Durchs Fenster strömt der See zu mir herein, Der Himmel auch mit seinem Mondenschein. Die Wogen ziehen über mir dahin, Ich träume, daß ich längst gestorben bin. Ich liege auf dem Grunde alles Seins Und bin mit Kiesel, Hecht und Muschel eins.
Kurze Vorrede zu einer langen Ballade: Zum zweiten Mal habe ich einen Ritter in misslicher Lage für euch. Stand beim letzten Mal besagter Ritter unfreiwillig unter dem Einfluss von Zauberei (hier klicken), so ist er diesmal aufgrund seiner Zugehörigkeit zum falschen Clan in die Bredouille geraten, und so fiktiv der verzauberte Ritter war, so historisch belegt ist dieser …
»Ich hab’ es getragen sieben Jahr Und ich kann es nicht tragen mehr, Wo immer die Welt am schönsten war, Da war sie öd’ und leer.
Ich will hintreten vor sein Gesicht In dieser Knechtsgestalt, Er kann meine Bitte versagen nicht, Ich bin ja worden alt.
Und trüg’ er noch den alten Groll, Frisch wie am ersten Tag, So komme, was da kommen soll, Und komme, was da mag.«
Graf Douglas spricht’s. Am Weg ein Stein Lud ihn zu harter Ruh, Er sah in Wald und Feld hinein, Die Augen fielen ihm zu.
Er trug einen Harnisch, rostig und schwer, Darüber ein Pilgerkleid – Da horch, vom Waldrand scholl es her. Wie von Hörnern und Jagdgeleit.
Und Kies und Staub aufwirbelte dicht, Her jagte Meut’ und Mann, Und ehe der Graf sich aufgericht’t, Waren Roß und Reiter heran.
König Jakob saß auf hohem Roß, Graf Douglas grüßte tief, Dem König das Blut in die Wange schoß, Der Douglas aber rief:
»König Jakob, schaue mich gnädig an Und höre mich in Geduld, Was meine Brüder dir angetan, Es war nicht meine Schuld.
Denk nicht an den alten Douglas-Neid, Der trotzig dich bekriegt, Denk lieber an deine Kinderzeit, Wo ich dich auf den Knien gewiegt.
Denk lieber zurück an Stirling-Schloß, Wo ich Spielzeug dir geschnitzt, Dich gehoben auf deines Vaters Roß Und Pfeile dir zugespitzt.
Denk lieber zurück an Linlithgow, An den See und den Vogelherd, Wo ich dich fischen und jagen froh Und schwimmen und springen gelehrt.
O denk an alles, was einsten war, Und sänftige deinen Sinn, Ich hab’ es gebüßet sieben Jahr, Daß ich ein Douglas bin.«
»Ich seh’ dich nicht, Graf Archibald, Ich hör’ deine Stimme nicht, Mir ist, als ob ein Rauschen im Wald Von alten Zeiten spricht.
Mir klingt das Rauschen süß und traut, Ich lausch’ ihm immer noch, Dazwischen aber klingt es laut: Er ist ein Douglas doch.
Ich seh’ dich nicht, ich höre dich nicht, Das ist alles, was ich kann, Ein Douglas vor meinem Angesicht Wär’ ein verlorener Mann.«
König Jakob gab seinem Roß den Sporn, Bergan ging jetzt sein Ritt, Graf Douglas faßte den Zügel vorn Und hielt mit dem Könige Schritt.
Der Weg war steil, und die Sonne stach, Und sein Panzerhemd war schwer, Doch ob er schier zusammenbrach, Er lief doch nebenher.
»König Jakob, ich war dein Seneschall, Ich will es nicht fürder sein, Ich will nur warten dein Roß im Stall Und ihm schütten die Körner ein.
Ich will ihm selber machen die Streu Und es tränken mit eig’ner Hand, Nur laß mich atmen wieder aufs neu Die Luft im Vaterland.
Und willst du nicht, so hab’ einen Mut, Und ich will es danken dir, Und zieh dein Schwert und triff mich gut Und laß mich sterben hier.«
König Jakob sprang herab vom Pferd, Hell leuchtete sein Gesicht, Aus der Scheide zog er sein breites Schwert, Aber fallen ließ er es nicht.
