Von Kuckuck und Mai (2)

Kuckuck

Sie hat den Kuckuck gefragt:
Kuckuck, wie lang noch?
Dreimal rief er und schwieg.
Sie harrte bang noch –

Still war der Wald. Ins Tal
sah sie befangen.
Über die Sonne sind
Wolken gegangen …

(Richard von Schaukal, Kuckuck, aus: Gedichte (1918), Online-Quelle)

 

Von allen Zweigen perlt der goldne Schaum

Von allen Zweigen perlt der goldne Schaum,
Auf allen Bäumen flammen Blütenbrände,
Unzählbar lacht der Kuckuck durch den Raum.
Frag ich ihn bang nach meines Lebens Ende.
Es blüht und lebt bis an der Erde Saum,
Wird blühn und leben, singt er, ohne Wende,
Als wäre Frühling nicht ein kurzer Traum.
Auch du bist ewig! Spare nicht, verschwende!

(Ricarda Huch, Von allen Zweigen perlt der goldne Schaum, aus: Herbstfeuer. Gedichte, Insel Verlag zu Leipzig 1944, Online-Quelle)

 

ABSCHIED

Wie hab ich das gefühlt was Abschied heißt.
Wie weiß ich’s noch: ein dunkles unverwundnes
grausames Etwas, das ein Schönverbundnes
noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.

Wie war ich ohne Wehr dem zuzuschauen
das, da es mich, mich rufend, gehen ließ,
zurückblieb, so als wären’s alle Frauen
und dennoch klein und weiß und nichts als dies:

Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen,
ein leise Weiterwinkendes —, schon kaum
erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum,
von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.

(Rainer Maria Rilke, Abschied, aus: Neue Gedichte, 1907, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Gestern Abend war es feucht und kühl, aber als ich meine abendliche Runde antrat, hörte ich am Teich den ersten Kuckuck dieses Jahres, laut, klar, deutlich und viele Rufe. Ein guter Anlass, euch noch mal ein paar Kuckuck-Gedichte – keine Kuckucksgedichte 😉 – vorzustellen …

Was für Kuckucksrufbräuche kennt ihr? Kennt ihr das, worauf die Gedichte abheben, dass die Anzahl der Kuckucksrufe die verbleibenden Lebensjahre angibt? Das habe ich von meiner Mutter gelernt, und hier oben hat man mir erklärt, man müsse den Geldbeutel oder eine Münze reiben, wenn man einen Kuckuck hört, das brächte Glück (Geld) …

Kommt alle gut, heiter und gesund in und durch die neue Woche!

Hier ist nächstes Wochenende Hafengeburtstag, ich hoffe, das Wetter spielt mit …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Von Angsthaben und Liebe

Angst packt mich an

Angst packt mich an.
Denn ich ahne, es nahen Tage
Voll großer Klage.
Komm du, komm her zu mir! –
Wenn die Blätter im Herbst ersterben,
Und sich die Flüsse trüber färben,
Und sich die Wolken ineinander schieben
Dann komm, du, komm!
Schütze mich –
Stütze mich –
Faß meine Hand an.
Hilf mir lieben!

(Erich Mühsam, Angst packt mich an, aus: Die Wüste. 1898–1903, Online-Quelle)

Alle handeln wie die Herzen müssen

Meine Ohren horchen in die Nacht,
Wie der Regen seinen Tanzschritt macht.
Ruhe, eine der uralten Ammen,
Singt ihr Lied mit Dunkelheit zusammen,
Und der Regen tanzt auf flinken Füßen.
Alle handeln wie die Herzen müssen,
Alle wandeln frisch und unverfroren.
Nur die Liebe wird mit Angst geboren,
Nur der Sehnsucht ruhen nie die Ohren.

(Max Dauthendey, Alle handeln wie die Herzen müssen, in: Der weiße Schlaf, aus: Gesammelte Gedichte und kleinere Versdichtungen, Albert Langen, München 1930, S. 445)

Erinnerung

Und du wartest erwartest das Eine,
das dein Leben unendlich vermehrt;
das Mächtige, Ungemeine,
das Erwachen der Steine,
Tiefen, dir zugekehrt.

Es dämmern im Bücherständer
die Bände in Gold und Braun;
und du denkst an durchfahrene Länder,
an Bilder, an die Gewänder
wiederverlorener Fraun.

Und da weißt du auf einmal: das war es.
Du erhebst dich und vor dir steht
eines vergangenen Jahres
Angst und Gestalt und Gebet.

(Rainer Maria Rilke, Erinnerung, aus: Das Buch der Bilder, 1. Buch Teil 2, zweite sehr vermehrte Auflage, 1906, Online-Quelle)


 


Quelle: Pixabay

Ich mag die Aussage sehr, dass Liebe bei Angst hilft, weil mensch damit sein Herz vorwärts wirft, in eine positiv gedachte/erhoffte Zukunft. Ich bin überzeugt, dass das nicht nur für eine Beziehung im engeren Sinne gilt.
Ich frage mich, an wen Mühsam das Gedicht adressiert hat …

Ja, dem Fellträger geht es so weit wieder gut, aber er muss noch mal Blut lassen, so ca. in zwei bis drei Wochen, und DAS ist die Stunde der Wahrheit. Aber bis dahin schnurrt er sich so durch. Hoffentlich.

