Vor der Sommerpause des letzten Jahres, als wir noch die 10-Sätze-Variante spielten und die Wörter von der hochgeschätzten Frau Flumsel stammten, schrieb ich eine Etüde namens Mutprobe, in der es darin ging, dass ein cleverer Bäckerjunge bei einem öffentlichen Wettkampf einen Drachen überlistete und dafür einen Wunsch frei bekam. Sie endete folgendermaßen:
„Bäckerjunge“, sagte am Abend der Hauptmann der Königsleute bei der Audienz zu ihm, „von allen heute hast du am meisten Einfallsreichtum und Mut bewiesen; dafür gewähren wir dir einen Wunsch.“
„Wenn dem so ist, dann nehmt mich mit an den Hof“, sagte er ohne Zögern, denn er hatte auf die Frage gehofft, „ich respektiere das Handwerk, aber ich hasse die Backstube, ich will Drachenpfleger werden!“
Und nun setzt das Etüdensommerpausenintermezzo ein, und zwar mit dem vorgeschriebenen Satz.
Am nächsten Tag war alles anders.
Mittags trat der Hauptmann der Königsleute in die Backstube des Vaters und erkundigte sich, ob der Junge in drei Stunden aufbrechen könne. Der hatte sich bis dahin allerdings eingeredet, dass sein Sohn sich bei der Audienz einen unbedachten Scherz erlaubt hätte. Da der Hauptmann jedoch überall Aufsehen auf sich zog, wohin er auch ging, lief bald die gesamte Familie sowie das halbe Dorf in der Backstube zusammen. Das Ansehen des Bäckers stand auf dem Spiel.
„Er kommt nicht mit“, beschied er den Hauptmann daher brüsk. „In meiner Familie treten die erstgeborenen Söhne seit Generationen in die Fußstapfen ihrer Väter. Taro wird später meine Backstube übernehmen und nach ihm wird es sein Sohn tun.“
Der Hauptmann seufzte innerlich, aber selbst wenn er „sturer Dörfler“ dachte, so zeigte er es nicht. Dafür bestand er darauf, den Jungen selbst sprechen zu können. Sein Bruder wurde ausgeschickt, ihn zu holen. Als sie zurückkamen, trug der Ältere eine große Reisetasche und hielt den wütenden Blicken des Vaters stand.
„Bei allem Respekt dem Handwerk und dir gegenüber, Vater“, erklärte er höflich, „aber ich bin ungeeignet. Mein Herz gehört den Drachen. Ich werde mit dem Hauptmann an den Hof des Königs gehen.“
„Ob du geeignet bist oder nicht, bestimme immer noch ich“, brüllte der Vater erschrocken los. „Du bist erst sechzehn, was weißt du schon? Du hältst die Ohren offen und den Mund geschlossen und erlernst das Handwerk, das in unserer Familie liegt!“
„Das tut er doch sowieso bereits“, warf die Mutter begütigend ein, die neben ihren Mann trat. „Du selbst überlässt ihm doch seit fast zwei Jahren die Backstube und die ganzen Vorbereitungen für die Brote mitten in der Nacht, bevor du aufstehst. Hast du nicht neulich erst gesagt, dass er seine Sache gut macht, fast besser als du in seinem Alter?“
Der Vater nickte. Taro wechselte einen Blick mit Lado, seinem Bruder.
„Bitte, sag du es ihm“, flüsterte dieser. Taro nickte. Sie hatten dieses Geheimnis mit so vielen Mühen gehütet, aber jetzt mussten sie Farbe bekennen.
„Es ist er, nicht ich“, gestand er dann. „Du, Vater, hast es mich zu lehren versucht, und ich habe es an Lado weitergegeben. Seit zwei Jahren stehen wir nachts gemeinsam in der Backstube. Aber er weiß, was zu tun ist, mir gerät kein Handgriff. Er denkt sich Rezepte aus, nicht ich. Ich schleiche mich nachts davon, um die Spiele der Drachen am Himmel zu beobachten, und wünsche mich fort. Er wird einmal dein würdiger Nachfolger sein. Ich wünschte, er wäre an meiner Stelle als Erster geboren.“
Es war zu viel Wahrheit auf einmal. Der Vater starrte sie beide an, griff sich ans Herz, drehte sich abrupt um und verließ die Backstube. Seine Söhne eilten ihm nach, aber die Mutter stellte sich Taro in den Weg und ergriff ihn an den Schultern.
„Ich habe die ganze Zeit gewusst, dass du einen findigen und rebellischen Geist hast, mein Sohn“, sagte sie fest. „Wenn es deine Bestimmung ist, mit Drachen zu arbeiten, dann ist es jetzt an der Zeit für dich, dein Schicksal in deine eigenen Hände zu nehmen und uns zu verlassen. Geh mit meinem Segen und vergiss das Dorf nicht, aus dem du stammst.“ Sie küsste ihn liebevoll auf die Stirn und auf beide Wangen. „Komm noch einmal kurz vorbei, wenn ihr aufbrecht. Dein Vater wird es sich nicht verzeihen, wenn ihr euch nicht verabschieden konntet. Um den Rest kümmere ich mich. Und nun geht.“
So geschah es. Noch ein halbes Leben später, als Taro längst erster Drachenhüter des Königs war, trug er immer noch die Drachenkralle, die sein Vater ihm am Tag seines Fortgehens geschenkt hatte. Die Drachenkralle, die dieser gefunden hatte, als er noch ein Kind gewesen war, ein erster Sohn, der Drachen nicht lieben durfte.
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Dies ist ein Beitrag für das Etüdensommerpausenintermezzo IV: Am nächsten Tag war alles anders.
„Taro“ und „Lado“ sind übrigens Namen, die angeblich „Erstgeborener“ und „Zweitgeborener“ bedeuten.