»Nimm’s hin, nimm’s hin und trag’ es neu Und bewache mir meine Ruh’, Der ist in tiefster Seele treu, Wer die Heimat liebt wie du.
Zu Roß, wir reiten nach Linlithgow, Und du reitest an meiner Seit’, Da wollen wir fischen und jagen froh, Als wie in alter Zeit.«
(Theodor Fontane, Archibald Douglas, entstanden 1854, aus (Erstdruck): Argo, Album für Kunst und Dichtung, 1857, Online-Quelle)
Stirling Castle, möchtet ihr in Rüstung diesen Berg hoch? Quelle: Pixabay
Schön und edel, die Ballade, oder? Ein demütiger Bittsteller und ein huldvoller König, wie man sie sich wünscht. Die Sache hat nur einen Haken: Die Personen sind zwar historisch, der Vorfall ist auch überliefert, nur nicht so.
Wir bewegen uns in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in England ist Heinrich VIII. an der Macht. Dieser ist der Onkel des erwähnten »König Jakob«, Jakob V. von Schottland. Jakob, geboren 1512, war erst 17 Monate alt, als er seinem Vater auf den Thron folgte.
1525 übernahm sein Stiefvater, ein Douglas, der 6. Earl of Angus, die Regentschaft über Schottland und hielt Jakob zur Durchsetzung seiner eigenen Machtansprüche praktisch wie einen Gefangenen, bis ihm seine Mutter 1528 zur Flucht verhalf. Der Douglas aus der Ballade, Archibald Douglas of Kilspindie (Kilspindie war eine Burg im Dorf Aberlady (Wikipedia)), war der Onkel des Earls und bekleidete nicht nur mehrere hohe Posten im Staat, sondern pflegte auch über Jahre ein gutes und enges Verhältnis zu dem jungen König, der ihn wohl auch für seine, heute würde man sagen, körperliche Fitness und Gewandtheit bewunderte (er war gut 35 Jahre älter). Als Jakob V. 1528 an die Macht gelangte, wurde jedoch der gesamte Douglas-Clan des Verrats angeklagt, ihre Ländereien fielen an die Krone, die Douglas flohen ins Exil und Jakob schwor ihnen ewige Feindschaft.
Der alternde Kilspindie (wenn die Daten stimmen, muss er Ende 50 gewesen sein) kam dennoch einige Jahre später zurück und näherte sich dem König im königlichen Park von Stirling. Der König erkannte ihn, ignorierte ihn aber und ritt den Hügel zum Schloss hinauf. Kilspindie, der unter seiner Kleidung ein Kettenhemd trug (sicher ist sicher), folgte ihm zu Fuß und kam erschöpft zur gleichen Zeit an, aber der König würdigte ihn keines Blickes und verschwand, Kilspindie blieb draußen. Obwohl er darum bat, wollte ihm keiner der Bediensteten etwas zu trinken geben, da der Hass des Königs auf den Namen Douglas allen bekannt war. Der König tadelte diese Unhöflichkeit später und erklärte, hätte er keinen Eid geschworen, dass kein Douglas ihm je wieder dienen solle, hätte er dessen Wunsch entsprochen. Kilspindie ging auf seinen Befehl hin nach Frankreich, wo er jedoch bald an gebrochenem Herzen starb. Sogar Heinrich VIII., ebenfalls nicht gerade für ein ausgeglichenes Temperament bekannt, wird zu dieser Sache mit einem Sprichwort zitiert: »A Kingְ’s face should give grace« – »Das Gesicht eines Königs sollte Gnade gewähren.«
Wie ist Fontane nun zu diesem Stoff gekommen? Hier berufe ich mich auf den überaus detaillierten, großartigen Kommentar in der Wikipedia (hier klicken), der besagt, dass es keinen Zweifel gibt, dass Fontane dazu Walter Scott gelesen hat (unklar ist, wann), zur Auswahl stehen jedoch zwei Bücher: »Minstrelsy of the Scottish border« (1802) (Text, Fußnote) und »Tales of a Grandfather Being the History of Scotland« (1830) (Text). Scott wiederum beruft sich auf David Hume of Godscroft: »The History of the House and Race of Douglas and Angus« (1643/44) (Text), der wiederum mit den Douglas verwandt war. Fontane wiederum war so ergriffen und beeindruckt von dem Stoff, dass er beschloss, das Ende abzuändern, auf dass sie ewig und in Freuden lebten. Er schreibt 1893 in einem Brief an Richard Maria Werner: »Diese kleine Douglas-Geschichte machte einen großen Eindruck auf mich, und da ich ganz der Ansicht von Heinrich dem Achten war, so modelte ich den Stoff in dem entsprechenden Sinne …« (Text, links oben)
Noch im Erscheinungsjahr (1857) schrieb Carl Loewe eine Vertonung der Ballade für Singstimme und Klavier (op. 128). Da das klassische Lied überhaupt nicht mein Fall ist, weise ich nur darauf hin, dass YT dazu einige Aufnahmen anbietet, z B. von Hermann Prey oder dem Wagnersänger Ferdinand Frantz.
