Von Flusseinsamkeit

Die Tage lassen keine Spur

O Regen sag, du kommst so hoch daher,
Ist droben auch der Tag spurlos und leer?

Du fällst zum Fluß und schwimmst zum Meer,
Glaubst, Du enteilst dem Leid und suchst Genuß?

O wüßten alle nur, was doch ein jeder wissen muß:
Die Tage lassen keine Spur, so wenig wie der Regen auf dem Fluß, –
Die Liebe nur.

(Max Dauthendey, Die Tage lassen keine Spur, aus: Weltspuk, in: Gesammelte Gedichte und kleinere Versdichtungen, Albert Langen, München 1930, S. 378/379)

Einsamkeit

Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen
geht sie zum Himmel der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber welche nichts gefunden
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen …

(Rainer Maria Rilke, Einsamkeit, aus: Das Buch der Bilder, 1. Buch Teil 2, S. 47, 1906, Online-Quelle)

Wann immer ich dieses Gedicht lese, habe ich den Sound von Katharina Franck im Ohr, und das Hörerlebnis möchte ich euch nicht vorenthalten. Klickt bitte hier für den Link zu YouTube.

Inmitten der großen Stadt

Sieh, nun ist Nacht!
Der Großstadt lautes Reich
durchwandert ungehört
der dunkle Fluß.
Sein stilles Antlitz
weiß um tausend Sterne.

Und deine Seele, Menschenkind?

Ward sie nicht Spiel und Spiegel
irrer Funken,
die gestern wurden,
morgen zu vergehn, –
verlorst
in deiner kleinen Lust und Pein
du nicht das Firmament,
darin du wohnst, –
hast du dich selber nicht
vergessen,
Mensch,
und weiß dein Antlitz noch
um Ewigkeit?

(Christian Morgenstern, Inmitten der großen Stadt, aus: Ich und die Welt, 1898/1911, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

 

Ich weiß nicht, ob bei euch schon wieder die Sonne angekommen ist: hier eher nicht. Immerhin gab es gestern und vorgestern ziemlich viel Sonniges, es wurde aber unterbrochen von prasselnden Regenschauern, die gar nichts Freundliches hatten. Allerdings wird es langsam wärmer, und der Fellträger meint, dass er das sehr schätzt, alte Knochen und so.

Kommt gut und heil und heiter in und durch die neue Woche!

 

 

 

30 Kommentare zu “Von Flusseinsamkeit

  1. Danke, danke und danke für deine Gedichtauswahl, liebe Christiane. Besonders der Morgenstern trifft heute eine Saite in mir, die schon bei der Morgenmeditation anschlug, hell und stark:
    .“…verlorst in deiner kleinen Lust und Pein du nicht das Firmament, darin du wohnst, –“
    Und ich kann sagen: Nein, ich habs nicht verloren. Dieselbe Einsicht wünsche ich auch dir! Und eine gute Woche!

    Gefällt 4 Personen

    • Danke dir, liebe Gerda, das freut mich sehr. Nein, ich habs auch nicht verloren, aber an manchen Tagen scheint es ferner als an anderen …
      Auch dir eine gute Woche! 🌳⛵
      Mittagskaffeegrüße 🌦️🌳🎶☕🍪

      Gefällt 3 Personen

  2. Nur die Liebe hinterlässt eine Spur … ja, das tut sie und damit meine ich nicht diese ‚gängige‘ Mann-Frau-Liebe, sondern die universelle.
    Liebe Christiane, ich danke dir für deine feine Auswahl, da geht mir jedes Gedicht ganz nah.
    Herzliche Grüße, Ulli

    Gefällt 3 Personen

    • Ja, genau, da bin ich völlig deiner deiner Meinung. Ich glaube, dass Dauthendey das wusste, liebe Ulli, obwohl er sein Herz in so unendlich vielen Gedichten seiner Frau zu Füßen legt …
      Sei ganz herzlich gegrüßt 🧡💐

      Gefällt 2 Personen

  3. Ich lese zu wenig Rilke … er ist ein Herzensdichter von mir, und zum Glück habe ich deinen Blog, um mich daran zu erinnern. Ich war wiederum völlig weg vom letzten: „dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen …“ Es geht kaum ausdruckstärker für mich. Ich denke, ich lese bald den Laurids Brigge, und dann noch anderes. Ich verliere mich dann sehr schnell in diesen Sphären – und es fällt mir dann schwer, Gegenwartsliteratur zu explorieren. Danke für diesen schönen Start in die Woche! Und dem Fellträger sei Sonne gegönnt, schönes, vitales schnurriges Glitzern im Fell, ein wenig Zwitschern zur Aufregung!

    Gefällt 1 Person

    • Solche Sätze sind Fundstücke, wie kostbare Steine, die man zufällig entdeckt, ja, und Rilke ist außerordentlich gut darin. Ich finde es schwierig, mich dem Malte anzunähern, solltest du es tun, bin ich auf dein Ergebnis gespannt.
      Der Fellträger schläft jetzt bevorzugt draußen auf seiner Bank, solange das Wetter okay ist und die Marder nicht unterwegs sind. Am Wochenende lag mal wieder eine tote Maus vor der Tür. Was habe ich ihn gefeiert! 😉
      Danke und dir einen schönen Abend!
      Abendgrüße mit Regenschauer 🌦️🌳🎶🍷🍪

      Gefällt 2 Personen

      • Ach wie toll! Er mausert noch! Das ist doch ein wonniges Zeichen. Ja, ich werde vom Malte berichten, ich gebe mir alle Mühe auszudrücken, was ich daran so besonders finde/fand – ich habe es dreimal gelesen und immer wieder für ein Leseereignis befunden. Euch auch einen schönen Abend!!

        Gefällt 1 Person

  4. Ein schönstes oder auch bestes gibt es in Deiner Auswahl nicht, liebe Christiane.
    Sie sind alle ganz wundervoll und Rilkes Einsamkeit kenne ich ja aus dem Rilke-Projekt so gut, daß ich es leise höre, während ich es doch *nur* lese…

    Eine irre gute Auswahl. Jedes der vier bewegt und läßt mein Herz für die Lyrik freudig hüpfen … 🙂

    Liebe Grüße in die Nacht von Bruni
    PS Was macht eigentlich Dein Knöchel?

    Gefällt 1 Person

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