Annamirl kochte die besten Semmelknödel weit und breit, doch der Bürgermeister kam nicht mehr zum Essen. Er wollte seine schlanke Linie halten.
»Welche schlanke Linie?«, fragte seine Frau, die das Hungern zur Religion erhoben hatte und für jedes Kohlehydrat im Fitnessstudio Buße tat. Tatsächlich wölbte sich, seit er im Amt war, ein Bäuchlein in seiner Körpermitte. Und es war Wahlkampf. Also gönnte er sich keinen Käsekuchen und auch keinen Lebkuchen.
Am Wunschpunsch nippte er nur bei der Weihnachtsfeier, was dieser Veranstaltung nicht zuträglich war. Den Wichtel-Rap der Auszubildenden ertrug er, den Minnesang der Hausmeister für alle weiblichen Angestellten ebenso, er las sogar aus dem sentimentalen Märchenbuch des örtlichen Poeten vor. Doch beim Ballett der Buchhaltung zur Petersburger Schlittenfahrt wurde ihm blümerant.
Er stürzte aus dem Saal. Im Aktenschrank stand eine Flasche Gin von Annamirl, bei der er in besseren Zeiten fast täglich gegessen hatte. Er trank ein zweites Glas. Gin war eine unschuldige, klare Substanz, die bestimmt kaum Kalorien enthielt. Auf dem Etikett wurden jedenfalls keine aufgeführt.
Musik dröhnte durch den Flur. Die Disco hatte begonnen. Er musste hinuntergehen und tanzen. Tanzen und lächeln und fröhlich sein. Hatte das nie ein Ende? Mehr als acht Jahre schon musste er den anderen gefallen. Und es würde so weitergehen. Immer weiter.
Er schlich über die Hintertreppe hinaus. Die Hauptstraße schimmerte im Lichtermeer der Weihnachtsbeleuchtung. Am Laternenmast hing das Porträt seiner Herausforderin.
Sollte die sein Amt übernehmen? Eine mit Doppelnamen? Niemals!
Er war im Begriff zurückzugehen, als die Tür zu Annamirls Semmelknödelwirtschaft aufging. Goldenes Licht fiel heraus und köstlicher Duft umhüllte ihn. Seine Nase zog ihn über die Schwelle. Schon saß er hinter einem Berg dampfender Knödel. Er schmolz dahin. Durch das Fenster sah er das Plakat mit der Doppelnamigen.
Er prostete ihr zu und gratulierte zur Nachfolge im Amt.
Autor*in: Nina Bodenlosz Blog: Das Bodenlosz-Archiv

Quelle: Pixabay, Bearbeitung von mir
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Nachdem viele Teilnehmer*innen und Leser*innen das Fetten der vorgegebenen Wörter als störend empfunden haben, wurde darauf verzichtet. In einem Text, der maximal 300 Wörter umfassen durfte, waren (mindestens) drei der folgenden fünfzehn Begriffe zu verwenden:
Etikett, Gin, Käsekuchen, Kuscheldecke, Lebkuchen, Lichtermeer, Märchenbuch, Minnesang, Nebelschwaden, Schlittenfahrt, Semmelknödel, Streicheleinheiten, Wichtel, Wunschpunsch, Zugvogel
Dieser Text erschien zuerst im Rahmen der Adventüden 2020, einem Projekt von »Irgendwas ist immer«.