Empfehlen möchte ich hingegen eine Aufnahme des gesprochenen Gedichts, vorgetragen von dem (wie so oft großartigen) Otto Sander. Wen es interessiert, der findet dort auch noch eine Aufnahme von Gert Westphal und Fritz Stavenhagen verlinkt. Ich vergleiche gern Interpretationen, vor allem, wenn alle Beteiligten wissen, was sie tun, aber hier gefällt mir Otto Sander am besten, weil er ohne sprachlichen Kanonendonner auskommt.
[Dieser Mann (das Bild im Video) heißt zwar auch Archibald Douglas, ist aber der oben bereits erwähnte 6. Earl of Angus, ein mit allen Wassern gewaschener schottischer Politiker höchsten Ranges.]
Kommt wie immer gut und heiter und gesund in und durch die neue Woche! Und wer sich von euch ins Karnevalsgetümmel stürzt: Viel Vergnügen, und lasst alle Viren und Bazillen draußen vor der Tür!
Achtung, Etüdenschreiber*innen: Die aktuelle Schreibeinladung lässt keine Pings mehr zu. Bitte verewigt euch UNBEDINGT mit dem Link zu eurer Etüde in den Kommentaren, sonst garantiere ich für nichts!
Meine vorherigen Balladentage finden sich in meiner Balladentag-Kategorie: BITTE HIER KLICKEN!
Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Lerne nur das Glück ergreifen, Denn das Glück ist immer da.
(Johann Wolfgang von Goethe, Erinnerung, aus: Gedichte (Ausgabe letzter Hand, 1827), Online-Quelle)
Zuspruch.
Such’ nicht immer, was Dir fehle, Demuth fülle Deine Seele, Dank erfülle Dein Gemüth. Alle Blumen, alle Blümchen, Und darunter selbst ein Rühmchen, Haben auch für Dich geblüht!
Freude soll nimmer schweigen. Freude soll offen sich zeigen. Freude soll lachen, glänzen und singen. Freude soll danken ein Leben lang. Freude soll dir die Seele durchschauern. Freude soll weiterschwingen. Freude soll dauern Ein Leben lang.
Ach, Aufruf! Balladentag, nächste Woche Montag? Wer macht mit? Wie ist es mit euch, seid ihr dabei? Was ich damit meine, könnt ihr hier genauer nachlesen.
Kommt gut und heil und fröhlich in und durch die neue Woche!
Immer enger, leise, leise Ziehen sich die Lebenskreise, Schwindet hin, was prahlt und prunkt, Schwindet Hoffen, Hassen, Lieben, Und ist nichts in Sicht geblieben, Als der letzte dunkle Punkt.
Ueber alle Gräber wächst zuletzt das Gras, Alle Wunden heilt die Zeit, ein Trost ist das, Wohl der schlechteste, den man dir kann ertheilen; Armes Herz, du willst nicht, daß die Wunden heilen. Etwas hast du noch, solang es schmerzlich brennt; Das Verschmerzte nur ist todt und abgetrennt.
