Okay, Ilona, und du glaubst wirklich, dass es eine andere gibt? Bist du denn sicher? Kann es nicht sein, dass er etwas organisiert, um dich zu eurem Hochzeitstag zu überraschen, und deshalb was verbirgt? Irgendetwas … Nettes?«
»Ha, das wüsste ich aber, dass Olaf sich freiwillig daran erinnert! Du kennst ihn doch. Der ist zwar super, was Namen und Fachbegriffe angeht, aber wenn er könnte, würde er sogar meinen Geburtstag vergessen! Der buchstabiert dir ja noch, wie die Rottöne in seiner Krawatte heißen. Nein, dieses Mal ist wirklich was im Busch.«
»Und du denkst …?«
»Ich fürchte, dass meine Ehe gerade flöten geht, du darfst es ruhig aussprechen. Wobei sie das hundertprozentig tut, wenn er sich wirklich eine Flötistin angelacht hat, die bei ihm Flöte spielt, das versichere ich dir! Dann ist endgültig Schluss! Ich lasse mich doch nicht hintergehen! Schon gar nicht von diesem, diesem niederträchtigen …!«
»Nun reg dich nicht so auf! Wo genau will er gewesen sein? Im Theater?«
»Im Theater. Mit der Arbeitsgruppe aus der Firma. In, ich zitiere: ›Biedermeier und die Brandstifter‹.«
»Ja, und? Stand darüber nicht sogar was in der Zeitung?«
»Susanne.«
»Schau mich nicht so an, Ilona, ich hatte Deutsch schon im Abi abgewählt.«
»Zu Recht! Heute muss er übrigens länger arbeiten. Sagt er.«
»Letzte Woche auch, oder?«
»Ja, schon seit ein paar Monaten. Überstunden wegen dieser Zertifizierung in seiner Firma. Sagt er.«
»Und warum betonst du das jetzt so?«
»Na ja, nicht nur du liest Zeitung. Erstens ist die Premiere Mitte November, wohlgemerkt, die Premiere –«
»Oh.«
»Und zweitens heißt das Stück ›Biedermann und die Brandstifter. Ein Lehrstück ohne Lehre‹. Max Frisch. Schullektüre.«
»Biedermann? Wie passend. Aber du wirst daraus eine Lehre ziehen?«
»Mit Sicherheit. Aber vielleicht eine andere, als er glaubt.«
Quelle: Pixabay, bearbeitet von mir
Für die abc.etüden, Wochen 42/43.2021: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Wortspende stammt dieses Mal von Heide mit ihrem Blog Puzzle❀. Sie lautet: Biedermeier, niederträchtig, flöten.
Mein Punkt bei dieser Etüde ist nicht, dass Olaf gelogen hat, das hat er eindeutig. Mein Punkt ist, wie seine Frau darauf reagiert. Ich stelle mir vor, dass die beiden lange genug verheiratet sind, dass »der Lack ab« ist, wie man so schön sagt. Mir sagte neulich jemand (bezogen auf Beziehungen): »Das Wohlwollende und Freundliche bleibt als Erstes auf der Strecke.« Ich zweifle an »als Erstes«, aber an genau dem Punkt ist meine Protagonistin: Ich als ihre Autorin weiß tatsächlich nicht, ob ihr Olaf fremdgeht, ob er nur mit der Arbeitsgruppe Pokerpartys schmeißt – was er ihr sicher auch nicht erzählen würde – oder ob sie projiziert bzw. vielleicht schlicht Angst hat, nicht mehr zu genügen, warum auch immer. Sie unterstellt ihm auf jeden Fall in aller Deutlichkeit ein Fehlverhalten.
Die Etüde kann nicht beantworten, was in den Jahren im Vorfeld passiert ist, aber den Ist-Zustand dieser Beziehung finde ich so alltäglich wie bedrückend.
»Biedermann und die Brandstifter« wird übrigens ab dem 11. November 2021 im Staatstheater Meiningen gespielt. Ich zitiere von deren Website: »Das Stück thematisiert die Konfliktfrage, inwieweit ein Mitläufer, der abseits steht und sich dem Verbrechen entzieht, es aber nicht aufhält, sich selbst schuldig macht« (Link zum Stück). Wer es genauer wissen möchte, findet den ausführlichen Wikipedia-Eintrag hinter diesem Link.
Eine Ergänzung zum Thema »flöten gehen«: Wissen.de hat das Wahrig Herkunftswörterbuch online. Rufe ich den Eintrag »flöten gehen« über das Handy auf (hier klicken, geht bei mir nur da), stoße ich auf einen Eintrag, der mich informiert, »dass es im 17. Jahrhundert im Niederländischen eine Wendung gab, die weggaan om te fluiten ›urinieren gehen‹ lautete. Flöte und Penis werden vom Volksmund aufgrund ihrer Form oft miteinander gleichgesetzt […]«. Ich wundere mich etwas, dass keiner der üblichen Verdächtigen dies noch erwähnt, und sei es nur als Nebenbedeutung – hier der Link zum Wiktionary.
Update: Hier gibt es die Fortsetzung! Biedermeier beichtet (fast)
Gehabt euch wohl und ein schönes Wochenende!