woche 47/48.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Yvonne und lauten: Raureif, sündig, verrücken.

„Lumi“ ist ein finnischer Frauenname, der „Schnee“ bedeutet. (Hier nachlesen.) Daher habe ich mich auch mit den anderen Namen bisschen ans Nordische angepasst und meine Geschichte in einen nicht näher definierten Norden verlegt.

Nach all den „ernsthaften“ Geschichten der letzten Wochen musste eine mit einem „mysteriösen“ Touch jetzt mal dringend wieder sein …

 

Um Himmels willen | abc.etüden

Er ragte riesenhaft vor ihr auf. „Was willst du denn überhaupt, du hast mir gar nichts vorzuschreiben, du …“ brüllte er sie an, und für einen Moment geriet ihr Atem ins Stocken. Jetzt passiert es, jetzt schlägt er zu, jetzt, jetzt, jetzt.

Sie verstand nicht, was mit ihm los war. Etwas musste geschehen sein, etwas, das ihn immer öfter darüber schwadronieren ließ, sie sei nur ein sündiges Weib und die Frau dem Manne untertan. Er hatte seinen Job verloren, weil die Firma die Produktion ins Ausland verlagert hatte, und manchmal trank er zu viel, ja, trotzdem hatte sie sich noch nie vor ihm fürchten müssen. Bis vorhin, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass man sie in ihrem alten Job wieder nehmen würde, ob er ab Montag die Mädchen nachmittags von der Schule abholen könne. Da war er ausgerastet.

Sie verdrängte die Angst, die wie Raureif ihre Seele erstarren ließ. „Martin“, sagte sie eindringlich, aber so ruhig wie möglich, „du bist mein Mann und wir haben uns geschworen, dass wir zusammenbleiben, bis dass der Tod uns scheidet. Also muss ich doch helfen, wenn ich kann. Für uns und die Kinder.“

„Du denkst doch nur, du wärst was Besseres mit deinem Scheißbürojob“, knurrte er.

Oh nein, nicht schon wieder, darauf würde sie nicht eingehen. „Jesus sagt, wir sollen unser Licht nicht unter den Scheffel stellen“, entgegnete sie. „Und wenn er mich an eine Stelle verrückt, wo ich in Zeiten der Not unserer Familie nützen kann, dann lehne ich das nicht ab.“

Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihrerseits die religiöse Karte zog, und starrte sie verdutzt an. Brüsk wandte er sich ab und tappte leicht unsicheren Fußes ins Wohnzimmer. Kurze Zeit später dröhnten die 20-Uhr-Nachrichten bis in die Küche.

Puh, dachte sie, das war knapp. Lieber Gott, was wird aus uns.

 

2018 47+48 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Woche 47/48.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Yvonne und lauten: Raureif, sündig, verrücken.

Am 25. November 2018 ist Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen. Nun bin ich in einer Beziehung noch nie geschlagen worden, das heißt aber nicht, dass ich keine*n kenne, der es so geht/ging. Auch ich habe jedoch schon brenzlige Situationen erlebt.

Gewalt hat viele Formen, die körperliche und sichtbare ist nur die offensichtliche. Auch meiner Frau aus der Etüde würde ich sagen, hey, wenn das bei euch öfter so ist mit diesem brüllenden potenziellen Trinker, wenn du Angst hast, wenn du mal eine sachkundige Meinung zu deiner Situation hören willst, dann ruf da doch mal an. Es gab eine Zeit, da klebten die Aufkleber des Hilfetelefons innen an jeder Kneipenklotür. Ich möchte hier unter dem Hashtag #schweigenbrechen nur auf die Internetseite verweisen: hilfetelefon.de

dergl macht übrigens auf ihren „Tintenklecksen“ schon die ganze Woche Themenwoche, dorther habe ich das Setting für die Etüde. (dergl, wenn du den Verweis auf dich nicht willst, nehme ich ihn raus.) Sie hat Anfang des Monats dazu aufgerufen, sich zu beteiligen.

Und, bitte, es ist ein aktuelles Problem. In jeder Bevölkerungsschicht. Die dergl hat am Wochenende in ihrer Etüde dazu einen Beitrag aus Frontal 21 verlinkt, vielleicht mag der eine oder die andere mal reinschauen. Ich war erst mal ziemlich sprachlos.