(Friedrich Rückert, Ueber alle Gräber wächst zuletzt das Gras, aus: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a. M. 1872, S. 153, Online-Quelle)
Tränen, Tränen, die aus mir brechen
Tränen, Tränen, die aus mir brechen. Mein Tod, Mohr, Träger meines Herzens, halte mich schräger, daß sie abfließen. Ich will sprechen.
Schwarzer, riesiger Herzhalter. Wenn ich auch spräche, glaubst du denn, daß das Schweigen bräche?
Wiege mich, Alter.
(Rainer Maria Rilke, Tränen, Tränen, die aus mir brechen, (Paris, Spätherbst 1913) aus: Rainer Maria Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren bis späteren Jahren, Insel-Verlag 1953, S. 467)
Sieben Septillionen Jahre
Sieben Septillionen Jahre zählte ich die Meilensteine am Rande der Milchstrasse.
Sie endeten nicht.
Myriaden Aeonen versank ich in die Wunder eines einzigen Thautröpfchens.
Es erschlossen sich immer neue.
Mein Herz erzitterte!
Selig ins Moos streckte ich mich und wurde Erde.
Jetzt ranken Brombeeren über mir, auf einem sich wiegenden Schlehdornzweig zwitschert ein Rotkehlchen.
Aus meiner Brust springt fröhlich ein Quell, aus meinem Schädel wachsen Blumen.
(Arno Holz, Sieben Septillionen Jahre, aus: Phantasus, II. Heft, Berlin, 1899, Online-Quelle)
Ansprechende Gedichte zum Thema, die nicht oder weitgehend nicht christlich eingefärbt sind, sind eher selten für die Zeit, aus der man öffentlich zitieren darf. Nachdem ich letzte Woche auf eine Zusammenstellung von Trauersprüchen (mit überprüfter Autorenangabe, SELTEN) gestoßen bin (hier klicken), dachte ich, vielleicht mag diese Gedichte noch jemand außer mir.
Wie immer, kommt gut und warm und fröhlich in und durch die neue Woche!
Schon mischt sich Rot in der Blätter Grün, Reseden und Astern sind im Verblühn, Die Trauben geschnitten, der Hafer gemäht, Der Herbst ist da, das Jahr wird spät.
Und doch (ob Herbst auch) die Sonne glüht, – Weg drum mit der Schwermut aus deinem Gemüt! Banne die Sorge, genieße, was frommt, Eh’ Stille, Schnee und Winter kommt.
SCHON hängt die Sonne niedrig im Geäst der finstern Fichten. Manchmal strahlt sie blendend noch einmal auf, ein Nadelnetz entsendend, das einen Stamm in Blitzen stehen läßt.
Die schmalen Birken träumen goldumflort, in kaum gehörtem Hauch wie Seide fließend, ihr flüsternd Blätterrieseln ausgenießend, weil Herbstgekrächz hochhin die Luft durchbohrt.
Schwermütige Wege war ich gegangen, Nahm ich mein leidvolles Leben doch mit. Auf den sterbenden Blättern hangen Sah ich in Rotschrift, was alles ich litt.
Plötzlich fasste ein Windstoss die Blätter, Wehte die welken zur Erde hinab. … Wirft auch einmal ein letztes Wetter Alle zitternden Schmerzen ins Grab?
(Karl Ernst Knodt, Im Spätherbst, aus: Neue Gedichte, 1902, Online-Quelle)
Auch wenn das Wetter sich hier im Norden Deutschlands nicht ganz der Jahreszeit entsprechend verhält, habe ich dieses Mal wieder ein paar eher vielleicht unbekanntere Herbstgedichte ausgesucht.