Kommt gut in und durch die neue Woche, die wieder auch bei uns recht kühl ausfallen soll, bleibt gesund und seid heiter … 😉

 

 

 

 

Vom Frühling im April

Frühlings-Seufzer

Großer Gott, in dieser Pracht
Seh’ ich Deine Wunder-Macht
Mit vergnüg’ter Seelen an.
Es gereiche dir zu Ehren,
Daß ich sehen, daß ich hören,
Fühlen, schmecken, riechen, kann!

(Barthold Hinrich Brockes, Frühlings-Seufzer, aus: Irdisches Vergnügen in Gott, Zweyter Theil, 1739, Online-Quelle)

April

Das ist die Drossel, die da schlägt,
Der Frühling, der mein Herz bewegt;
Ich fühle, die sich hold bezeigen,
Die Geister aus der Erde steigen.
Das Leben fließet wie ein Traum –
Mir ist wie Blume, Blatt und Baum.

(Theodor Storm, April, aus: Gedichte (Ausgabe 1885), entstanden 1853, Online-Quelle)

April.

Wie der Südwind pfeift,
In den Dornbusch greift,
Der vor unserm Fenster sprießt.
Wie der Regen stürzt
Und den Garten würzt
Und den ersten Frühling gießt!

Plötzlich säumt der Wind,
Und der Regen rinnt
Spärlich aus dem Wolkensieb.
Und die Mühle dreht
Langsam sich und steht,
Die noch eben mächtig trieb.

Schießt ein Sonnenblick
Über Feld und Knick,
Wie der Blitz vom Goldhelm huscht
Und auf Baum und Gras
Schnell im Tropfennaß
Tausend Silbertüpfel tuscht.

Wieder dann der Süd,
Immer noch nicht müd,
Zornt die Welt gewaltig an.
Und der Regen rauscht,
Und der Garten lauscht
Demütig dem wilden Mann.

Meiner Schulter dicht
Lehnt dein hold Gesicht,
Schaut ins Wetter still hinein.
Kennst das alte Wort,
Ewig währt es fort:
Regen tauscht und Sonnenschein.

(Detlev von Liliencron, April, aus: Liliencrons Gedichte. Auswahl für die Jugend. Zusammengestellt von der Lehrervereinigung zur Pflege der künstlerischen Bildung in Hamburg, 1901, Online-Quelle)

Aus einem April

Wieder duftet der Wald.
Es heben die schwebenden Lerchen
mit sich den Himmel empor, der unseren Schultern schwer war;
zwar sah man noch durch die Aeste den Tag, wie er leer war, –
aber nach langen, regnenden Nachmittagen
kommen die goldübersonnten
neueren Stunden,
vor denen flüchtend an fernen Häuserfronten
alle die wunden
Fenster furchtsam mit Flügeln schlagen.

Dann wird es still. Sogar der Regen geht leiser
über der Steine ruhig dunkelnden Glanz.
Alle Geräusche ducken sich ganz
in die glänzenden Knospen der Reiser.

(Rainer Maria Rilke, Aus einem April, aus: Das Buch der Bilder, 1. Buch, Teil 1, 1906, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Ich glaube, im Moment muss bei mir immer bisschen Rilke sein. Das ist der „Sound“ einzelner Sätze, der bei mir hängen bleibt … „Dann wird es still. Sogar der Regen geht leiser über der Steine ruhig dunkelnden Glanz. Alle Geräusche ducken sich ganz …“

Kommt gut, gesund und heiter in und durch die neue Woche, möge sie warm sein oder kühl, sonnig oder regnerisch … 😉

 

Vom Frühlingsregen

Frühlingsregen

Regne, regne, Frühlingsregen,
weine durch die stille Nacht!
Schlummer liegt auf allen Wegen,
nur dein treuer Dichter wacht …

lauscht dem leisen, warmen Rinnen
aus dem dunklen Himmelsdom,
und es löst in ihm tiefinnen
selber sich ein heißer Strom,

läßt sich halten nicht und hegen,
quillt heraus in sanfter Macht …
Ahndevoll auf stillen Wegen
geht der Frühling durch die Nacht.

(Christian Morgenstern, Frühlingsregen, aus: Ich und die Welt, 1898, Online-Quelle)

[Es kommt der Regen des Frühlings]

Es kommt der Regen des Frühlings
Und bringt den Segen des Frühlings,
Die Blumen stehen und warten
An allen Stegen des Frühlings.
Und Düfte streuen die Lüfte
Auf allen Wegen des Frühlings.
Doch mein Gemüth ist beklommen
In Kummer wegen des Frühlings,
Wie ich soll feiern die Feier,
Ich bin verlegen, des Frühlings?
Mir ist im Froste des Winters
Die Lust erlegen des Frühlings.
Bis euch, ihr Blumen, die blühtet
In Lustgehegen des Frühlings,
Mir neu anreget zu blühen
Ein Hauch allregendes Frühlings;
Hab’ ich, ein trauriger Gärtner,
Das Grab zu pflegen des Frühlings.

(Friedrich Rückert, Es kommt der Regen des Frühlings, aus: Winter und Frühling, in: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, entstanden 1833-1834, Online-Quelle)

[In tiefen Nächten grab ich dich, du Schatz]

In tiefen Nächten grab ich dich, du Schatz.
Denn alle Überflüsse, die ich sah,
sind Armut und armseliger Ersatz
für deine Schönheit, die noch nie geschah.