 

 

Monster | abc.etüden

Die Idioten zahlen Geld dafür, dass sie mich angaffen und begrölen können, ich, der ich so bin, wie Gott mich geschaffen hat. Mein Körper mag in ihren Augen grotesk sein, aber mein Verstand funktioniert. Ich danke dem Himmel für die dicke Glasscheibe, ich muss sie nicht hören. Wer macht sich hier zum Affen, ich oder die? Schon gut, spart euch die Antwort.

In Ontario ist das legal und natürlich ist es krass und geschmacklos. Regt euch wieder ab. Klar ist es für Geld, denkt ihr, der Schwachsinn macht Spaß? So ein Abend ist so lukrativ, dass ich einigermaßen über die Runden komme und nicht allein auf die Wohltätigkeit des Staates und schlechte Jobs angewiesen bin.*
Was wir draußen, also im Alltag, aushalten müssen, das wollt ihr nicht wissen. Das Netteste, als was ich seit Langem bezeichnet wurde, sagte eine ältere Dame, die mich „Knirps“ nannte und dann peinlich berührt wegsah, als ihr klar wurde, dass ich sie nicht nur gehört, sondern auch verstanden hatte. Freunde, ich bin nur kleinwüchsig, aber nicht blöd! Der gesamte Rest funktioniert größtenteils genauso wie bei euch. Aber mit Sicherheit bin ich fitter als die meisten, das verlangt der Job.

Am liebsten hätte ich vor hundert Jahren gelebt, dann wäre ich „Show Freak“ gewesen, da bin ich mir sicher. Sowieso muss ich ein Schausteller-Gen haben, sonst wäre ich bestimmt nicht in diesem Club gelandet. Das hier ist manchmal ganz schön Hardcore. Ich stelle mir vor, dass ich mir einen Manager gehalten hätte, mit einem Zirkus gereist und eine begehrte Attraktion einer Freak-Show gewesen wäre, so nannte man das damals.
Ja, notiert es euch ruhig, auch Monster haben Träume. Meiner wäre, von freundlichen Menschen umgeben zu sein, denen Unterschiede keine Angst machen.

Jetzt entschuldigt mich bitte. Das Zwergenwerfen fängt demnächst an, ich muss mich umziehen und warmmachen.

 

2018 45+46 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay (hier und hier), Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Woche 45/46.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Bettina und lauten: Knirps, grotesk, notieren.

Diese Etüde ist wieder mal eine, wo ich fürchte, meinem Protagonisten nicht gerecht zu werden, der einfach beschlossen hat, mit seinen körperlichen Gegebenheiten Geld zu machen, um selbstständig sein zu können, ungewöhnliche Wege geht und dafür in Kauf nimmt, mit einer sehr hässlichen Seite der Gesellschaft konfrontiert zu sein.

Tatsache ist, was uns heute völlig abwegig und menschenrechtsverletzend erscheint, war noch vor hundert Jahren ziemlich selbstverständlich. Show Freaks waren zum Teil berühmt, hatten Fans und verdienten gutes Geld. Das war nicht nur in den USA so (Stichwort PT Barnum, sehr umstritten, soll aber angeblich seine Darsteller gut bezahlt haben, auch wenn es schrecklich klingt, dass er Menschen „ausstellt“). Schaut euch (für Deutschland) mal diese Postkarten an. Auch YT ist hilfreich, die Materie ist komplex und man weiß nicht, ob man weinen oder lachen soll.

Zwergenwerfen (hallo Werner) gibt es heute noch. Hier ist der Link zu Wikipedia, hier ist ein Link zu einem Bericht von einem derartigen Event in Kanada.

Nicht fehlen darf, last but not least, der Link zu Kleinwuchs (Wikipedia) und zu einem (wie ich finde sehr guten) Reportage-Video: Alltag einer Kleinwüchsigen.

*Update: dergl hat in einem Kommentar vorgeschlagen, dass ich die Geschichte nicht in Deutschland verorten solle, um der hiesigen Community, die sich gerade über eine Freakshow aufregt (lest bitte ihren Kommentar), nicht auf die Füße zu treten. Da es mir darum ging, wie Nina das formuliert hat (danke!), „eine verstrickte Figur“ zu entwerfen, „die einen durchaus problematischen Weg gewählt hat“, und ich kein politisch zu verstehendes Statement abgeben wollte, habe ich meinen Text entsprechend verändert.