Ich schweifte umher so ganz allein Da hört ich zwei Raben schaurig schrein, Der eine wohl zu dem andern sprach: Wo finden wir Atzung diesen Tag? Ich weiß, dort hinter dem faulen Bruch Liegt ein Ritter erschlagen, frisch genug, Keine Seele hat ihn dort liegen sehn, Nur sein Falke sein Hund und sein Liebchen schön. Sein Hund der ist nun jagen gangen, Es will der Falk die Waldvögel fangen, Das Liebchen hat einen andern erkohren, Bleibt uns die Mahlzeit doch unverlohren. Du magst sitzen ihm auf der weißen Brust, Die süßen blauen Augen pick ich mit Lust, Eine Locke von seinem goldnen Haar Flicht das Nest uns aus wenns zerrissen war. Wohl mancher spricht um ihn traurendes Wort, Wo er lieget soll keiner wissen den Ort, Ueber die Knochen wenn nackt und bleich sie sind Soll ewig hinfahren der kalte Wind.
(Carl August Heinrich Zwicker, Volkslied. Aus dem Schottischen, Original v. Walter Scott, The Twa Corbies (ersch. 1806), aus: Wünschelruthe, 1818, Online-Quelle, Scott: Online-Quelle)
Die beiden Raben
Durch die Luft ein Rabe krächzt, Hungermüd nach Labung lechzt, Fragt er einen andern Raben: Werden wir heut Speise haben?
Und der andre Rabe spricht: Heut an Speise fehlt es nicht: Tod im Feld, am Waldessaume, Liegt ein Ritter unter’m Baume.
Wer, warum man ihn erschlug? Weiß der Falk nur, den er trug, Weiß des Ritters schwarzes Roß nur Und sein junges Weib im Schloß nur.
Flog der Falk zum Walde fern, Blieb das Roß dem Feind des Herrn? Und die Frau harrt ihres Lieben, Aber deß nicht, der geblieben …
(Alexander Puschkin, Die beiden Raben, aus: Alexander Puschkin’s Poetische Werke, aus dem Russischen übersetzt von Friedrich Bodenstedt, Erster Band: Gedichte. 1854. Online-Quelle)
Ein russisches Lied
Der Rabe fliegt zum Raben dort, Der Rabe krächzt zu dem Raben das Wort: Rabe, mein Rabe, wo finden wir Heut unser Mahl? wer sorgte dafür?
Der Rabe dem Raben die Antwort schreit: Ich weiß ein Mahl für uns bereit; Unterm Unglücksbaum auf dem freien Feld Liegt erschlagen ein guter Held.
Durch wen? weßhalb? – Das weiß allein, Der sah’s mit an, der Falke sein, Und seine schwarze Stute zumal, Auch seine Hausfrau, sein junges Gemahl.
Der Falke flog hinaus in den Wald; Auf die Stute schwang der Feind sich bald; Die Hausfrau harrt, die in Lust erbebt, Deß nicht, der starb, nein, deß, der lebt.
(Adalbert von Chamisso, Ein russisches Lied/Die zwei Raben, 1838, in: Der Deutsche Musenalmanach 1839, Online-Quelle, Online-Quelle)
Die zwei Raben.
Ich ging über’s Haidemoor allein, Da hört ich zwei Raben kreischen und schrein; Der eine rief dem andern zu: „Wo machen wir Mittag, ich und Du!“
„Im Walde drüben liegt unbewacht Ein erschlagener Ritter seit heute Nacht, Und niemand sah ihn in Waldesgrund, Als sein Lieb und sein Falke und sein Hund.
Sein Hund auf neuer Fährte geht, Sein Falk auf frische Beute späht, Sein Lieb ist mit ihrem Buhlen fort, – Wir können speisen in Ruhe dort.
Du setzest auf seinen Nacken dich, Seine blauen Augen, die sind für mich, Eine goldene Locke aus seinem Haar Soll wärmen das Nest uns nächstes Jahr.