Aber der Weg zu dir ist furchtbar weit
und, weil ihn lange keiner ging, verweht.
O, du bist einsam. Du bist Einsamkeit,
du Herz, das zu entfernten Talen geht.

Und meine Hände, welche blutig sind
vom Graben, heb ich offen in den Wind,
so daß sie sich verzweigen wie ein Baum.
Ich sauge dich mit ihnen aus dem Raum,
als hättest du dich einmal dort zerschellt
in einer ungeduldigen Gebärde
und fielest jetzt, eine zerstäubte Welt,
aus fernen Sternen wieder auf die Erde
sanft, wie ein Frühlingsregen fällt.

(Rainer Maria Rilke, In tiefen Nächten grab ich dich, du Schatz, aus: Das Buch von der Pilgerschaft, in: Das Stunden-Buch, 1901, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Okay, ich gebe es zu: Der Rilke passt eigentlich auch für mein Gefühl nicht rein. Aber ich habe die beiden Zeilen „Aber der Weg zu dir ist furchtbar weit | und, weil ihn lange keiner ging, verweht“ SO lange für „zugeschrieben“ gehalten (keine Ahnung warum, vielleicht war das Stundenbuch noch nicht digitalisiert, als ich danach gesucht habe, und/oder ich hatte zu oberflächlich gelesen – vielleicht habe ich es auch gewusst und einfach wieder vergessen), dass ich es jetzt sozusagen öffentlich abspeichern wollte. Seht es mir bitte nach.

Ansonsten wünsche ich euch einen guten, heiteren und gesunden Start in die vorösterliche Woche! Kommt gut rein, durch und wieder raus! 😉

 

Vom Vorfrühling (4)

XXV

Schon, horch, hörst du der ersten Harken
Arbeit; wieder den menschlichen Takt
in der verhaltenen Stille der starken
Vorfrühlingserde. Unabgeschmackt

scheint dir das Kommende. Jenes so oft
dir schon Gekommene scheint dir zu kommen
wieder wie Neues. Immer erhofft,
nahmst du es niemals. Es hat dich genommen.

Selbst die Blätter durchwinterter Eichen
scheinen im Abend ein künftiges Braun.
Manchmal geben sich Lüfte ein Zeichen.

Schwarz sind die Sträucher. Doch Haufen von Dünger
lagern als satteres Schwarz in den Aun.
Jede Stunde, die hingeht, wird jünger.

(Rainer Maria Rilke, XXV [Schon, horch, hörst du der ersten Harken], aus: Sonette an Orpheus, Zweiter Teil, entstanden 19./23.2.1922 in Muzot, Online-Quelle)

Vorfrühling

Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,

greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.

(Rainer Maria Rilke, Vorfrühling, In: Die Gedichte 1922 bis 1926 (Muzot, etwa 20. Februar 1924), Online-Quelle)

Frühling.

Frühling.
Ein erstes Blühen
In zarten Frühen,
Vom Himmelssaum
Ein Stern noch schaut.
Ein Lercheschlag
Im stillen Raum,
Weit vor Tag
Und sonst kein Laut.
O Liebe.

(Georg Heym, Frühling, aus: Frühwerk, in: Georg Heym, Dichtungen und Schriften, Gesamtausgabe, Band 1: Lyrik, Verlag Heinrich Ellermann 1964, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Ich komme von meiner Rilke-Lektüre nicht los, Rilke fasziniert mich – sein Vorfrühling-Gedicht habe ich schon vorher geliebt. Außerdem habe ich das schöne und warme Wetter des Wochenendes genutzt, um viel draußen zu sein: Ich habe die ersten Spechte gehört und Haubentaucher hochzeiten gesehen und, ich schwör’, das erste Grillfleisch draußen gerochen. Und die ersten Bäume werden grün. Da kommt auch die Androhung, dass die Nachttemperaturen noch mal auf den Gefrierpunkt fallen werden, nicht gegen an. Sogar der Fellträger will länger raus.

Kommt ihr heil, gesund und heiter in und durch die nächste Woche, ja? Ich zähl auf euch, wenn schon die Welt spinnt …

 

Von Musik

Übung am Klavier

Der Sommer summt. Der Nachmittag macht müde;
sie atmete verwirrt ihr frisches Kleid
und legte in die triftige Etüde
die Ungeduld nach einer Wirklichkeit,

die kommen konnte: morgen, heute abend –,
die vielleicht da war, die man nur verbarg;
und vor den Fenstern, hoch und alles habend,
empfand sie plötzlich den verwöhnten Park.

Da brach sie ab; schaute hinaus, verschränkte
die Hände; wünschte sich ein langes Buch –
und schob auf einmal den Jasmingeruch
erzürnt zurück. Sie fand, daß er sie kränkte.

(Rainer Maria Rilke, Übung am Klavier, aus: Der neuen Gedichte anderer Teil, entstanden Paris, Herbst 1907, oder Capri, Frühsommer 1908, Online-Quelle)

Liebes-Lied

Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

(Rainer Maria Rilke, Liebes-Lied, aus: Neue Gedichte, entstanden Capri, Mitte März 1907, Online-Quelle)

An die Musik

Musik: Atem der Statuen, vielleicht:
Stille der Bilder. Du Sprache, wo Sprachen
enden, du Zeit,
die senkrecht steht auf der Richtung vergehender Herzen.

