Er strich über das verstaubte Etikett. Es war ein uralter Gin, den er da im Keller seines Großvaters gefunden hatte. Er hatte lange zwischen all den alten Sachen gesessen. Sortiert, gelesen, geschoben, weggeworfen und entsorgt. Und dann stand sie da: verstaubt, vergessen, wie auch sein Großvater lange vergessen war. Die Familie hatte sich nicht um den alten schrulligen Mann gekümmert, und als er starb, wollte niemand sein Erbe antreten – so war er, John, der gute Aussichten zu haben schien, ebenso schrullig zu werden – unverheiratet, wie er mit seinen 47 Jahren immer noch war –, übrig geblieben. Obwohl er ihn nicht gekannt hatte, hatte er sich bereit erklärt, zumindest das Haus, das das einzig Erbbare überhaupt war, das der Alte hinterlassen hatte, zu räumen und es für den Verkauf herzurichten.
Er wischte mit einem Zipfel seiner Kuscheldecke noch einmal über das schmutzige Etikett:
»Bombay S…hir. Re..l.tion«, mehr war nicht mehr zu erkennen. John kannte sich überhaupt nicht aus mit solchen Dingen. Er trank höchstens mal ein Bier. Gin war nicht sein Metier.
Er warf die Decke zur Seite, deren Zipfel jetzt dunkelgrau schmutzig war, und ging hinüber in die Küche – der einzige Raum, in dem man wenigstens H+ auf dem Handy hatte. WLAN hatte der Alte wahrscheinlich gar nicht gekannt. Er schaute auf die Nebelschwaden, die vor den schmutzigen Fenstern über kniehohen Schneewehen waberten, und dann auf seinen Empfang: 4G! Nebel schien gute Leitfähigkeiten zu haben. Er gab die Bruchstücke des Etiketts und das Wort »Gin« in die Suchmaschine ein. Es dauerte eine Weile, bis er fand, was er suchte, und dann verschlug es ihm die Sprache: Bombay Sapphire Revelation – die Flasche bis 200.000 Dollar wert.
In diesem Moment hörte er die Glocke des Kirchturms Mitternacht schlagen. Heiligabend hatte begonnen und er kam sich vor wie Ebenezer Scrooge im Glück.
Autor*in: Kain Schreiber Blog: Gedankenflut

Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir
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Nachdem viele Teilnehmer*innen und Leser*innen das Fetten der vorgegebenen Wörter als störend empfunden haben, wurde darauf verzichtet. In einem Text, der maximal 300 Wörter umfassen durfte, waren (mindestens) drei der folgenden fünfzehn Begriffe zu verwenden:
Etikett, Gin, Käsekuchen, Kuscheldecke, Lebkuchen, Lichtermeer, Märchenbuch, Minnesang, Nebelschwaden, Schlittenfahrt, Semmelknödel, Streicheleinheiten, Wichtel, Wunschpunsch, Zugvogel
Dieser Text erschien zuerst im Rahmen der Adventüden 2020, einem Projekt von »Irgendwas ist immer«.