Tödliches Schweigen | abc.etüden

Mit dem Begreifen, was das bedeutete, was er fühlte, kam die Scham. So war man nicht. Krank. Pervers. Er gab sich selbst das Versprechen, ES nie auszuleben. Nie. Er hatte schließlich hohe Ansprüche an sich, auch moralische. Und wenn auch alles um ihn herum verderbt war, er würde standhalten.
An manchen Tagen rettete ihn nur Komasaufen. Er sprach niemals darüber, mit wem denn? Zum Glück gab es das Internet, aber war das wirklich Glück? Nein, musste er sich eingestehen. Das war wie Pizza-Werbung für Leute auf Diät.

Dann hatte er den Ruf verspürt. Sein Leben änderte sich. Lange Jahre war er mehr als froh, alle Energien in diese Richtung konzentrieren zu können. Er dankte Gott täglich inbrünstig, dass er ihm half, seine übermenschliche Last zu tragen.
Alle Freunde waren der Meinung, er hätte sein Schäfchen im Trockenen: Das Kirchenamt sei eine fette Pfründe, und solange man nicht versuchte, sich eine mondäne Hütte hinzustellen wie jener Scheinheilige, habe man ein gutes Auskommen, oder nicht? Allerdings gab es da einen Schönheitsfehler … obwohl von angenehmem Äußeren, blieb er ledig. Nun ja, leben und leben lassen war die einhellige Meinung in seiner Gemeinde, schließlich mochte man ihn.

Irgendwann geschah das, wovor er sich immer gefürchtet hatte: Ein bestimmtes Menschenkind trat in sein Leben. Die Versuchung war so massiv, dass ein einziger Blick reichte, ihn in Flammen zu setzen und tagelang zu verstören. Als er spürte, dass sein ehernes NEIN zu wanken begann, war das der Moment, wo er ernsthaft anfing, über Selbstmord nachzudenken.

Die Rettung nahte in Form eines Freundes, der eines alkoholreichen Abends wortlos einen Flyer des Präventionsnetzwerks „Kein Täter werden“ auf seinem Wohnzimmertisch hinterließ. Der Flyer sprach von Verantwortung, von Therapie, von Schweigepflicht und nannte eine Telefonnummer.
Am nächsten Tag schon nahm er allen verbliebenen Mut zusammen und rief an.

 

2018 43+44 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay (hier und hier), Bearbeitung von mir

 

Von allen Tabus in unserer nur scheinbar tabulosen Zeit ist das, eine Sexualität zu haben, die sich auf Kinder richtet, mit Sicherheit eines der schlimmsten, da es sofort Hass und Aggression auslöst. Ich bin selbst nicht frei davon.
Ich bin allerdings auch ein Verfechter der Ansicht, dass man sich nicht bewusst dafür entscheidet, wen man begehrt. Verantwortung setzt für mich in dem Moment ein, wo man beschließt, diese Veranlagung auszuleben – oder eben nicht, wie in meiner Etüde.

Die Etüde spielt mit dem gängigen Vorurteil, dass viele Priester/Pfarrer mit ihrem Kirchenamt nur pädophile Neigungen verdecken, um sie darunter ungestört auszuleben. Klar, die gibt es. Wir wissen aber auch, dass es überall egoistische, machtbesessene Vollpfosten beiderlei Geschlechts gibt, deren emotionaler Horizont bei ihrem eigenen Unterleib aufhört und denen alle anderen ziemlich egal sind. Diese Leute müssen aufgespürt und gestoppt werden, für unser aller Wohlergehen als Gesellschaft, und man muss sich nicht nur ausreichend(!) um die Opfer kümmern, sondern auch (überall) um die Strukturen, die den Missbrauch vereinfachen und verharmlosen – und darum, mögliche Täter gar nicht erst zu Tätern werden zu lassen.

Wen man nämlich meist nicht sieht, sind die, die verzweifelt darum ringen, kein Täter zu werden, weil sie wissen/fühlen, was Missbrauch bedeutet, und das keinem antun wollen, schon gar nicht einem Kind. Ein quälendes Leben, das häufig in absolutem Schweigen stattfindet. An diese Menschen (und an „Aussteiger“) wendet sich das erwähnte Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ (Link zur Homepage).