Gefühle zu wem? O du der Gefühle
Wandlung in was? –: in hörbare Landschaft.
Du Fremde: Musik. Du uns entwachsener
Herzraum. Innigstes unser,
das, uns übersteigend, hinausdrängt —,
heiliger Abschied:
da uns das Innre umsteht
als geübteste Ferne, als andre
Seite der Luft,
rein,
riesig,
nicht mehr bewohnbar.

(Rainer Maria Rilke, An die Musik, Zueignung an Hanna Wolff, entstanden München 11./12.01.1918, Online-Quelle und Interpretation)


Quelle: Pixabay

Wer Zeit hat, dem empfehle ich unbedingt ein Video:

Die Vertonung von »Liebes-Lied«, gesungen von Frida Gold und Cassandra Steen für das Rilke-Projekt. Die beiden geben dem Gedicht eine ganz einzigartige Klangfarbe und bezaubern mich jedes Mal, wenn ich sie höre –> hier klicken (YouTube).

Ich stecke immer noch in meiner Lektüre der neuen Rilke-Biographie »Rilke – Der ferne Magier« (Gunnar Decker). Nicht immer einfach, aber was ich unglaublich wohltuend finde, ist die wohlwollende Sachlichkeit, mit der der Biograph seinem Subjekt begegnet, der menschlich ja nun durchaus kein Halbgott war, wie man weiß. Decker bringt seinen Lesern Rilke näher, ohne ihn zu denunzieren, und kann als Religionswissenschaftler einiges zum Thema »Rilke und Gott« anders beleuchten, als ich bisher gelesen habe, und es sagt mir sehr zu.  Ich bin jetzt endlich in Duino angelangt – ich habe die Duineser Elegien noch nie verstanden (die Frage ist, was man verstehen kann und was man fühlen muss) – und bin sehr gespannt, was ich mitnehmen kann.

Kommt gut in eine gute (heitere) und gesunde neue Woche!

 

Von Sehnsüchten

Das Karussell

Jardin du Luxembourg

Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile der Bestand
von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser roter Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elefant.

Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
nur daß er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.

Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
und hält sich mit der kleinen heißen Hand,
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgendwohin, herüber –

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und das geht hin und eilt sich, daß es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil –.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel…

(Rainer Maria Rilke, Das Karussell, aus: Neue Gedichte, entstanden Paris im Juni 1906, Online-Quelle)

Der Panther

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

(Rainer Maria Rilke, Der Panther, aus: Neue Gedichte, entstanden Paris 1903, evtl. Ende 1902, Online-Quelle)

Archaïscher Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

(Rainer Maria Rilke, Archaïscher Torso Apollos, aus: Der neuen Gedichte anderer Teil, entstanden Paris im Frühsommer 1908, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Ich liebe es, euch Gedichte zu präsentieren, die man nicht jeden Tag liest, das dürfte euch aufgefallen sein. Aber was ist mit den anderen, die „man“ kennt, weil sie (gefühlt?) zum Kanon des jeweiligen Dichters gehören? „Kennt“ man die wirklich? Ich jedenfalls habe mit Erstaunen bemerkt, dass sich bisher in den Montagsgedichten weder der „Panther“ noch das „Karussell“ befunden haben, und mein erster Eintrag zu „Archaischer Torso Apollos“ ist auch sehr alt – da gab es die Montagsgedichte noch nicht.

Meine Entscheidung für Rilke ist natürlich auch darin begründet, dass ich zurzeit die neue Biographie von Gunnar Decker lese (Rilke – Der ferne Magier; das ist Info, keine Schleichwerbung), und mir Rilke dadurch gerade Näher gerückt ist. Empfehlenswert, aber keine leichte Kost – bloß: ist das Rilke je? 😉

Kommt gut und heiter und gesund in und durch die neue Woche!

 

Von Dämmerungen

Stimmungsbild

Graue Dämmerungen hangen
überm weiten Wiesenplan, –
müd, mit rotgelaufnen Wangen
kommt der Tag im Westen an.

Atemlos dort sinkt er nieder
hinter Hängen goldumsäumt,
seine lichtermatten Lider
fallen mählich zu. – Er träumt. –

Träumt manch sonnig Traumgebilde.
Leis vom Himmel schwebt dahin
jetzt die Nacht und neigt sich milde,
Sterne lächelnd über ihn …

(Rainer Maria Rilke, Stimmungsbild, gedruckt am 30.11.1894, Beleg (S. 15), Online-Quelle)

Dämmerung in der Stadt

Der Abend spricht mit lindem
Schmeichelwort die Gassen
In Schlummer und der Süße
alter Wiegenlieder,
Die Dämmerung hat breit
mit hüllendem Gefieder
Ein Riesenvogel sich
auf blaue Firste hingelassen.

Nun hat das Dunkel von den Fenstern
allen Glanz gerissen,
Die eben noch beströmt
wie veilchenfarbne Spiegel standen,
Die Häuser sind im Grau,
durch das die ersten Lichter branden
Wie Rümpfe großer Schiffe,
die im Meer die Nachtsignale hissen.

In späten Himmel tauchen Türme
zart und ohne Schwere,
Die Ufer hütend,
die im Schoß der kühlen Schatten schlafen,
Nun schwimmt die Nacht
auf dunkel starrender Galeere
Mit schwarzem Segel
lautlos in den lichtgepflügten Hafen.

