Von Tanten und Verwandten

Verwandte

Ihr seid beleidigt, weil ich nicht
Gerührt in Eure Arme stürze
Und das Verzeihungs-Arangement
Mit keiner Reuescene würze.
Ich flehte nicht, Ihr selber seid
Nun plötzlich gnädig mir gewogen;
Doch legt die Gnadenmienen ab,
Schaut, welche Kluft Ihr einst gezogen.
Setzt nur herüber kühnen Sprungs,
Seid einmal menschlich-unbesonnen. …
Brecht Ihr auch das Genick dabei,
Hat Welt und Hölle nur gewonnen.

(Ada Christen, Verwandte, aus: Aus der Asche (Neue Gedichte), 1870, Online-Quelle)

Die erste alte Tante sprach

Die erste alte Tante sprach:
Wir müssen nun auch dran denken,
Was wir zu ihrem Namenstag
Dem guten Sophiechen schenken.

Drauf sprach die zweite Tante kühn:
Ich schlage vor, wir entscheiden
Uns für ein Kleid in Erbsengrün,
Das mag Sophiechen nicht leiden.

Der dritten Tante war das recht:
Ja, sprach sie, mit gelben Ranken!
Ich weiß, sie ärgert sich nicht schlecht
Und muß sich auch noch bedanken.

(Wilhelm Busch, Die erste alte Tante sprach, aus: Kritik des Herzens, 1874, Online-Quelle)

Überall

Überall ist Wunderland.
Überall ist Leben.
Bei meiner Tante im Strumpfenband
Wie irgendwo daneben.
Überall ist Dunkelheit.
Kinder werden Väter.
Fünf Minuten später
Stirbt sich was für einige Zeit.
Überall ist Ewigkeit.

Wenn Du einen Schneck behauchst,
Schrumpft er ins Gehäuse,
Wenn Du ihn in Kognak tauchst,
Sieht er weiße Mäuse.

(Joachim Ringelnatz, Überall, aus: 103 Gedichte, 1933, Online-Quelle)

Irrlichter

Wir haben einen alten Verkehr
mit den Lichtern im Moor.
Sie kommen mir wie Großtanten vor …
Ich entdecke mehr und mehr

zwischen ihnen und mir den Familienzug,
den keine Gewalt unterdrückt:
diesen Schwung, diesen Sprung, diesen Ruck, diesen Bug,
der den andern nicht glückt.

Auch ich bin dort, wo die Wege nicht gehn,
im Schwaden, den mancher mied,
und ich habe mich oft verlöschen sehn
unter dem Augenlid.

(Rainer Maria Rilke, Irrlichter, Muzot, Mitte Februar 1924, in: Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens, Gedichte aus den Jahren 1906 bis 1926, insel tb 98, 1953, S. 147)



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Jaaaa, der Rilke passt nicht so recht in die Reihe, zugegeben. Aber ehrlich gesagt dachte ich, wenn ich den jetzt nicht festhalte, dann finde ich ihn nieeee wieder …

Sind die (Kopfbedeckungen der) Tanten nicht großartig? Die scheinen auf der Insel Mainau zu stehen, tun sie das immer noch ;-)?

Kommt wie immer gut und heiter (und gesund) in und durch die neue Woche!


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Von Freundschaft

Geschminckte Freundschafft

Hände küssen, Hüte rücken,
Knie beugen, Häupter bücken,
Worte schrauben, Rede schmücken,
Wer, daß diese Gauckeley,
Meinet, rechte Freundschafft sey,
Kennet nicht Betriegerey.

(Friedrich von Logau, Geschmünckte Freundschafft, aus: Salomons von Golaw Deutscher Sinn-Getichte erstes Tausend, Desz ersten Tausend sechstes Hundert, 25., entstanden 1640/41, Online-Quelle)

Dein wahrer Freund

Dein wahrer Freund ist nicht, wer dir den Spiegel hält
Der Schmeichelei, worin dein Bild dir selbst gefällt.
Dein wahrer Freund ist, wer dich sehn lässt deine Flecken
und sie dir tilgen hilft, eh Feinde sie entdecken.

