Sie ächzte und ließ sich auf den Stuhl fallen. Er knackte unter ihrem Gewicht, aber darauf kam es inzwischen auch nicht mehr an, sie war halt schwer bepackt, was das anging, und nicht nur damit, ja, und? Die durften sich alle gern um ihren eigenen Mist kümmern.
Der Pausenraum war jedenfalls an Trostlosigkeit kaum zu überbieten, vermutlich aus Gründen – wo käme man denn hin, wenn die Verkäuferinnen sich in ihrer Pause auch noch wohlfühlten? Das Einzige, was sie bedauerte, war die Tatsache, dass es hier kein Fenster gab, das sie aufreißen konnte, um verbotenerweise eine zu schmöken. War die Haltung von Säugetieren ohne Fenster nicht verboten? Egal, sie würde es nicht mehr ändern, die paar Jahre bekam sie auch noch rum. Sie nahm geistesabwesend einen Schluck von dem Automatenkaffee, während ihre Augen schon über die Schlagzeilen der Tageszeitung wanderten.
In dieser Filiale war sie die Dienstälteste, ein treues, altes Arbeitspferd, das kaum aufbegehrte und meistens das tat, was man ihm sagte. Die Lehrlinge, die sie ausgebildet hatte, hatten sie auf der Karriereleiter alle überholt. Klar, mehr Geld, mehr Verantwortung, längere Arbeitszeiten. Nicht mit ihr. Sie war die Schindmähre, hatte sie neulich gedacht, nur dass sie nicht abgemagert war. Sie kam pünktlich, sie ging pünktlich, sie war die, die wusste, wie es lief.
Insgeheim verabscheute sie ihre Arbeit.
Sie hätte sich auch weiterhin mit allem arrangiert, wenn da nicht Charlie gewesen wäre. Charlie war fünfzehn und ein Problem. Na ja, eigentlich nicht. Charlie war so, wie sie in dem Alter auch gewesen war. Lebenslustig. Handwerklich begabt. Klug. Voller Ideen. Konnte anpacken. „Aus der wird mal was“, hatte es damals geheißen; und heute sagte sie dasselbe über ihre Nichte. „Nennt sie bloß nicht nach mir“, hatte sie die Schwester und ihren Mann gebeten, als diese mit dem Mädchen schwanger gewesen war, „wer will denn schon Lieselotte heißen?“ So war aus dem Mädchen wenigstens eine Charlotte geworden, und beide Lottes hatten sich allein deswegen immer ein bisschen verbunden gefühlt. Abgesehen davon, dass Charlotte eindeutig besser klang.
Bedauerlicherweise hatte ihre Schwester einen autoritären Idioten geheiratet, der jede Berufstätigkeit seiner Frau unterbunden hatte, indem er sie Kinder in die Welt setzen ließ, und der die Meinung vertrat, die naturgemäßen Aufgaben einer Frau seien Heirat und Kindererziehung. Konsequenterweise interessierten ihn seine Söhne, drei an der Zahl, mehr als seine Tochter. Gut, er verdiente nicht schlecht, er war ein leitender Verwaltungsheini, und sie, Lotte, war die arme, gefallene Verwandtschaft. Aus der wird mal was? Ha. Sie war einmal mit knapp zwanzig auf einen Typen wie ihn hereingefallen, hatte sich in zwei Jahren zwei Kinder andrehen lassen und war dann nach zehn Jahren prompt für seine Sekretärin verlassen worden.
Seitdem schuftete sie in dieser Klitsche hier. Lebensmitteleinzelhandel. Sicherer Arbeitsplatz, das Geld war pünktlich auf dem Konto. Sie kamen über die Runden, und jetzt, wo die Kinder längst nicht mehr bei ihr lebten, blieb sogar was für sie übrig.
Jetzt allerdings musste Charlie von der Schule aus ein Praktikum machen, und ihr Vater wollte sie zu ihr schicken. ZU IHR! In den EIN-ZEL-HAN-DEL! Nö, oder?!? Charlie sollte ihre Chance haben, ein verschenktes Leben war genug!
Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass der Kaffeepappbecher ins Wanken geriet, als sie sich an die Sprüche ihres Schwagers erinnerte, von denen Charlie berichtet hatte: Die aufmüpfige Kleine solle lernen, sich unterzuordnen! Aufmucken sei nicht angesagt!
Ein Frauenbild aus dem vorletzten Jahrhundert! Höchstens. Auch die Lehrer hatten sich die Haare gerauft und mit Engelszungen auf ihn eingeredet. Vergebens.
