„Tine! Um Himmels Willen, was ist passiert? Hattest du einen Unfall? Soll ich die Polizei rufen?“
Die Stimme störte. Sie kam nur langsam zu sich. Ihre ganze rechte Seite tat furchtbar weh. Wo war sie? Sie spürte sengenden, ungezügelten Zorn in sich aufsteigen, schreckte hoch und riss die Augen auf. Das Gesicht vor ihr zuckte zurück.
„Tine! Ich bins doch!“
Birte, die Nachbarin von unten. Sie saß auf einer Treppenstufe in ihrem vertrauten Treppenhaus, wie sie erleichtert feststellte. Langsam wich ein roter Nebel aus ihrem Kopf. Irgendwas war mit ihren Augen nicht okay. Warum erwartete sie, eine … Schnauze … zu sehen? Warum fühlte sie sich mit ihren 50 Kilo … massig? Und sie hatte hämmernde Kopfschmerzen. Vorsichtig lehnte sie den zerbrechlichen Kopf an das Geländer.
„Hallo, Birte“, krächzte sie mühsam, „was ist los?“ Warum tat ihr Hals so weh? Sie war doch nicht erkältet.
„Das frage ich dich gerade! Deine Hose ist total zerrissen! Bist du überfallen worden?“
Sie sah an sich herunter. Das rechte Bein ihrer Jogginghose war bis übers Knie aufgerissen, das linke sogar ziemlich zerfetzt und schmutzig. Joggen, richtig. Sie war am frühen Abend joggen gewesen. Ihre übliche Strecke um den Weiher. Sie erinnerte sich nicht an die komplette Runde, nur an eine wahnsinnige Wut. Als sie ihre Hände betrachtete, sah sie dunkle Ränder unter den Nägeln und eine Spur auf einem Handrücken. Sie widerstand der Versuchung, daran zu lecken, war aber plötzlich überzeugt, dass es Blut war. Ihr Blut? Wessen Blut? Oh! Verdammt, warum wusste sie nicht, was passiert war? Eins war zum Glück sicher, sie war nicht vergewaltigt worden.
„Weiß nicht. Glaub nicht. Keine Ahnung. Muss irgendwie hingeknallt sein.“
Sie stand stöhnend auf und wäre beinahe umgeknickt, so sehr schmerzte ihr Knöchel. An ihrem rechten Handgelenk baumelte am gewohnten Band ihr Wohnungsschlüssel … falsch. Der Schlüsselgriff. Ihr Schlüssel war abgebrochen! Sie betrachtete den Überrest fassungslos. Langsam wurde ihr unheimlich.
„Birte, ich brauche wohl meinen Schlüssel von dir zurück. Und hilfst du mir nach oben? Ich glaube, ich will als erstes in die Badewanne.“
Zwei Stunden später lag Tine im Bett. Ihre ganze rechte Körperhälfte war übersät mit Prellungen, der Fußknöchel ziemlich geschwollen und zwei Finger der rechten Hand taten auch übel weh. Sie fiel trotzdem fast sofort in einen tiefen Schlaf.
***
Im Traum lief sie noch mal am Weiher entlang. Sie liebte diese Strecke, die größtenteils durch ein Naturschutzgebiet führte. Es waren wenig Leute unterwegs, vermutlich war es den meisten bereits zu dunkel. Sie hatte keine Angst, sie kannte jeden Abschnitt des Weges, begrüßte die Möwen, ihre alte Lieblingseiche, die Blässhühner, Enten und Teichhühner, sah weiter hinten den Reiher an seinem gewohnten Platz stehen und die Wasserfläche beobachten. Dort schwamm ein Schwan, wo mochte sein Partner sein? Ach da vorn, am Ufer vor den Bäumen, ganz allein. Komisch. Ob er wohl brütete?
Stimmen störten ihren Traum. Stimmen, die den Schwan auf dem Trockenen aufscheuchten und ihm Angst machten. Junge Stimmen. Dumme Stimmen.
„Ey, komm schon, ist doch nur ein Vogel, ist doch lustig.“
Sie waren zu zweit, der flügelschlagende Schwan würde keine Chance haben, sein Nest zu verteidigen.
Als sie sogar im Traum erneut von dem roten Nebel überschattet wurde, bekam sie nur noch mit, dass sie schreiend durch Unterholz rannte, dass sie sich auf ein anderes Wesen warf und voller Inbrunst auf ihm herumtrampelte und dass jemand wieder und wieder verzweifelt versuchte, ihr in die Seite zu treten …
***
Als Tine am nächsten Tag erwachte, war es Mittag und sie fühlte sich erschöpft, aber gut. Keine Spur von einem roten Nebel. Keine Alpträume. Sie beschloss zu versuchen, den Unfall zu vergessen. War ja nichts passiert. Die Prellungen hatten sich in Blutergüsse verwandelt, gebrochen schien nichts zu sein, die Schmerzen waren erträglich. Die Sonne schien. Morgen würde sie wieder im Büro sitzen können. Und in den nächsten Wochen war halt Studiotraining statt Laufen angesagt.
Sie entdeckte die Meldung am Wochenende im Wochenblatt.
Tragischer Unfall am Weiher. Bei einem tragischen Unfall am Weiher sind am vergangenen Dienstag zwei Jugendliche zum Teil schwer verletzt worden. Alexander F. (14) und Kevin K. (16) waren abseits des Weges am Ufer unterwegs, als sie von einem großen Wildschwein angegriffen und überrannt wurden. Kevin K. erlitt einen mehrfachen Schenkelbruch und Fleischwunden, Alexander F. wurde bei dem Versuch, das Tier abzulenken, ebenfalls zum Ziel und konnte sich mit einem gebrochenen Unterarm nur durch einen Sprung in den Weiher retten. Spaziergänger hörten Hilferufe und riefen den Notarzt. Es wird angenommen, dass das Wildschwein Junge führte und von den Jugendlichen aufgeschreckt wurde. Von den Tieren fehlt jede Spur.
Das Wochenblatt wusste nichts von einem Schlüsselbart, der operativ aus dem Oberschenkel von Kevin K. entfernt werden musste. Das Schwanenpaar brütete in diesem Jahr immerhin zwei Junge aus.
Ich fürchte, das ist nicht die „Treppenhaus“-Geschichte, die Jutta sich in ihrem letzten Geschichtengenerator-Aufruf vorgestellt hat, aber irgendwie hat die Treppenhaus-Szene diesmal bei mir nicht gezündet und ich musste warten, bis eine Idee vorbeikam, die zumindest einen Aufenthalt im Treppenhaus abwarf. Betonen möchte ich, dass vor/während der Erstellung dieser Geschichte weder Menschen noch Tiere zu Schaden kamen … man weiß ja nie. 😉