(Friedrich Rückert, Dein wahrer Freund, 203., aus: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 2, 1837, Online-Quelle)

Dem fremden Freunde

Es war Dein Wort ein blitzend Schwert,
Das für mich stritt;
Es war Dein Wort der Seele Schrei,
Die für mich litt.
Die herbe Thräne war Dein Wort,
Geweint um mich;
Ein guter Engel war Dein Wort,
Der nimmer wich!
Dein Wort, es gab mir neuen Muth,
Es drang befreiend stolz zu mir;
Du Fremder, sieh mein schlichtes Wort,
Es dankt zu tausend Malen Dir!

(Ada Christen, Dem fremden Freunde, aus: Aus der Asche (Letzte Lieder), 1870, Online-Quelle)

Sieh, ich war so oft allein

Sieh, ich war so oft allein,
Und ich lernte gleich den Zweigen,
Gleich dem Stein,
Träume wachen, Worte schweigen.

Denke, daß ich Dichter bin.
Eure Sonne ist nicht meine.
Nimm als Freund mich hin,
Wenn ich dir auch fremd erscheine.

Laß mich lauschen aus der Ferne,
Wenn ihr tanzend schwebt,
Daß auch ich das Schwere lerne:
Wie man narrenglücklich lebt.

(Joachim Ringelnatz, Sieh, ich war so oft allein, aus: Gedichte, 1910, Online-Quelle)


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Kommt alle gut und heil in und durch die neue Sommerwoche!


Von Unbehaustheiten

Die Zimmer meines Lebens

Jedesmal,
Wenn ich in ein neues Zimmer ziehe,
Spür ich eine Schwäche meiner Kniee.
Kalt und kahl
Starrt der Raum. Ich steh in seiner Mitten
Mit dem Koffer, gar nicht wohlgelitten.

Jedesmal,
Wenn ich solch ein Zimmer muß verlassen,
Kann ich mich vor Abschiedsfurcht nicht fassen.
Geister ohne Zahl
Meiner Stunden, Traum und waches Treiben,
Winken matt. Ich gehe. Doch sie bleiben.

(Franz Werfel, Die Zimmer meines Lebens, aus: Gedichte (1938), in: Gedichte aus dreißig Jahren, 1939, Online-Quelle)

III.

Durch die dicht verhängten Fenster
Dringt das dumpfe Wagenrollen,
Und verscheucht die Nachtgespenster,
Die im Traum mir nahen wollen.

Aber rauschend durch mein Zimmer
Wogt ein Meer von wirren Tönen,
Und aus all’ dem Schmerzgewimmer
Hör’ ich meine Seele stöhnen!

Hör’ ich meine Seele weinen –
Nicht um dieses Leibes Sterben –
Doch es bangt ihr vor dem kleinen,
Müden, einsamen Verderben.

(Ada Christen, Durch die dicht verhängten Fenster, aus: Aus der Asche (Letzte Lieder), 1870, Online-Quelle)

Einsamkeit

Einsamkeit, ernsthafte Frau,
Tratest einst still in mein Zimmer,
Ach, und ich wollte dich nimmer,
Grüßte dich finster und rauh.

Nicktest nur milde dazu,
Ließest dich doch nicht verjagen,
Mußte dich eben ertragen,
Sangest mich heimlich zur Ruh.

Sieh, und nun weiß ich genau:
Wolltest du heut von mir scheiden,
Würde ich tief drunter leiden,
Einsamkeit, ernsthafte Frau.

(Anna Ritter, Einsamkeit, aus: Gedichte (Vermischte Gedichte), 1898, Nachweis, Online-Quelle)


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Mein Wunsch ändert sich nicht, Woche um Woche: Kommt gut und heil und sicher in und durch die neue Woche!

Frage am Rande: Bekommt ihr zurzeit auch ungewöhlich viel Spam, meist für irgendwelche Pillen?


Von grauen Tagen

Grauer Himmel trübe Tage …

Grauer Himmel – trübe Tage! –
Keine Lust und keine Plage! –
Weder Sturm noch Sonnenglanz! –
Grauer Stunden dunkler Kranz!

Wie ein Schiff auf stillem Meer
Todt und traurig treibt umher,
Wie ein Mühlrad ohne Bach
Still verharr’ ich Tag auf Tag.