(Ernst Stadler, Dämmerung in der Stadt, 1911, Erstdruck in: Das neue Elsaß. Jg. 1, Nr. 4, 20. Januar 1911, Online-Quelle)

Wo aber fliegen die Abendvögel hin?

Die Tauben schlummern im Hause:
Wo aber fliegen die Abendvögel hin?
Der Wasserfall dämpft sein Gebrause:
Wo aber rinnen die Bäche hin?
Friedlich wurzelt der Rauch auf den Dächern:
Wo aber strömt das Nachtgewölk hin?
Lichter stehen in tausend Gemächern:
Wo aber sinken die Sterne hin?
Immer indem wir liegen und schlafen
Lösen sich Schiffe dunkel vom Hafen.

(Albin Zollinger, Wo aber fliegen die Abendvögel hin?, aus: Gedichte, 1933. Beleg, Online-Quelle)




Quelle: Pixabay

Das Wetter sollte überall milde sein in diesen Tagen, vielleicht sogar schon ungewöhnlich mild, heißt es – Hamburg ist irgendwo in der Mitte. Das oben ist eine Hamburger Elbestimmung, ich bin mir aber nicht sicher, wo …

 

Vom Wünschen

Der Abend kommt von weit gegangen

Der Abend kommt von weit gegangen
durch den verschneiten, leisen Tann.
Dann preßt er seine Winterwangen
an alle Fenster lauschend an.

Und stille wird ein jedes Haus;
die Alten in den Sesseln sinnen,
die Mütter sind wie Königinnen,
die Kinder wollen nicht beginnen
mit ihrem Spiel. Die Mägde spinnen
nicht mehr. Der Abend horcht nach innen,
und innen horchen sie hinaus.

(Rainer Maria Rilke, Der Abend kommt von weit gegangen, aus: Erste Gedichte/Gaben an verschiedene Freunde, Insel 1913, Online-Quelle)

Barbarazweige

Am Barbaratage holt’ ich
Drei Zweiglein vom Kirschenbaum
Die setzt’ ich in eine Schale:
Drei Wünsche sprach ich im Traum.

Der erste, daß einer mich werbe,
Der zweite, daß er noch jung,
Der dritte, daß er auch habe
Des Geldes wohl genung.

Weihnachten vor der Mette
Zwei Stöcklein blühten zur Frist. –
Ich weiß einen armen Gesellen,
Den nehm’ ich, wie er ist.

(Martin Greif (eigentl. Friedrich Hermann Frey), Barbarazweige, aus: Gesammelte Werke, Bd. 1 Gedichte, 1895, Online-Quelle)

Bettellied/Christmas is coming

Weihnacht kommt näher
Die Gänse werden fetter
Gebt einen Groschen
Dem armen, alten Bettler!

Habt ihr keinen Groschen
Ein halber tuts zur Not
Und wenn ihr keinen halben habt
Dann helf euch Gott!

(Christmas is coming, altenglisch, Online-Quelle)


Ich zitiere mich mal selbst: In die Zeit, als ich noch viel Sting gehört habe, fiel auch seine Weihnachtsplatte »If on a Winter’s Night«, die ich sehr mochte und immer noch höre. Darauf befindet sich ein Stück namens »Soul Cake«, das ich euch unten eingebunden habe, welches obigen Text enthält (die zweite Strophe).

Interessant finde ich den Wikipedia-Eintrag zu den Soul Cakes als Halloween-Tradition (hier lesen). Die Quellen des Liedes reichen zurück bis ins Jahr 1891/3, wobei Sting sich wohl wirklich Peter, Paul & Mary angeschlossen hat, denn er gibt deren Quelle bei sich ebenfalls an (im Original steht nicht »Till Christmas Time« (was Sting singt), sondern »Till this time« (Quelle: englische Wikipedia zu Soul Cake). Die englische Wikipedia weiß aber auch, dass schon 1893 Zeilen aus Weihnachtsliedern vorkamen (unter anderem obiges »Christmas is coming«, womit sich der Kreis schließt). Insgesamt ist der englische Beitrag zum Thema erheblich detailreicher und exakter, falls es euch interessiert und ihr des Englischen mächtig seid, lest den.

Wie ich beim Herumsuchen entdeckt habe, gibt es viele schöne Versionen dieses Liedes auf YT (nicht nur von Sting oder Peter, Paul & Mary), sollte es euch gefallen, wünsche ich euch viel Spaß beim Hören!

Dies soll wie immer die heutige Adventüde unterstützen und ergänzen. Kommt (diese Woche besonders) gut in und durch die neue Woche, und seid versichert, dass die Adventüden an Zauberhaftigkeit nicht nachlassen 😉

TRENNER

Sting, Soul Cake

 

Von Astern und Verfall

Herbst

Astern blühen schon im Garten,
Schwächer trifft der Sonnenpfeil
Blumen, die den Tod erwarten
Durch des Frostes Henkerbeil.

Brauner dunkelt längst die Heide,
Blätter zittern durch die Luft.
Und es liegen Wald und Weide
Unbewegt im blauen Duft.

Pfirsich an der Gartenmauer,
Kranich auf der Winterflucht.
Herbstes Freuden, Herbstes Trauer,
Welke Rosen, reife Frucht.