Sie hatte sich Charlie geschnappt, die kreuzunglücklich gewesen war. „Tante Lotte, nichts gegen dich, aber …“
„Der Lebensmitteleinzelhandel ist ehrenwert, aber mein Job ist scheiße“, hatte sie sie sofort unterbrochen, „und nur weil ich ihn mache, heißt das noch lange nicht, dass du dich auch dafür entscheiden musst, Charlie. Du kannst mit deiner Lebenszeit was Besseres anfangen. Gibt es denn was, was dich wirklich interessiert?“
Zögern.
„Spuck’s schon aus. Großes Indianerehrenwort, oder wie auch immer das heutzutage heißt, dass ich damit nicht zu deinen Eltern renne. Oder nee, halt: Ich schwör! Okay?“
Charlie nahm es ihr offenbar ab, denn sie grinste.
„Okay, okay. Ich könnte ein Praktikum bei einem Bootsbauer machen, wenn Papa sich nicht so anstellen würde. Ich hab schon mit denen gesprochen und alles, ich kenn die vom Segeln, aber ohne Unterschrift meiner Erziehungsberechtigten geht da nichts. Null.“
Machte Sinn. Ihre Nichte war ein begeisterter Shipspotter, hatte im Verein mit ihren Brüdern segeln gelernt und schwamm wie eine Nixe. Ein Wunder eigentlich bei dem Vater. Wohingegen das einzige Schiffsdeck, auf dem sie, Lotte, je gestanden hatte, eine Schiffschaukel gewesen war. Allerdings eine riesengroße.
„Und Mama? Was sagt die?“
„Dass Papa sich wie ein Tyrann aufführt.“
„Würde sie dich unterstützen?“
Zu zweit hatten sie einen Plan entwickelt. Wäre doch gelacht, wenn Charlies Mutter nicht den Praktikumsvertrag bei dem Bootsbauer unterschreiben würde. Zur Not würde der gestrenge Herr Vater eben einen zweiten Vertrag für den Einzelhandel präsentiert bekommen. Und wohnen, wohnen würde Charlie für ihr Praktikum bei ihr. Wenn sie schon angeblich in der gleichen Firma arbeiteten, wäre das doch nur praktisch, oder? Platz hatte sie genug, und junges Leben in der Bude wäre eine willkommene Abwechslung. Dass sich Charlies Vater für das Praktikum seiner ältesten Tochter großartig interessieren würde, schlossen sie aus. Und wenn die ganze Chose aufflog und es zum Familienkrach kam, dann wusste sie immer noch genug über die Leichen im Familienkeller, um ihn herunterzukühlen. Freunde waren sie sowieso keine.
Befriedigt lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück.
Der Lautsprecher knisterte. „Frau Neumann, bitte eine weitere Kasse besetzen. Frau Neumann bitte.“ Scheiße. Klang wie Nadine höchstpersönlich. Sie stand auf, drückte den leeren Kaffeebecher zusammen, schleuderte ihn in Richtung Mülleimer und schlurfte hinaus.
***
Wem die Corona-Decke auf den Kopf fällt und wer sich für das Schreiben interessiert, für den ist dies hier vielleicht etwas: Die Schriftstellerin Jutta Reichelt öffnet ihre virtuelle Schreibwerkstatt und lädt alle Schreibbegeisterten und solche, die es werden wollen, zum Mitmachen auf ihren Blog ein. Sie schreibt: „Ich werde deswegen hier in der nächsten Woche zunächst einmal ganz unterschiedliche Arten von Schreibanregungen sowohl für eher fiktive Texte als auch für eher autobiographische Texte vorstellen, die sich gut eignen, um anzufangen.“ (Quelle) Die erste Schreibanregung erfolgte sogleich und ging auf den von ihr entwickelten Geschichten-Generator zurück: Ein Text ist zu schreiben, der „LOTTE (schwer bepackt), NÖ und SCHIFFSDECK“ enthält. Mehr dazu findet ihr bei ihr.
Einige von euch, die hier bei mir lesen, habe ich bei Juttas Geschichten-Generator kennengelernt (hier meine Geschichten) – das war, bevor es die Etüden gab. Den anderen möchte ich erklären, dass Jutta quasi schuld ist, dass ich mich ans (fiktive) Schreiben herangetraut habe, und mein Dank rennt ihr nach wie vor mit heraushängender Zunge hinterher. (Doch, Jutta, „Schiffsdeck“ hattest du schon. Ende 2016, der letzte Aufruf, ich finde meine damalige Geschichte dazu immer noch ziemlich herzzerreißend und das Gemüt bewegend.)
Also ist es für mich quasi Ehrensache, zumindest wieder miteinzusteigen. Ich bin sehr gespannt auf nächste Woche, ob ich mit den neuen Schreibanregungen was anfangen kann. Und natürlich hat meine Geschichte eine Eigendynamik entwickelt, was die Rolle der vorgegebenen Begriffe anging … und ich habe prompt vergessen, wie „kurz“ geht.
Quelle: Jutta Reichelt