Manch einer wird sprechen: ich hatt’ ihn lieb! Doch keiner wird wissen, wo er blieb, Und hingehn über sein bleich Gebein Wird Wind und Regen und Sonnenschein.“
(Theodor Fontane, Die zwei Raben, aus: Gedichte (1905), Online-Quelle)
Da unterhalte ich mich mit Werner bei seiner Etüde über Raben und denke mir, ich könnte ja mal nach Raben-Gedichten schauen. ICH mag Raben nämlich (Krähen auch), sie sind intelligent und gelehrig und, und, und. Die Dichter früher scheinen das allerdings ganz anders gesehen zu haben: Schwarze Vögel brachten Unglück. Daher findet man eigentlich nur Gedichte mit Raben, die mit Tod und Unglück in Verbindung stehen. Schade.
Dann stolperte ich jedoch über eine Handvoll Gedichte, die einander thematisch so ähnlich waren, dass ich mich zu fragen begann, wer denn hier von wem abgeschrieben hatte bzw. woher das Motiv eigentlich kam. Wenn man ein bisschen herumschaut, dann ist es „The Twa Corbies“ von Scott (siehe die Übersetzung von Zwicker). Scott erwähnt in seiner Vorrede aber noch ein anderes, erheblich älteres – „The Three Ravens“ –, das vom Inhalt her fast entgegengesetzt sei (siehe Quelle).
Als Nächster scheint Puschkin das Thema aufgegriffen (und auf die Handlung verkürzt) zu haben; ich habe nichts dazu gefunden, wann er das Gedicht geschrieben hat, ab den 1820ern sind wohl Balladen überliefert und er ist 1837 gestorben – die Jahreszahl bei Bodenstedt ist das Erscheinungsdatum des Bandes. Bodenstedt verehrte Puschkin, wie man unschwer aus der Einleitung herauslesen kann.
Chamisso wiederum hat mehrere Deutsche Musenalmanache herausgegeben (Wikipedia) und scheint Russisch gesprochen zu haben; als er im Manuskript des Deutschen Musenalmanachs eine Ballade von Hoffmann von Fallersleben – „Der erschlagene Ritter“ – entdeckte, die ihm sehr nach Puschkin aussah (beide Versionen ähneln sich sehr), beeilte er sich, dort eine mit „Puschkin“ als Verfasser gekennzeichnete deutsche Version unterzubringen, „um Hoffmann zu necken“ (Beleg). Wer’s glaubt 😉 Chamisso ist wenige Tage später an Lungenkrebs gestorben, ich weiß darüber nicht mehr.
Fontane wiederum hatte ja bekanntermaßen ein Faible für England und Schottland, dem glaube ich sofort, dass er vermutlich sogar auf Scott zurückgegriffen und seine eigene Version davon verfasst hat. Ein Beleg dafür wäre auch, dass er ebenfalls eine Übertragung der oben angesprochenen „Drei Raben“ vorgenommen hat (die in der Gedichtausgabe vor den „Zwei Raben“ steht (wie bei Scott)): hier lesen.
So, habe ich euch genug verwirrt mit meinem Ritt durch die Literaturgeschichte? Dann hoffe ich, dass ihr Spaß hattet, und wünsche euch eine gute neue Woche. 😀 Und wer Edgar Allan Poes „The Raven“ erwartet hat oder Morgensterns „Km 21“ … nun, der muss einfach noch ein bisschen warten …
Update: Okay, okay: Hier kommt „The Raven“, die Version von Alan Parsons Project (Link zu YouTube)
Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.
(Rainer Maria Rilke, Herbst, aus: Das Buch der Bilder, 1906, Online-Quelle)
Ausgang.
Immer enger, leise, leise Ziehen sich die Lebenskreise, Schwindet hin, was prahlt und prunkt, Schwindet Hoffen, Hassen, Lieben, Und ist nichts in Sicht geblieben, Als der letzte dunkle Punkt.
Das Schöne bewundern, das Wahre behüten, das Edle verehren, das Gute beschließen. Es führet den Menschen im Leben zu Zielen, im Handeln zum Rechten, im Fühlen zum Frieden, im Denken zum Licht und lehrt ihn vertrauen auf göttliches Walten in allem, was ist, im Weltenall, im Seelengrund.
Ich ruhe still im hohen grünen Gras Und sende lange meinen Blick nach oben, Von Grillen rings umschwirrt ohn‘ Unterlass, Von Himmelsbläue wundersam umwoben.