 

Für die abc.etüden, Woche 43/44.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Bernd und lauten: Pfründe, mondän, lassen.

Diese Etüde zu diesen Worten musste jetzt noch raus, sonst wäre ich geplatzt. Sorry, ich bin heute und morgen wenig online, nehmt es mir bitte nicht übel, wenn meine Kommentare auf sich warten lassen.

 

 

 

Heulen gilt nicht | abc.etüden

Jetzt liefen doch Tränen. Evi starrte auf den Karton hinab, der ihr Erbe enthielt. Es waren zwei Ringbücher mit handgeschriebenen Rezepten, sie wusste es genau, Aktenordner mit Zeitungsausschnitten und diverse Backformen.

Als Kind war sie quasi bei Oma Gerlinde in der Küche groß geworden. Mama arbeitete abends oft lang, vor allem, seit Papa weg war und sie in das Haus zu Oma und Opa Friedrich gezogen waren.

„Du wirst ja wohl auf das Kind aufpassen können, wenn ich Dienst habe!“ Nicht die allerbesten Voraussetzungen für Enkelin und Oma, die sich jedoch bald stillschweigend darüber einig wurden, wie man das erzwungene Beisammensein erfreulich gestalten konnte. Als Oma Gerlinde sich auf dem Dorf gelangweilt hatte, war sie nämlich nicht davongerannt, sondern hatte ein Talent genutzt, um unter Leute zu kommen: Backen. Sehr schnell lud man sie zu Dorffesten oder im Freundes- und Verwandtenkreis nur noch mit ihrem aktuellen Lieblingskuchen ein. Fortan wirbelte Oma Gerlinde durch die Küche und erschuf am Band phantasievolle, wohlschmeckende Kalorienbomben. Und wenn sie das nicht tat, durchforstete sie die Zeitschriften nach interessanten Rezepten. Es dauerte nur kurz, bis Evi es ihr nachtun wollte, und etwas länger, bis sie nicht mehr davon lassen konnte.

Okay, sie hatte später andere Wege eingeschlagen. Ob „Das große Backen“, „Tortenschlacht“, „Deutschland sucht den Superkuchen“ oder wie auch immer, mit dem Wissen, dass ihre Oma ihr die Daumen drückte, hatte sie sich in die richtig mondänen, aufgemotzten Shows getraut. Alles war ein großer Spaß gewesen. Bis der Anruf gekommen war.

Der Karton wurde schwer in ihren Armen. Waren dies Fußstapfen, in die es zu treten galt, eine Pfründe, die zu sichern war? Auf jeden Fall war dies ihre Vergangenheit, ein Schatz. Erinnerungen. Liebe.

Sie wischte sich entschieden die Tränen ab. Heulen galt nicht. Der Tag verlangte nach Apfeltorte mit Tiramisu. Weinen konnte sie später.

 

2018 43+44 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung: ich

 

Für die abc.etüden, Woche 43/44.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Bernd und lauten: Pfründe, mondän, lassen.

 

Dummes Fleisch | abc.etüden

In der Szene nannte man sie die „skrupellose Lady“. Anfangs hatte sie noch versucht richtigzustellen, dass sie „skrupulös“ war, nicht „skrupellos“, aber die meisten kapierten den Unterschied nicht. Okay, dann eben mit Grusel, umso besser fürs Geschäft.

Bei ihr musste alles stimmen. Sie hatte es gern exakt und nach ihrem Willen. Und den setzte sie durch, damit die Ergebnisse dem nahekamen, was sie sich vorstellte. Sie hatte eine gewisse Handschrift und schließlich auch einen Ruf zu verteidigen, nicht wahr? Selbst ihr Vater, der es besser hätte wissen können, hatte nicht verstanden, dass bestimmte Dinge in einer bestimmten Reihenfolge geschehen mussten, um befriedigend zu sein. War es nicht überwältigend, wenn man seine Berufung entdeckte? Das, was den ureigenen inneren Instinkten entsprach? Manchmal beschrieb sie sie als eine Verbindung von Akkuratesse und künstlerischer Ader.