Manchmal muß es doch gewittern!
Manchmal muß das Herz erzittern!
Muß in Leid und Freud erbeben! –
Wie so öd’ ist sonst das Leben!

(Heinrich Seidel, Grauer Himmel trübe Tage, aus: Blätter im Wind, 1882, Online-Quelle)

Grau

I.

Ist denn mein ganzes Sein verwirrt,
Daß alles ich jetzt anders schau’;
Erscheint mir doch die ganze Welt
Ein schmutzig Bild nur, Grau in Grau.

Ich lebte gern und lachte gern
Wie sonst ein Menschenkind –
Doch alles glotzt so fratzenhaft –
Dies Grau, es macht mich blind.

II.

Ein trüber, grauer Regentag,
Kalt und unheimlich öd;
Der Himmel starrt so grau herein,
Die grauen Menschen so blöd.

Da schnell ein rothes Licht herein –
Den rothen Vorhang herab –
Das lügt dann wieder die Rosen mir
Die ich längst verloren hab’ …

(Ada Christen, Grau, aus: Lieder einer Verlorenen, 1873, 3. Auflage, Online-Quelle)

Gnädige Frau, bitte trösten Sie mich

Gnädige Frau, bitte trösten Sie mich
Über mein inneres Grau.
Das ist kein Scharwenz um ein Liebedich. –
Gnädige Frau, seien Sie gnädige Frau.

Mein Herz ward arm, meine Nacht ist schwer,
Und ich kann den Weg nicht mehr finden. –
Was ich erbitte, bemüht Sie nicht mehr
Als wenn Sie ein Sträußchen binden.

Es kann ein Streicheln von euch, ein Hauch
Tausend drohende Klingen verbiegen.

Gnädige Frau,
Euer Himmel ist blau!

Ich friere. Es ist so lange kein Rauch
Aus meinem Schornstein gestiegen.

(Joachim Ringelnatz, Gnädige Frau, bitte trösten Sie mich, aus: aus: Gedichte, Gedichte von Einstmals und Heute, 1934, Online-Quelle)

 

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Ihr ahnt es schon: Kommt gut (und heil) in und durch die neue Woche, sei sie bei euch grau oder nicht!

Gestern (ein ebenfalls sehr grauer Tag) startete der zweite Etüdendurchgang für dieses Jahr. Und was soll ich sagen: Bis abends 22:00 Uhr hatten sich sage und schreibe bereits 19 Etüden angesammelt. Am ERSTEN Tag. Klar, die Wörter sind prima, aber normal ist das nicht. Und jetzt kommt ihr … 😉

 

Von Abgründen

Verwandte

Ihr seid beleidigt, weil ich nicht
Gerührt in Eure Arme stürze
Und das Verzeihungs-Arangement
Mit keiner Reuescene würze.
Ich flehte nicht, Ihr selber seid
Nun plötzlich gnädig mir gewogen;
Doch legt die Gnadenmienen ab,
Schaut, welche Kluft Ihr einst gezogen.
Setzt nur herüber kühnen Sprungs,
Seid einmal menschlich-unbesonnen. …
Brecht Ihr auch das Genick dabei,
Hat Welt und Hölle nur gewonnen.

(Ada Christen, Verwandte, aus: Aus der Asche (Neue Gedichte), 1870, Online-Quelle)

König David

Lächelnd scheidet der Despot,
Denn er weiß, nach seinem Tod
Wechselt Willkür nur die Hände,
Und die Knechtschaft hat kein Ende.

Armes Volk! wie Pferd und Farr’n
Bleibt es angeschirrt am Karr’n,
Und der Nacken wird gebrochen,
Der sich nicht bequemt den Jochen.

Sterbend spricht zu Salomo
König David: »Apropos,
Daß ich Joab dir empfehle,
Einen meiner Generäle.

Dieser tapfre General
Ist seit Jahren mir fatal,
Doch ich wagte den Verhaßten
Niemals ernstlich anzutasten.

Du, mein Sohn, bist fromm und klug,
Gottesfürchtig, stark genug,
Und es wird dir leicht gelingen,
Jenen Joab umzubringen.«

(Heinrich Heine, König David, aus: Romanzero. Gedichte, 1851, Online-Quelle
Farre = junger Stier (mhd.))