Die schönen weißen Wolken ziehn dahin Durch’s tiefe Blau, wie schöne stille Träume; – Mir ist, als ob ich längst gestorben bin, und ziehe selig mit durch ew’ge Räume.
(Hermann Allmers, Feldeinsamkeit, aus: Dichtungen, 1860, Online-Quelle; „Am 1. September 1852 entstanden die Verse, die durch Johannes Brahms‘ Vertonung als Inbegriff des deutschen Kunstliedes zu Weltruhm gelangten. Vermutlich nach 1879 komponiert wurde das Lied 1881 in Strassburg uraufgeführt. Die Urschrift schenkte Brahms dem Dichter zu dessen 75. Geburtstag im Februar 1896.“ (Quelle: Hermann-Allmers-Gesellschaft e.V.)
Mittag
Am Waldessaume träumt die Föhre, Am Himmel weiße Wölkchen nur; Es ist so still, daß ich sie höre Die tiefe Stille der Natur.
Rings Sonnenschein auf Wies’ und Wegen, Die Wipfel stumm, kein Lüftchen wach, Und doch, es klingt, als ström’ ein Regen Leis tönend auf das Blätterdach.
Erscheint dir etwas unerhört, Bist du tiefsten Herzens empört, Bäume nicht auf, versuch’s nicht mit Streit, Berühr es nicht, überlass es der Zeit. Am ersten Tage wirst du feige dich schelten, Am zweiten lässt du dein Schweigen schon gelten, Am dritten hast du’s überwunden; Alles ist wichtig nur auf Stunden, Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter, Zeit ist Balsam und Friedensstifter.
(Theodor Fontane, Überlass es der Zeit, aus: Gedichte (Ausgabe 1898), Online-Quelle)
Palmströms Uhr
Palmströms Uhr ist andrer Art, reagiert mimosisch zart.
Wer sie bittet, wird empfangen. Oft schon ist sie so gegangen,
wie man herzlich sie gebeten, ist zurück- und vorgetreten,
eine Stunde, zwei, drei Stunden, je nachdem sie mitempfunden.
Selbst als Uhr, mit ihren Zeiten, will sie nicht Prinzipien reiten:
Zwar ein Werk, wie allerwärts, doch zugleich ein Werk – mit Herz.
(Christian Morgenstern, Palmströms Uhr, aus: Palmström, Gedichte entstanden meist zwischen 1905 und 1910, Online-Quelle)
Vergehe Zeit!
Vergehe Zeit und mach einer besseren Platz! Wir haben doch nun genug verloren. Setz einen Punkt hinter den grausamen Satz »Ihr habt mich heraufbeschworen.«
Was wir, die Alten, noch immer nicht abgebüßt, Willst du es nicht zum Wohle der Jugend erlassen?! Kaum kennen wir’s noch, daß fremde Hände sich fassen Und Fremdwer zu Ungleich sagt. »Sei herzlich gegrüßt.«
Lass deine Warnung zurück und geh schnell vorbei, Daß wir aufrecht stehen. Vergönne uns allen zuinnerst frei Das schöne Grün unserer Erde zu sehen.
(Joachim Ringelnatz, Vergehe Zeit!, in: In Teplitz ausgespielt, aus: Die Flasche und mit ihr auf Reisen (Tagebuch von 1932), Online-Quelle) (Die „Flasche“ war ein von Ringelnatz verfasstes Drama, mit dem er 1932 auf Tournee war.)
Na, auch schon wach? Ich dachte mir, wenn wir uns wieder einmal durch die Zeitumstellung quälen müssen, kann ich euch auch ein paar Gedichte zur Zeit zeigen …
Kommt gut in und durch die Woche, bald ist Ostern … 😉
Hörst auch du die leisen Stimmen
aus den bunten Kerzlein dringen?
Die vergeßenen Gebete
aus den Tannenzweiglein singen?
Hörst auch du das schüchternfrohe,
helle Kinderlachen klingen?