(Detlev von Liliencron, Herbst, aus: Adjutantenritte und andere Gedichte, Leipzig, 1883, Online-Quelle)

Verfall

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,
Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

(Georg Trakl, Verfall, aus: Gedichte (1913), Online-Quelle)

[Fürchte dich nicht]

Fürchte dich nicht, sind die Astern auch alt,
streut der Sturm auch den welkenden Wald
in den Gleichmut des Sees, –
die Schönheit wächst aus der engen Gestalt;
sie wurde reif, und mit milder Gewalt
zerbricht sie das alte Gefäß.

Sie kommt aus den Bäumen
in mich und in dich,
nicht um zu ruhn;
der Sommer ward ihr zu feierlich.
Aus vollen Früchten flüchtet sie sich
und steigt aus betäubenden Träumen
arm ins tägliche Tun.

(Rainer Maria Rilke, Fürchte dich nicht, aus: Die frühen Gedichte, 2. Auflage 1909, stark überarbeitete Ausgabe von »Mir zur Feier« von Dez. 1899, Entstehungsdatum verm. 1900, Online-Quelle)



Quelle: Pixabay

Wir haben eh verspätete Jahreszeiten, also jetzt auch verspätete Astern 😉 …
Kommt heil, gesund und hoffnungsfroh in und durch die neue Woche!

Weihnachten wirft seine Schatten voraus! Die Termine für eure Adventüden sind raus, schaut bitte mal in eure Mailpostfächer, so ihr noch nicht habt!

Ach, hat jemand von euch Ahnung von Nierenproblemen (CNI) bei Katzen (ja, diagnostiziert, wir sind in der Futterumstellung) und von Arthrose (vermutet, weitere Untersuchungen stehen noch aus, Tabletten) – und wie man offensichtlich auftretende Schmerzen richtig zuordnet? Man kann ihn ja nicht fragen …

Er ist ziemlich sicher 13 und ein Maine-Coon-Mix (Fundkatze), ich hatte gehofft, wir hätten damit noch laaaange Zeit, und ich möchte mich so schlau wie möglich machen, denn ich weiß kaum was.

 

Vom Herbstgefühl (3)

Regentag im Herbst

Still vom grauen Himmelsgrunde
Sprüht der sanfte Regenstaub –
Trüber Tag und trübe Stunde –
Thränen weint das rothe Laub;
Vom Kastanienbaum ohn’ Ende
Schweben still die welken Hände.

Trübe Herbstesregentage:
Gerne wandr’ ich dann allein,
Was ich tief im Herzen trage,
Leuchtet mir in hellem Schein;
In die grauen Nebelräume
Spinn’ ich meine goldnen Träume.

Und so träum’ ich still im Wachen,
Bis der Abend niedersinkt,
Und in all den Regenlachen
Sanft und roth sein Abglanz blinkt.
In der Nähe, in den Weiten:
Rosenschimmer bessrer Zeiten!

(Heinrich Seidel, Regentag im Herbst, aus: Neues Glockenspiel, 1893, Online-Quelle)

Jetzt ist es Herbst

Jetzt ist es Herbst,
Die Welt ward weit,
Die Berge öffnen ihre Arme
Und reichen dir Unendlichkeit.

Kein Wunsch, kein Wuchs ist mehr im Laub,
Die Bäume sehen in den Staub,
Sie lauschen auf den Schritt der Zeit,
Jetzt ist es Herbst, das Herz ward weit.

Das Herz, das viel gewandert ist,
Das sich verjüngt mit Lust und List,
Das Herz muß gleich den Bäumen lauschen
Und Blicke mit dem Staube tauschen.
Es hat geküßt, ahnt seine Frist,
Das Laub fällt hin, das Herz vergißt.

(Max Dauthendey, Jetzt ist es Herbst, aus: Weltspuk, in: Gesammelte Gedichte und kleinere Versdichtungen, Albert Langen, München 1930, S. 363)

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg Deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern wenn die Blätter treiben.

(Rainer Maria Rilke, Herbsttag, aus: Das Buch der Bilder, 1. Buch Teil 2, S. 48, 1902 (Entstehungsdatum), Online-Quelle)



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Es wird euch nicht weiter wundern, dass ich heute Rilke zitiere, nachdem er gestern schon über meiner Etüde schwebte: Einmal im Jahr darf ich!

Kommt heil und heiter in und durch die neue Woche!

 

Von Seelen, Liebenden und Ahnungen

Einem, der vorübergeht

Du hast mich an Dinge gemahnet,
Die heimlich in mir sind,
Du warst für die Saiten der Seele
Der nächtige flüsternde Wind

Und wie das rätselhafte,
Das Rufen der atmenden Nacht,
Wenn draußen die Wolken gleiten
Und man aus dem Traum erwacht,

Zu blauer weicher Weite
Die enge Nähe schwillt,
Durch Zweige vor dem Monde
Ein leises Zittern quillt.

(Hugo von Hofmannsthal, Einem, der vorübergeht, aus: Die Gedichte 1891–1898, Online-Quelle)

Seele der Liebenden

Einmal schon liebte ich dich
Und das Meer, das Meer.
Doch lichter waren damals
Die Seelen, ungetrübt
Von dunklen Taten.
Es sangen unsere Liebe
Strahlend die Sterne,
Und das Meer, das Meer.
Wieviel hundert Jahre
Sind seitdem vergangen,
Wieviel Leiden und Tode
Und Sterne. Wo blieben
Die Seelen so lange?
Wir halten uns schweigend
Die schauernden Hände.
Wir blicken uns tief
In die fragenden Augen.
Noch singen die Sterne
Und das Meer, das Meer.
Aber unfaßbar ewig
Ist die Vergangenheit
Der menschlichen Seele.