Gewohnheit

Als Kain den Abel umgebracht,
Zum Himmel dampft das Blut.
Es ward ein starker Lärm gemacht,
Und Gott geriet in Wut.

Die Engel wurden watschelnass,
So haben sie geflennt.
Und Gott hat Kain im grimmen Hass
Ein Zeichen aufgebrennt.

Dann jagte man den Frevler fort;
Fluch folgte ihm und Hohn.
Man sieht, der erste Brudermord
Erregte Sensation.

Doch man gewöhnt sich jetzt zuletzt
Auch an ein solches Ding;
Worüber man sich erst entsetzt,
Schätzt später man gering.

Man hat hernach im großen Stil
Die Menschen umgebracht.
Ein Tausend um das andre fiel.
Das wird noch heut’ gemacht.

Jedoch von oben hört man nichts,
Und keine Stimme tönt,
Die Stimme, die einst angesichts
Des ersten Mords gedröhnt.

Im Gegenteil, der Priester fleht
Und bittet Gott um Sieg,
Wenn es zum großen Morden geht.
Und heilig heißt der Krieg.

(Ludwig Thoma, Gewohnheit, aus: Peter Schlemihl, 1906, Online-Quelle)

 

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Wie immer: Kommt gut und heil durch die neue Woche!

Adventüden: 21 (fast 22, fragt nicht) sind bisher eingetroffen. Alle, die eine Adventüde zugesagt haben: Kommt mal so langsam in die Puschen, bitte! 😉

 

Von Gesang und Müdigkeit

Ich bin sehr müde

Mein Fenster lehnt sich weit in den Abend hinaus,
Die Wolken stehen über den Dächern, ein Blumenstrauß,
Die Luft streichelt mich und ist sanft und voll großer Güte.
Ich aber halte die Hände gefaltet, denn ich bin müde,
Und höre verwundert auf das beschwingte Schreiten
Der Menschen, die auf der Straße vorübergleiten,
So sehr sind ihnen heute die Glieder leicht.
Nur ich liege, schwergebettet in meine Müde.
Manchmal höre ich einen Schritt, der Deinem gleicht,
Dann bin ich, Geliebter, wie die Musik der Schritte leicht
Und wie die Wolken über den Dächern silberne Blüte.

(Maria Luise Weissmann, Ich bin sehr müde, aus: Das frühe Fest, 1922, Online-Quelle)

Altes Lied.

Alter Text und alte Weise –
Wie das durch mein Leben zog,
Und so wehmuthsvoll und leise
Mir den Himmel nieder log.
Fast vergessen pocht es wieder
An das eingewiegte Herz,
Und der erste Ton ist wieder,
So wie einst, ein leiser Schmerz.

(Ada Christen, Altes Lied, aus: Aus der Asche. Neue Gedichte, 1870, Online-Quelle)

Das Meer singt

Singe das Leben
Trunken und weit.
Rausche euch allen
Unendlichkeit.

Singe die Liebe
Grausam und groß.
Breit über alles
Mein Namenlos.

Gott tönt aus mir.
Dunkel und Glut.
Alles ist tödlich
Und alles ist gut.

(Francisca Stoecklin, Das Meer singt, aus: Die singende Muschel, 1925, Online-Quelle)

 

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Wie immer: Kommt gut und heiter in und durch die neue Woche!

 

Von Dezember und den Erinnerungen an Weihnachten

Christbaum.

Hörst auch du die leisen Stimmen
aus den bunten Kerzlein dringen?
Die vergeßenen Gebete
aus den Tannenzweiglein singen?
Hörst auch du das schüchternfrohe,
helle Kinderlachen klingen?
Schaust auch du den stillen Engel
mit den reinen, weißen Schwingen? …
Schaust auch du dich selber wieder
fern und fremd nur wie im Traume?
Grüßt auch dich mit Märchenaugen
deine Kindheit aus dem Baume? …

(Ada Christen, Christbaum., aus: Schatten, 1872, Online-Quelle)

Verse zum Advent

Noch ist Herbst nicht ganz entflohn,
Aber als Knecht Ruprecht schon
Kommt der Winter hergeschritten,
Und alsbald aus Schnee’es Mitten
Klingt des Schlittenglöckleins Ton.