Schaust auch du den stillen Engel
mit den reinen, weißen Schwingen? …
Schaust auch du dich selber wieder
fern und fremd nur wie im Traume?
Grüßt auch dich mit Märchenaugen
deine Kindheit aus dem Baume? …
Noch ist Herbst nicht ganz entflohn, Aber als Knecht Ruprecht schon Kommt der Winter hergeschritten, Und alsbald aus Schnee’es Mitten Klingt des Schlittenglöckleins Ton.
Und was jüngst noch, fern und nah, Bunt auf uns herniedersah, Weiß sind Türme, Dächer, Zweige, Und das Jahr geht auf die Neige, Und das schönste Fest ist da.
Tag du der Geburt des Herrn, Heute bist du uns noch fern, Aber Tannen, Engel, Fahnen Lassen uns den Tag schon ahnen, Und wir sehen schon den Stern.
Vom Himmel in die tiefsten Klüfte Ein milder Stern herniederlacht; Vom Tannenwalde steigen Düfte Und hauchen durch die Winterlüfte, Und kerzenhelle wird die Nacht.
Mir ist das Herz so froh erschrocken, Das ist die liebe Weihnachtszeit! Ich höre fernher Kirchenglocken Mich lieblich heimathlich verlocken In märchenstille Herrlichkeit.
Ein frommer Zauber hält mich wieder, Anbetend, staunend muß ich stehn; Es sinkt auf meine Augenlider Ein goldner Kindertraum hernieder, Ich fühl’s, ein Wunder ist geschehn.
Auch zu Adventüden-Zeiten gibt es die Montagsgedichte. Normalerweise ist ja bei der „lieben Weihnachtszeit“ mein Kitschlevel erreicht und ich bin raus, aber ich dachte, dass das Thema Erinnerungen thematisch zu der heutigen Adventüde ganz gut passt. Ich hoffe, ihr findet es gelungen …
Kommt gesund und heiter (na ja) in und durch die Woche!
Die hohen Himbeerwände
Trennten dich und mich,
Doch im Laubwerk unsre Hände
Fanden von selber sich.
Die Hecke konnt’ es nicht wehren,
Wie hoch sie immer stund:
Ich reichte dir die Beeren,
Und du reichtest mir deinen Mund.
Ach, schrittest du durch den Garten
Noch einmal im raschen Gang,
Wie gerne wollt’ ich warten,
Warten stundenlang.
(Theodor Fontane, Im Garten, aus: Gedichte (Ausgabe 1898), Online-Quelle)
Lehnen im Abendgarten beide
Lehnen im Abendgarten beide,
Lauschen lange nach irgendwo.
„Du hast Hände wie weiße Seide …“
Und da staunt sie: „Du sagst das so …“
Etwas ist in den Garten getreten,
Und das Gitter hat nicht geknarrt,
Und die Rosen in allen Beeten
Beben von seiner Gegenwart.
(Rainer Maria Rilke, Lehnen im Abendgarten beide, aus: Erste Gedichte/Gaben an verschiedene Freunde, Insel 1913, Online-Quelle)
Der Garten
Das rote Weinlaub hängt von Sonne voll,
Ich trete ohne Schmerz in deinen Garten,
Nach langer Zeit. Auf dieser Holzbank schwoll
Einst unser junges Sehnen, und wir starrten
In manche blaue Nacht. Nun bist du tot
Drei bunte Jahre. Die Kastanien fallen.
Nun ist mir, fühle ich ihr braunes Rot,
Es müssten deine leichten Tritte hallen.
Noch fließt der alte Tropfsteinquell so klar,
Und mächtig drückt mich eine süße Schwere,
Als ob der irre Duft von deinem Haar
Noch irgendwo in diesen Büschen wäre.
(Emanuel von Bodman, Der Garten, in: Hans Bethge (Hrsg.), Deutsche Lyrik seit Liliencron, 1905, Online-Quelle)
Momentan ist in meinem Offline-Leben ziemlich viel los, und ich weiß nicht, wann/ob ich zu meinen täglichen Runden durch die Blogs komme, geschweige denn zum Schreiben. Seht es mir bitte nach.