(Francisca Stoecklin, Seele der Liebenden, aus: Lyrik und Prosa, Hrsg. Beatrice Mall-Grob, Online-Quelle)

[Jetzt gehn die Lüfte manchesmal als trügen]

Jetzt gehn die Lüfte manchesmal als trügen
sie unsichtbar ein Schweres welches schwankt.
Wir aber müssen uns mit dem begnügen
was sichtbar ist.   So sehr es uns verlangt

hinauszugreifen über Tag und Dasein
in jenes Wehen voller Wiederkehr.
Wie kann ein Fernes so unendlich nah sein
und doch nicht näher kommen?   Nicht bis her?

Das war schon einmal so.   Nur damals war
es nicht ein zögerndes im Wind gelöstes
Vorfrühlingsglück.   Vielleicht kann Allergrößtes
nicht näher bei uns sein, so wächst das Jahr.

So wächst die Seele, wenn die Jahreszeit
der Seele steigt.   Das alles sind nicht wir.
Von Fernem hingerissen sind wir hier
und auferzogen und zerstört von weit.

(Rainer Maria Rilke, Jetzt gehn die Lüfte manchesmal als trügen, (Capri, Anfang Februar 1907) aus: Rainer Maria Rilke, Gedichte 1906 bis 1926, Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren bis späteren Jahren, Insel-Verlag 1953, S. 491)



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Nein, ich versteh Rilke vom Kopf her auch nicht so wirklich, aber mein Herz schreit: ach … schöööön. Aber gerade über Rilke ist ja inzwischen so viel bekannt, dass es Spaß macht, sich hineinzuvertiefen, was er womit gemeint haben könnte. Hab beim Zusammentragen entdeckt, dass Stoecklin Rilke gekannt haben soll. Die Lücken im Rilke-Text (ich versuche es mit Leerzeichen) sind gewollt, aber mit WP und Formatierung ist das ja immer so eine Sache …

Kommt gut, heil und einigermaßen heiter in und durch die neue Woche!

 

Vom Regengefühl

VOR DEM SOMMERREGEN

Auf einmal ist aus allem Grün im Park
man weiß nicht was, ein Etwas, fortgenommen;
man fühlt ihn näher an die Fenster kommen
und schweigsam sein. Inständig nur und stark

ertönt aus dem Gehölz der Regenpfeifer,
man denkt an einen Hieronymus:
so sehr steigt irgend Einsamkeit und Eifer
aus dieser einen Stimme, die der Guß

erhören wird. Des Saales Wände sind
mit ihren Bildern von uns fortgetreten,
als dürften sie nicht hören was wir sagen.

Es spiegeln die verblichenen Tapeten
das ungewisse Licht von Nachmittagen,
in denen man sich fürchtete als Kind.

(Rainer Maria Rilke, Vor dem Sommerregen, entstanden in Paris, Anfang Juli 1906, aus: Neue Gedichte, 1907, Online-Quelle)

Wie nach dem Regen

Ich bin wie nach dem Regen
Der Stadtpark vor dem Haus.
Der Wind hat ausgekeucht,
Doch Bäum’ und Beete sind noch feucht
Und wiegen mir und hegen
Die schönsten Tropfen Regentaus. –

Ich bin so ganz voll Feuchtigkeit,
Voll nassem Grün und Regenglück,
Weil ich dich heut’ gesehn.
Darum möcht’ ich auch nah und weit
Und wohl ein gutes Gartenstück
In mir spazieren gehn.

(Franz Werfel, Wie nach dem Regen, aus: Der Weltfreund, 1920, Online-Quelle)

Nach einem Regentage

Schon hat der Herbst die Wege
Mit Blättern still bestreut.
Ich geh und überlege:
Ist vieles, was mich reut.

Es funkelt noch die Feuchte
Im dunstig schwachen Schein.
Ein schüchternes Geleuchte
Fängt sich das Dickicht ein.

Mit rauschendem Gerinne
Singt sich der Bach zu Tal.
Es schimmert ein Gespinne
An einem Sonnenstrahl.

Da schau ich von dem Hange
Hinüber und hinauf:
Mit meinen Blicken fange
Ich einen Vogel auf.

(Richard von Schaukal, Nach einem Regentage, aus: Buch der Seele, 1908, Online-Quelle)



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Letzten Samstag, als ich die Gedichte vorbereitet habe, hatte Hamburg einen Regentag. Wirklich – Regen von morgens bis abends fast ohne Pausen. Der ideale Tag zum Drinbleiben und Ausruhen und/oder lauter angenehme Dinge zu tun, ich weiß nicht, ob ihr das kennt und könnt. 😉

Und weil es mir gerade einfällt: Die meisten, ich ja auch, haben dieses Jahr kaum Schmetterlinge gesehen. Aber gibt es etwas, von dem ihr mehr gesehen habt als sonst? Hier waren es Hornissen, sehr friedlich, unglaublicher Sound 🙂
Außerdem müssen wir hier ein sagenhaft gutes Birnenjahr haben, ist das bei euch auch so?

