Was heutzutage gerne bei der Betrachtung von Gedichten, speziell älteren, zu kurz kommt, ist die Erkenntnis, dass es früher ja kein Fernsehen, Radio oder Internet gab. Das heißt: Geschichten/Gedichte wurden erzählt bzw. vorgelesen, sie hatten Neuigkeits- und Nachrichtenwert. Es war nicht selbstverständlich, lesen zu können oder Bücher zu besitzen. Daher mussten Geschichten und Gedichte alle Unterhaltung abdecken, sowohl das Erbauliche wie das Aufregende. Und, wie es jeder auch von Hörbüchern kennt, das Ganze steht und fällt mit dem Sprecher …
Vor diesem Hintergrund sind Balladen Romanhandlungen oder zumindest Kurzgeschichten, die ein*e Autor*in in Gedichtform gebracht hat. Das macht das Gedicht in der Regel länger, okay, und zumindest wenn es eine klassische Ballade ist, macht es das Gedicht auch gereimt (auf jeden Fall gibt es so etwas wie ein Versmaß). Und weil eine gute Geschichte die Protagonisten in Schwierigkeiten bringt (mein Dank für diesen Satz verfolgt Jutta Reichelt auf ewig), enthält eine Ballade dramatische Elemente (denn die Schwierigkeiten müssen ja irgendwie bewältigt werden, und oft sind das drastische Lösungen – oder humorvolle).
Quelle: Bild Pixabay, Bearbeitung von mir
Beim Stolpern durch YouTube bin ich bei dem großartigen Oskar Werner (Wikipedia) hängen geblieben. Ihr werdet ihn kennen (oder nicht), ihr werdet die folgenden Balladen kennen (oder nicht), aber bevor ihr gelangweilt flieht, weil ihr das eine oder andere in der Schule durchlitten habt: Hört rein. Dies ist kein ätherisches Gesäusel, wo jemand weihevoll ein paar Zeilen dahersagt und vor Rührung über die eigene Größe zusammenbricht.
Versucht es, vielleicht packt es euch ja und ihr glaubt ihm, was er sagt. Nehmt die Texte zum Mitlesen, wenn ihr euch Oskar Werner nicht ansehen wollt.
Erlkönig.
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. –
»Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.« –
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. –
»Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.« –
Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. –
»Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.« –
Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! –
Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.
(Johann Wolfgang von Goethe, Erlkönig, aus: Werke, Band 1, 1815, Wikipedia, Online-Quelle, Online-Quelle)
Legende.
Als noch, verkannt und sehr gering,
Unser Herr auf der Erde ging,
Und viele Jünger sich zu ihm fanden,
Die sehr selten sein Wort verstanden,
Liebt er sich gar über die Masen
Seinen Hof zu halten auf der Straßen,
Weil unter des Himmels Angesicht
Man immer besser und freyer spricht;
Er ließ sie da die höchsten Lehren
Aus seinem heilgen Munde hören;
Besonders durch Gleichniß und Exempel
Macht er einen jeden Markt zum Tempel.
So schlendert’ er, in Geistes Ruh,
Mit ihnen einst einem Städtchen zu,
Sah etwas blinken auf der Straß,
Das ein zerbrochen Hufeisen was.
Er sagte zu St. Peter drauf:
Heb doch einmal das Eisen auf!
Sanct Peter war nicht aufgeräumt,
Er hatte so eben im Gehen geträumt,
So was vom Regiment der Welt,
Was einem jeden wohlgefällt,
Denn im Kopf hat das keine Schranken,
Das waren seine liebsten Gedanken.
Nun war der Fund ihm viel zu klein,
Hätte müssen Kron und Zepter seyn,
Aber wie sollt er seinen Rücken
Nach einem halben Hufeisen bücken?
Er also sich zur Seite kehrt
Und thut als hätt’ ers nicht gehört.
Der Herr, nach seiner Langmuth, drauf
Hebt selber das Hufeisen auf
Und thut auch weiter nicht dergleichen.
Als sie nun bald die Stadt erreichen,
Geht er vor eines Schmiedes Thür,
Nimmt von dem Mann drey Pfennig dafür.
Und als sie über den Markt nun gehen
Sieht er daselbst schöne Kirschen stehen,
Kauft ihrer, so wenig oder so viel,
Als man für einen Dreyer geben will,
Die er sodann nach seiner Art,
Ruhig im Ermel aufbewahrt.
Nun gings zum andern Thor hinaus,
Durch Wies’ und Felder ohne Haus,
Auch war der Weg von Bäumen blos,
Die Sonne schien, die Hitz war groß,
So daß man viel an solcher Stätt’,
Für einen Trunk Wasser gegeben hätt’.
Der Herr geht immer voraus vor allen,
Läßt unversehens eine Kirsche fallen.
Sanct Peter war gleich dahinter her,
Als wenn es ein goldner Apfel wär,
Das Beerlein schmeckte seinem Gaum.
Der Herr, nach einem kleinen Raum,
Ein ander Kirschlein zur Erde schickt,
Wornach Sanct Peter schnell sich bückt,
So läßt der Herr ihn seinen Rücken
Gar vielmal nach den Kirschen bücken.
Das dauert eine ganze Zeit.
Dann sprach der Herr mit Heiterkeit:
Thätst du zur rechten Zeit dich regen,
So hättst du’s bequemer haben mögen.
Wer geringe Ding wenig acht’t
Sich um geringere Mühe macht.
(Johann Wolfgang von Goethe, Legende, aus: Friedrich Schiller: Musen-Almanach für das Jahr 1798, 1797, Online-Quelle, Online-Quelle)
Und? Nachschlag? 😉
Kommt alle gut in und durch die neue Woche, sommerlich oder weniger.
Eingetroffene Adventüden: Immer noch 15. Herzlichen Dank! Ihr anderen: Noch drei Wochen Zeit 🙂