23 – Dem Leben auf der Spur | Adventüden

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Dem Leben auf der Spur (Anna-Lena, Meine literarische Visitenkarte)

 

Er war weder blaublütig, noch hatte er goldene Löffel in die Wiege gelegt bekommen, und trotzdem war er ein Kind aus bestem Hause, ein Einzelkind, dessen Eltern es mit viel Kraft und Elan, aber auch mit einer gehörigen Portion Arbeit zu Wohlstand und Reichtum gebracht hatten.
Hunger, Durst und Entbehrungen jeglicher Art waren ihm fremd, er hatte alles in seinem bisherigen Leben bekommen, was er wollte, und doch war er nicht glücklich – bis jetzt.

Es war an einem heißen Sommertag südlich von Kreta. Die Party auf der kleinen Segeljacht war in vollem Gang, als er die verzweifelten Hilferufe der Frau hörte. Immer wieder hielt sie ein kleines Bündel aus dem Wasser. Kurz darauf waren beide verschwunden. Alkohol und Koks hatten seine Sinne getrübt, und auch die anderen bemerkten entweder gar nicht oder zu spät, dass eine verzweifelte Frau mit ihrem kleinen Kind von einem Flüchtlingsboot ins Wasser gefallen und abgetrieben worden war und nun um das nackte Leben kämpfte.
Voller Entsetzen erinnerte er sich daran, dass sie irgendwann beide nicht mehr auftauchten und im weitläufigen Massengrab des Mittelmeeres versunken waren. Diese bitteren Erfahrungen holten ihn als nächtliche Träume immer wieder ein.

Das war die Wende in seinem Leben. Er hatte begriffen, dass er so nicht weiterleben konnte und wollte. Nach unsäglichen Auseinandersetzungen mit seinen Eltern, die ihm bereits einen Studienplatz an einer Eliteuniversität in den Staaten besorgt hatten, zog er nach seinem Abitur durch die Länder Europas, immer wieder nach dem Sinn des Lebens suchend.

Und nun stand er hier in der Suppenküche in Berlin-Pankow und teilte eine heiße Kartoffelsuppe aus an alle, die mit frischen Schneeflocken auf ihren Haaren oder ihren Pudelmützen frierend in den adventlich geschmückten Raum kamen, gekennzeichnet von der bitteren Armut in ihrem Leben und doch lächelnd vor Dankbarkeit für diese Zuwendung.
Es war Weihnachten.

 

Adventüden 2019 23 | 365tageasatzadayQuelle: Pixabay, Bearbeitung von mir

 

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Wirklicher Reichtum

Man hat mich gefragt, ob ich bei der Beerdigung ein paar Worte sagen wollen würde. Eigentlich ist das ja mein schlimmster Albtraum, öffentlich sprechen. Andererseits wird da ein sehr überschaubarer Kreis an Leuten sein, und bisher will keinen einen Trauerredner, der den Verstorbenen gar nicht gekannt hat.

Ich suche also nach einem Zitat, mit dem ich anfangen könnte, und da besagter verstorbener Freund es mit der Bibel nicht so hatte, fiel mir ein Zen-Spruch ein, den er zu verschiedenen Gelegenheiten zitiert hat: „Großvater tot, Vater tot, Sohn tot.“ Wenn man dazu das Netz durchsucht, gibt es dazu nicht viel an Erklärung. Auf Englisch allerdings gibt es bisschen mehr, und da heißt das dann „Grandfather dies, Father dies, Son dies.“ Okay, selbst da gibt es verschiedene Varianten, wer nun alles gestorben ist, aber man scheint sich sicher zu sein, dass es eine Zen-Geschichte ist, ich habe eine Zuschreibung zu Sengai gefunden (kann mir jemand sagen, ob die stimmen könnte?) und eine Geschichte, die so oder in ähnlicher Form erzählt wird:

„Ein reicher Händler bat Meister Sengai um einen Segensspruch, der dazu beitragen würde, den Reichtum und das Glück seiner Familie zu bewahren. Der Meister nahm Pinsel und Tinte und schrieb:

Großvater stirbt
Vater stirbt
Sohn stirbt

Der Händler war verärgert. ‚Was für einen bösen Spruch verhängst du da gegen meine Familie?‘ wollte er von Sengai wissen.

‚Das ist kein böser Spruch‘, sagte Sengai, ’sondern ein Segenswunsch für dein größtes Glück. Ich wünsche, dass jeder Mann deiner Familie lang genug leben soll, um Großvater zu werden. Und ich wünsche, dass kein Sohn vor seinem Vater sterben soll. Welch größeres Glück als zu leben und zu sterben in dieser Reihenfolge kann sich eine Familie wünschen?'“ (Meine (etwas freie) Übersetzung, Original hier, scheint Inhalt eines Buches zu sein.)

Nur, verdammt, passt der Spruch nicht auf ihn, den Gestorbenen, in dem Sinne, dass er trösten könnte. Und die Geschichte mit den drei Dingen, die jeder Mann zu tun habe, auch nicht. Ich glaube, ich will doch nichts sagen.

Wie es mir geht? Ach. Ich würde Trauer gern mit einer frischen Zahnlücke vergleichen: Etwas fehlt, und man ist irgendwie ständig bewusst oder unbewusst mit der Zunge dran, erinnert sich und jedes Mal durchzuckt einen der Schmerz. Mal weniger, mal mehr. Und es gibt nichts, was man dagegen tun kann.
Irgendwann wird es besser, ja.

Sengai war auch Maler, übrigens. Und dies ist sein meditierender Frosch 😉

 


Dieses Bild ist Public Domain.
Quelle: http://www.wikiart.org/en/sengai/meditating-frog