Und was jüngst noch, fern und nah,
Bunt auf uns herniedersah,
Weiß sind Türme, Dächer, Zweige,
Und das Jahr geht auf die Neige,
Und das schönste Fest ist da.

Tag du der Geburt des Herrn,
Heute bist du uns noch fern,
Aber Tannen, Engel, Fahnen
Lassen uns den Tag schon ahnen,
Und wir sehen schon den Stern.

(Theodor Fontane, Verse zum Advent, aus: „Unwiederbringlich“, Kap. 22, Textausgabe 1892, Online-Quelle)

Weihnachtslied.

Vom Himmel in die tiefsten Klüfte
Ein milder Stern herniederlacht;
Vom Tannenwalde steigen Düfte
Und hauchen durch die Winterlüfte,
Und kerzenhelle wird die Nacht.

Mir ist das Herz so froh erschrocken,
Das ist die liebe Weihnachtszeit!
Ich höre fernher Kirchenglocken
Mich lieblich heimathlich verlocken
In märchenstille Herrlichkeit.

Ein frommer Zauber hält mich wieder,
Anbetend, staunend muß ich stehn;
Es sinkt auf meine Augenlider
Ein goldner Kindertraum hernieder,
Ich fühl’s, ein Wunder ist geschehn.

(Theodor Storm, Weihnachtslied., aus: Gedichte, 8. Aufl. 1885, Online-Quelle)

Weihnacht

Zeit der Weihnacht, immer wieder
rührst du an mein altes Herz,
führst es fromm zurück
in sein früh’stes Glück,
kinderheimatwärts.

Sterne leuchten über Städte,
über Dörfer rings im Land.
Heilig still und weiß
liegt die Welt im Kreis
unter Gottes Hand.

Kinder singen vor den Türen:
„Stille Nacht, heilige Nacht!“
Durch die Scheiben bricht
hell ein Strom von Licht,
aller Glanz erwacht.

Und von Turm zu Turm ein Grüßen,
und von Herz zu Herz ein Sinn,
und die Liebe hält
aller Welt
ihre beiden Hände hin.

(Gustav Falke, Weihnacht, aus: Das Leben lebt, 1916, Online-Quelle)

 

Quelle: Pixabay

 

Auch zu Adventüden-Zeiten gibt es die Montagsgedichte. Normalerweise ist ja bei der „lieben Weihnachtszeit“ mein Kitschlevel erreicht und ich bin raus, aber ich dachte, dass das Thema Erinnerungen thematisch zu der heutigen Adventüde ganz gut passt. Ich hoffe, ihr findet es gelungen …

Kommt gesund und heiter (na ja) in und durch die Woche!

 

Menschliches und Frühlingsanfang

 

Letzter Versuch.

Ich habe mich zu erhängen gesucht:
Der Strick ist abgerissen.
Ich bin in’s Wasser gesprungen:
Sie erwischten mich bei den Füßen.
Ich habe die Adern geöffnet mir:
Man hat mich noch gerettet.
Ich sprang auch einmal zum Fenster hinaus:
Weich hat der Sand mich gebettet.
Den Teufel! ich habe nun alles versucht,
Woran man sonst kann verderben –
Nun werd’ ich wieder zu leben versuchen:
Vielleicht kann ich dann sterben.

(Ada Christen, Letzter Versuch, aus: Lieder einer Verlorenen, 1868, Online-Quelle)

 

DIE VERSUCHUNG

Nein, es half nicht, daß er sich die scharfen
Stacheln einhieb in das geile Fleisch;
alle seine trächtigen Sinne warfen
unter kreißendem Gekreisch

Frühgeburten: schiefe, hingeschielte
kriechende und fliegende Gesichte,
Nichte, deren nur auf ihn erpichte
Bosheit sich verband und mit ihm spielte.

Und schon hatten seine Sinne Enkel;
denn das Pack war fruchtbar in der Nacht
und in immer bunterem Gesprenkel
hingehudelt und verhundertfacht.
Aus dem Ganzen ward ein Trank gemacht:
seine Hände griffen lauter Henkel,
und der Schatten schob sich auf wie Schenkel
warm und zu Umarmungen erwacht —.