Sie sah konzentriert und leicht abschätzig auf den Körper hinunter, der verkrampft vor ihr lag und tatsächlich ein wenig zuckte. Ein Kunstwerk war im Entstehen. Schade, dass anscheinend nur sie das so sah, sonst hätten sie den Genuss vielleicht sogar teilen können, den der Akt und das Blut – nie viel! – gelegentlich bei ihr auslösten. Hatte sich das Jüngelchen vorhin ernsthaft über „schneidende Schmerzen“ beklagt?! Weichei.

Ein Spruch fiel ihr ein: „In jedem Mann steckt hin und wieder auch was Gutes. Zum Beispiel ein Küchenmesser.“ Was glaubte der hier denn eigentlich, wo er war? Unterzog sich freiwillig – freiwillig! – einem Männlichkeitsritual und jammerte? Tja, durchgefallen, mein Lieber, eindeutig durchgefallen. Nur dummes Fleisch, einer mehr.

Lächelnd kniff sie die Augen zusammen. Zog mit ruhiger Hand eine allerletzte Linie nach und ließ die Tattoomaschine sinken. Fertig.

 

2018 41+42 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Woche 41/42.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Gerda Kazakou und lauten: Genuss, skrupulös, schneiden.

Den Spruch habe ich wirklich vor ein paar Tagen im Radio gehört (als Werbung für die Show im Hamburger Quatsch Comedy Club). Und natürlich sind alle Tätowierer*innen, die kennenzulernen ich jemals die Ehre hatte, charakterlich über jeden Zweifel erhaben, aber … ich habe noch nie festgestellt, dass alle Menschen den Ehrgeiz haben, als Engel in die Geschichte einzugehen. Ihr versteht.

 

Ruhestörung | abc.etüden

„… ich nehm den Schmerz von dir, ich nehm den Schmerz von dir“, zerschnitt lauter männlicher Gesang die nächtliche Stille.
Sie fuhr hoch.
5:25 Uhr.
Himmelherrgott! Halt die Klappe, Adel Tawil! Wo ging das Scheißding bloß aus?
Ihre Hand ertastete auf der Oberseite des Brüllwürfels einen großen Button, den sie probehalber drückte. Ah! Erfolg! Paradiesische Stille. Sie ließ sich in die Kissen zurücksinken.

Da hatte man schon mal das Privileg, dass einem die liebste Freundin das eigene Schlafzimmer abtrat, und dann hatte diese vergessen, den Wecker abzustellen. Am Wochenende! Gerade wollte sie sich wieder in die Kissen kuscheln und sich noch einige Stunden dem Genuss eines jetzt hoffentlich ungestört bleibenden Schlafs hingeben, als sie sich erinnerte, dass die Problemlösung „Snooze“ wohl maximal zehn Minuten vorhielt.
Mürrisch knipste sie das Licht an. Den Stecker herauszuziehen war leider keine Option, nur kannte sie sich mit Radioweckern im Allgemeinen und diesem im Besonderen nicht wirklich aus. Also untersuchte sie das antiquierte Teil skrupulös nach einem Schalter, der den Wecker deaktivieren würde. Bis sie ihn gefunden hatte, war sie endgültig wach. Großartig.

Jetzt schon die Freundin im anderen Zimmer zu wecken kam nicht infrage. Blogpflege auch nicht, dies war allein ihre Zeit. Offline. Entschlossen streckte sie sich wieder aus, zog die Decke hoch und forderte ihren Körper auf, sich zu entspannen.

Es gelang, ihre Gedanken beruhigten sich. Nicht mal die am Tag vorher müde gelaufenen Füße taten weh. Sie fühlte sich geborgen und sogar ziemlich fröhlich in ihrem fremden und doch von vorherigen Besuchen so vertrauten Schlafnest. Der Morgen wehte erste Straßengeräusche durch das gekippte Fenster herein.
Als es ihr endlich auffiel, lächelte sie. „Ich nehm den Schmerz von dir.“ Das war mal ein Versprechen, an das sie sich gern erinnern würde. Erneut glitt sie in das Reich ihrer Träume zurück.

298 Wörter

 

2018 41+42 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

Für die abc.etüden, Woche 41/42.2018: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Gerda Kazakou und lauten: Genuss, skrupulös, schneiden.

Das angesprochene Lied, das da aus dem Radiowecker quoll, ist übrigens „Vom selben Stern“ von Ich + Ich (Link zu YouTube), und ja, das ist wirklich so passiert.