Kommt jedenfalls gut und heiter und gesund in und durch die neue lange Woche!

 

Von Melancholie

In ein altes Stammbuch

Immer wieder kehrst du Melancholie,
O Sanftmut der einsamen Seele.
Zu Ende glüht ein goldener Tag.

Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige
Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn.
Siehe! es dämmert schon.

Wieder kehrt die Nacht und klagt ein Sterbliches
Und es leidet ein anderes mit.

Schaudernd unter herbstlichen Sternen
Neigt sich jährlich tiefer das Haupt.

(Georg Trakl, In ein altes Stammbuch, aus: Gedichte (Ausgabe 1913), Online-Quelle)

Dämmerung

Am Himmel steht der erste Stern,
Die Wesen wähnen Gott den Herrn,
Und Boote laufen sprachlos aus,
Ein Licht erscheint bei mir zu Haus.

Die Wogen steigen weiß empor,
Es kommt mir alles heilig vor.
Was zieht in mich bedeutsam ein?
Du sollst nicht immer traurig sein.

(Theodor Däubler, Dämmerung, aus: Das Sternenkind, 1916, Online-Quelle)

[Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden]

Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.

Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.

(Rainer Maria Rilke, Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden, 1899, in: Das Buch vom mönchischen Leben, aus: Das Stundenbuch, Online-Quelle)



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Das ist für mich die feine, melancholische Süße des Herbstes … das Feiern der Übergänge, das Bewusstsein des Einswerdens von Nacht und Tag … und die stille Fröhlichkeit …

Ihr könnt damit vielleicht nichts anfangen, vermutlich ist das auch gut so. Wie immer: Kommt auf jeden Fall gut in und durch die neue Woche!

 

Vom Herbstanfang

Das ist nicht Sommer mehr

Das ist nicht Sommer mehr, das ist September … Herbst:
diese großen weichen Wolken am Himmel, diese feinen weißen Spinnwebschleier in der Ferne und hinter den Gärten mit den Sonnenblumen der ringelnde Rauch aufglimmender Krautfeuer …
und diese süße weiche Müdigkeit und diese frohe ruhige Stille überall und trotzdem wieder diese frische, satte, erntefreudige, herbe Kraft …
das ist nicht Sommer … das ist Herbst!

(Cäsar Flaischlen, Das ist nicht Sommer mehr, in: Lieder und Tagebuchblätter, aus: Von Alltag und Sonne, 1897, Online-Quelle)

Septembertag

Dies ist des Herbstes leidvoll süße Klarheit,
die dich befreit, zugleich sie dich bedrängt;
wenn das kristallene Gewand der Wahrheit
sein kühler Geist um Wald und Berge hängt.

Dies ist des Herbstes leidvoll süße Klarheit …

(Christian Morgenstern, Septembertag, aus: Und aber ründet sich ein Kranz, 1902, Online-Quelle)

Jetzt reifen schon die roten Berberitzen

Jetzt reifen schon die roten Berberitzen,
alternde Astern atmen schwach im Beet.
Wer jetzt nicht reich ist, da der Sommer geht,
wird immer warten und sich nie besitzen.

Wer jetzt nicht seine Augen schließen kann,
gewiß, daß eine Fülle von Gesichten
in ihm nur wartet, bis die Nacht begann,
um sich in seinem Dunkel aufzurichten: –
der ist vergangen wie ein alter Mann.

Dem kommt nichts mehr, dem stößt kein Tag mehr zu,
und alles lügt ihn an, was ihm geschieht;
auch du, mein Gott. Und wie ein Stein bist du,
welcher ihn täglich in die Tiefe zieht.

(Rainer Maria Rilke, Jetzt reifen schon die roten Berberitzen, aus: Das Stundenbuch/Das Buch von der Pilgerschaft, 1901, Online-Quelle)



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Es ist Herbst, jetzt auch kalendarisch, nicht nur meteorologisch. Und pünktlich zum Herbstanfang habe ich am Samstag und am Sonntag ein Tagpfauenauge (dasselbe?) entdeckt, gaukelnd durch den sonnenbeschienenen Garten … ich habe mich sehr gefreut. Ich weiß nicht, wie es euch damit geht, aber ich hatte hier den Sommer über öfer mal ein paar Kohlweißlinge, vielleicht auch noch Zitronenfalter, aber braune Falter eigentlich nicht. NICHT!!! Keine Tagpfauenaugen, keine Kleinen Füchse, keine Admirale, um die normalerweise häufigsten zu nennen. Und auch nicht nebenan, auch nicht in anderen Gärten, auch nicht am Teich – NICHT. Wie sah es bei euch aus?

Ferner erwehre ich mich gerade mal wieder eines äußerst heimtückischen Ohrwurms: Bunt sind schon die Wälder, eines DER klassischen Herbstlieder. Es ist über 220 Jahre alt, daher darf der Text so antiquiert sein, dass ich aber summend durch die Gegend laufe, finde ich nervig.
Hier geht es also zum Wikipedia-Eintrag (mit Text) und hier zu dem Vortrag durch Hannes Wader auf YouTube.

Wie immer: Kommt gut und heil und heiter in und durch die neue Woche. Und sollte der Herbst bei euch anklopfen, dann grüßt ihn! 😉