Und da schrie er nach dem Engel, schrie:
Und der Engel kam in seinem Schein
und war da: und jagte sie
wieder in den Heiligen hinein,

daß er mit Geteufel und Getier
in sich weiterringe wie seit Jahren
und sich Gott, den lange noch nicht klaren,
innen aus dem Jäsen destillier.

(Rainer Maria Rilke, Die Versuchung, aus: Der neuen Gedichte anderer Teil, 1918, Online-Quelle)

 

…ALS EINE REIHE VON GUTEN TAGEN

Wir wollen uns wieder mal zanken,
Auf etwas hacken wie Raben,
Daß unsre zufriednen Gedanken
Eine Ablenkung haben.

Wir wollen irgendein harmloses Wort
Entstellen,
Dann uns verleumden und zum Tort
Etwas tun; das schlägt dann Wellen.

Wir wollen dritte aufzuhetzen
Versuchen,
Dann unsere Freundschaft verfluchen,
Einmal sogar ein Messer wetzen,
Dann aber uns – in Blickweite –
Auseinander zusammensetzen,
Um superior jedem weiteren Streite
Auszuweichen;
Mit dem Schwur beiseite:
Uns nimmermehr zu vergleichen.

Dann wollen wir, jeder mit Ungeduld,
Ein paar Nächte schlecht träumen,
Dann heimlich eine gewisse Schuld
Dem anderen einräumen,
Dann lächeln, dann seufzen, dann stöhnen,
Dann plözlich uns gründlich bezechen,
Dann von dem vergänglichen, wunderschönen
Leben sprechen.

Und dann uns wieder einmal versöhnen.

(Joachim Ringelnatz, …als eine Reihe von guten Tagen, aus: Allerdings, 1928, Online-Quelle)

 

Der Lenz ist da!

Das Lenzsymptom zeigt sich zuerst beim Hunde,
dann im Kalender und dann in der Luft,
und endlich hüllt auch Fräulein Adelgunde
sich in die frischgewaschene Frühlingskluft.

Ach ja, der Mensch! Was will er nur vom Lenze?
Ist er denn nicht das ganze Jahr in Brunst?
Doch seine Triebe kennen keine Grenze –
dies Uhrwerk hat der liebe Gott verhunzt.

Der Vorgang ist in jedem Jahr derselbe:
man schwelgt, wo man nur züchtig beten sollt,
und man zerdrückt dem Heiligtum das gelbe
geblümte Kleid – ja, hat das Gott gewollt?

Die ganze Fauna treibt es immer wieder:
Da ist ein Spitz und eine Pudelmaid –
die feine Dame senkt die Augenlider,
der Arbeitsmann hingegen scheint voll Neid.

Durch rauh Gebrüll läßt sich das Paar nicht stören,
ein Fußtritt trifft den armen Romeo –
mich deucht, hier sollten zwei sich nicht gehören …
Und das geht alle, alle Jahre so.

Komm, Mutter, reich mir meine Mandoline,
stell mir den Kaffee auf den Küchentritt. –
Schon dröhnt mein Baß: Sabine, bine, bine …
Was will man tun? Man macht es schließlich mit.

(Kurt Tucholsky/Theobald Tiger, Der Lenz ist da!, in: Die Schaubühne, 26.03.1914, Nr. 13, S. 371; Online-Quelle)

 

Im Gespräch | 365tageasatzadayQuelle: Photo by Fred Mouniguet on Unsplash

 

Ich habe mich, wie ihr möglicherweise auch, gefragt, was dieses „Jäsen“ ist (Rilke, letzte Zeile). Die Auflösung findet sich im „Frühneuhochdeutschen Wörterbuch“, dort steht unter „jäsen“: ›sich zersetzen, sich in Gärung befinden, aufschäumen (von Flüssigkeiten)‹; ütr. ›brausen, aufwallen (von Gefühlen)‹. (Online-Quelle)

Kommt gut in die neue Woche, mit Sturm, Regen oder Sonne, und feiert den Frühlingsanfang!